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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

Peters, Das englische bürgerliche Streitverfahren und die deutsche Zivilprozessreform. Berlin 1908.
Salinger, Max. Die Änderung des Rechtsmittels der Revision die dringlichste Frage des deutschen Zivilprozesses. Berlin 1909.
Der Kampf um ein geistig hochstehendes Reichsgericht. Von einem Juristen (Karl Schulz). Berlin 1910.
Putzler, Die Überlastung des Reichsgerichts und die Abhilfevorschläge. Leipzig 1910.
Krantz, Ernst. Reichsgerichtsreform. Bemerkungen zu dem Gesetzentwurfe, betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts. Berlin 1910.
Ott, Emil. Die in Österreich geplante Beschränkung der Revision mit Rückblick auf deren Geschicke in Deutschland. Wien 1911.

In Art und Umfang der Tätigkeit der obersten Gerichtshöfe in den Kulturländern besteht eine grosse Verschiedenheit. An den französischen Kassationshof gelangen jährlich nur 700 bis 800 Kassationsgesuche. Zivil- und Strafsachen werden von je einem einheitlichen Senate entschieden, soweit sie nicht von der Chambre des requêtes nach einer Vorprüfung zurückgewiesen werden. Noch enger sind die Arbeitsgebiete des obersten Bundesgerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika, der jährlich nur etwa 250 Rechtsfälle entscheidet, und des englischen obersten Gerichts. Auf der Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung dieser Gerichtshöfe beruht ganz wesentlich ihr unbestrittenes Ansehen und ihr grosser Einfluss. Nur ausgezeichnete Juristen allerersten Ranges werden für sie ernannt. Im englisch-amerikanischen Recht ist die Fortbildung des Rechts direkt an die einzelnen Persönlichkeiten der Richter geknüpft, die in den Urteilen aufgestellten Rechtssätze werden unter dem Namen des Richters, der sie bei der Begründung des Urteils ausgesprochen hat, in Literatur und Praxis aufgeführt.

Den grössten Gegensatz zu diesen Gerichtshöfen bildet, was den Umfang der Arbeit anlangt, das Deutsche Reichsgericht. Mit dem Eintreten normaler Verhältnisse nach der Überleitung aus dem früheren Rechtszustand wurden von 1884 ab etwa 2100 Revisionen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten eingelegt, von 1893 bis 1901 stiegen sie auf 3000, dann ganz schnell von 1902 bis 1904 auf 4000, 1909 auf 4595. An Stelle der ursprünglichen fünf Zivilsenate sind deren sieben getreten. Auch die Revisionen in Strafsachen haben sich so vermehrt, dass statt drei Senaten fünf zu ihrer Aburteilung nötig geworden sind. Trotz dieser Vermehrung war den Senaten eine rasche Abwickelung der Prozesse nicht möglich. In Zivilsachen konnten die Verhandlungstermine erst 10 bis 14 Monate nach dem Einbringen des Rechtsmittels abgehalten werden. Der Übelstand wäre durch eine weitere Vermehrung der Senate des Reichsgerichts zu beheben, wenn mit einer solchen Vergrösserung des Gerichts nicht der grosse Nachteil verbunden wäre, dass zwischen den vielen Senaten in ihrer Rechtsprechung Widersprüche entstehen und dass der Vorteil einer einheitlichen Rechtsprechung und der auf einer solchen beruhenden Fortbildung des Rechts verloren geht. Das Mittel, die Einheitlichkeit durch Plenarentscheidungen aufrecht zu erhalten, bewährt sich wohl bei einfacheren, mehr formalen Rechtsfragen, wie etwa solchen des Prozesses, der Verjährung und ähnlichen, nicht immer aber bei schwierigen und verzweigten Fragen. Umfassende vom Referenten und Korreferenten als Vertretern der entgegengesetzten Meinungen ausgearbeitete und an die Mitglieder verteilte Referate geben der Beratung eine sichere Unterlage. Die Debatte selbst vermag, weil die Zahl der Mitglieder viel zu gross ist, dem Wissen und der Erfahrung der Einzelnen Raum und Betätigung nicht hinreichend zu gewähren. Nach gesetzlicher Vorschrift hat das Plenum nicht den Prozess, sondern die Rechtsfrage zu entscheiden. Die Schwierigkeit liegt hier bereits in der Fassung der zu beantwortenden Frage und weiter in der Erwägung, ob für künftige vielleicht nicht ganz gleiche Fälle die Entscheidung der Frage passt. Vielfach wird die Entscheidung der Rechtsfrage im einzelnen gegebenen Fall zweifellos richtig und treffend sein, die durch die Plenarentscheidung aufgenötigte Generalisierung aber bedenklich erscheinen und später zu einem geistigen Zwange oder zu einer neuen abweichenden Plenarentscheidung führen.

Aus diesem sehr berechtigten Grunde hat man der Vermehrung der Senate ernstlichen Widerstand entgegengesetzt, bis zur übermässigen Inanspruchnahme der Kräfte der Richter und bis zu einer als unmöglich empfundenen Verzögerung der Prozesse. Die zweckmässige Lösung der angedeuteten Schwierigkeiten bildet das Problem der Entlastung des Reichsgerichts.

Eine ideale Auffassung ist geneigt, die Prüfung aller Endurteile durch einen höchsten Gerichtshof für wünschen wert zu halten. Die praktische Notwendigkeit zwingt zu einer Begrenzung und

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/365&oldid=- (Version vom 13.8.2021)