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Sukkumbenzstrafen des französischen Rechts sind eng verbunden mit dem formalen Charakter der Kassation; sie würden für unser Empfinden nur bei frivoler Einlegung des Rechtsmittels erträglich, bei der Seltenheit solcher Fälle aber unwirksam sein.

Die Herabsetzung der Mitgliederzahl der Senate von sieben auf fünf würde geringen praktischen Nutzen bringen und doch in vereinzelten Fällen, bei weittragenden nur mit Majorität zur Entscheidung kommenden Fragen die geistige Potenz des Senats und die Erwägung der Frage von allen Seiten beeinträchtigen. Die Überweisung der Prozesse, bei denen Landesrecht als verletzt gerügt wird, an oberste Landesgerichte,[1] wie sie für Bayern besteht, könnte nur wenig helfen, zumal sie nur für Preussen ernstlich in Betracht zu kommen hätte. Die Forderung, die Rechtssachen, in denen die Entscheidung Fragen des öffentlichen Rechts behandeln muss, vom Reichsgericht noch mehr fern zu halten,[2] als es durch die bisherige Gesetzgebung und Praxis geschieht, verkennt das Ineinandergreifen von öffentlichem und Privat-Recht im einzelnen Fall. Die Ausscheidung strenger durchzuführen ist, eine kaum zu lösende gesetzgeberische Aufgabe.

Der Vorschlag, statt eines Reichsgerichts solcher mehrere, etwa „zwei, drei oder lieber gleich vier“ zu errichten[3] und dem freien Wettbewerb um die bessere Einsicht die Einheit der Rechtsprechung zu überlassen, bedarf wohl keiner ernstlichen Widerlegung. Er mutet uns einen Verzicht auf Errungenschaften der deutschen Einheitsbewegung zu, die niemand preisgeben will. Italien ist bestrebt, seine fünf Kassationshöfe in Zivilsachen durch einen einheitlichen Gerichtshof zu ersetzen. Der Plan eines Oberreichsgerichts als einer vierten Instanz würde bei vier Reichsgerichten wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Mittelbar eine Entlastung des Reichsgerichts herbeizuführen beabsichtigt der Plan, ein eigenes „Amt oder einen Reichsgerichtshof für bindende Gesetzesauslegung“ zu schaffen.[4] Man verspricht sich eine Stärkung der Rechtssicherheit durch die Tätigkeit eines solchen Amtes. Würde diese auch in einzelnen mehr formalen Fragen möglich erscheinen, so würde sie doch in anderen Fällen leicht zu einem unerträglichen Zwang und zu einer Hemmung der freien Geistestätigkeit des Richters führen, die viel schlimmer wäre als das Übel, welches beseitigt werden soll. Das zu begründende neue Reichsamt hätte aus etwa 21 Mitgliedern (darunter 6 Richtern) zu bestehen. Es soll die bei der Rechtsprechung hervortretenden Unvollkommenheiten der Gesetzgebung und Rechtsanwendung durch neue bindende Vorschriften heilen. Diese würden so lange gelten und auch für das Reichsgericht verbindlich sein, bis sie vom Amt selbst oder durch Gesetzgebung wieder aufgehoben werden. Ich halte das für unvereinbar mit der Aufgabe eines obersten Gerichtshofs. Die bindende Gesetzauslegung zieht die Fesseln für erspriessliche richterliche Tätigkeit, wie sie die mangelhafte Gesetzgebung unserer Zeit mehrfach bietet, nur enger. Nur die Prüfung und Entscheidung der einzelnen Fälle ist die zweckmässige Grundlage für die Fortbildung des Rechts durch Auslegung. An der Mannigfaltigkeit der besonderen Fälle ist die Bedeutung und Tragweite der gesetzlichen Vorschriften zu messen und festzustellen. Nur so lässt sich in das Gefäss der Worte der Geist der Auslegung füllen.

Wie auch die Wirkungen des Gesetzes betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts vom 22. Mai 1910 sich endgültig gestalten werden, mit der allerseits für notwendig erachteten allgemeinen und gründlichen Reform der Zivilprozessordnung wird die Frage der zweckmässigen Gestaltung des Rechtsmittels letzter Instanz wieder brennend werden. Die stärkere Besetzung der Senate, die man bei der Ausführung des genannten Gesetzes anstatt einer Vermehrung derselben gewählt hat, ist nicht ohne nachteilige Wirkung auf den inneren Zusammenhang, auf die Festhaltung der Einheitlichkeit und auf den zusammenfassenden Einfluss des Präsidenten geblieben. Der von den Entscheidungen der Gerichte als menschlicher Einrichtungen nicht völlig fernzuhaltende zufällige oder aleatorische


  1. Hagens a. a. O. ; Hellwig, Die Notlage des Reichsgerichts. Jurist. Wochenschr. 1910 S. 308, Neumann daselbst S. 315.
  2. Hartmann in D. Jur. Zeit. 1909 S. 1407 und 1910 S. 279.
  3. Bekker, Grundbegriffe des Rechts. Berlin 1910. S. 310.
  4. Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung. München 1911. Dagegen Silberschmidt, Die deutsche Rechtseinheit. Berlin 1911 S. 39 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/370&oldid=- (Version vom 14.8.2021)