Die Cathedrale Wassily-Blaggennoi in Moskau

CCXIV. Das Innere von Cadix Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band (1838) von Joseph Meyer
CCXV. Die Cathedrale Wassily-Blaggennoi in Moskau
CCXVI. Der Ferdinandsbrunnen bei Marienbad
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DIE CATHEDRALE WASSILI BLAGGENOI
in Moskau

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CCXV. Die Cathedrale Wassily-Blaggennoi in Moskau.




Russia ist an der Tafelrunde der europäischen Gesittung die jüngste unter den versammelten Gästen. Aus der Schale der Rohheit krochen die slavischen Völker zuletzt. Zu einer Zeit, als in Westeuropa eine Kultur schon untergegangen war, als die Baudenkmäler der Etrusker, Griechen und Römer nur in Trümmern bestanden, aber Italien mit herrlichen Basiliken prangte, Spanien mit den Pallästen und Moscheen der Sarazenen, und in Englands, Deutschlands und Frankreichs zahlreichen Städten große Kirchen die Bauwerke früherer Jahrhunderte beschämten, und Hügel, Berge und Gauen aller dieser Länder besetzt waren mit stattlichen Schlössern, Burgen und Abteien, war Rußland nur von barbarischen, großentheils wandernden Stämmen roher, heidnischer Völker bewohnt. Noch im neunten Jahrhunderte konnten Kiew und Nowgorod als die einzigen Orte gelten, welche den Städtenamen verdienten.

Wie in den übrigen Ländern unsers Welttheils, so ward auch in Rußland das Evangelium das kraftigste Mittel zur Gesittung. Olga, die Gemahlin des Großfürsten Ivans in Nowgorod, wurde für den Norden das, was die Kaiserin Helena für den Orient gewesen war, und König Chlodwig’s Gemahlin für den Westen Europas. Sie ließ sich 957 in Constantinopel taufen. Damit gewann die Einführung des Christenthums Halt. Olga brachte Baumeister aus Byzanz mit und baute in Nowgorod die ersten Kirchen. Ihr Sohn Wladimir der Erste erhielt die Taufe zu Cherson, heirathete eine griechische Prinzessin und beförderte die Ausbreitung des Christenthums in seinen Staaten mit großem Eifer. Durch die Erbauung neuer Städte suchte er zugleich für die Kultur seines Volks zu wirken. 1172, unter Wladimir dem Zweiten, wurde Moskau gegründet.

Schon im ersten Jahrhunderte erhob sich Moskau zur Hauptstadt des Reichs. Die Czaren verlegten von Nowgorod ihre Residenz dahin, und unter der Leitung byzantinischer Baumeister entstanden viele Palläste und Kirchen. Daher die Einführung des byzantinischen Styls und Geschmacks, welcher, nachdem er in seinem Vaterland längst untergegangen war, in Rußland noch Jahrhunderte fortlebte, und als alt-russischer Styl bis auf den heutigen Tag Geltung hat.

Weil Moskau der griechischen Christenheit das ist, was Rom der katholischen, so stromen Pilgerschaaren aus allen Theilen des Reichs das ganze Jahr dahin, um an den Schreinen der Heiligen ihre Andacht zu verrichten, [74] Buße zu thun und ihre Opfergaben niederzulegen. Die große Menge der kirchlichen Gebäude und der Reichthum und die Pracht vieler ist daher leicht zu erklären. Der herrlichste Tempel unter allen ist der im nebigen Stahlstich verbildlichte, dessen phantastische Formen man im grellsten Farbengewande denken muß, um eine wahre Vorstellung zu erhalten. Die Wände sind roth, gelb und blau bemalt, die Dächer glänzen von Kupfergrün, oder schimmern vergoldet: – das Ensemble ist das vollkommenste Muster der altrussischen Architektur.

Iwan der Schreckliche baute die Kirche im Jahre 1554, und damit der griechische Architekt kein zweites, ähnliches Werk hervorbringen möge, ließ er ihm – die Augen ausstechen. Das Innere weiset in den verschiedenen Schiffen, Chören und Kapellen, deren Wände zum Theil mit Abbildungen von Heiligen auf Goldgrund, nach Art der Byzantinischen Gemälde geziert sind, aus Silber und Gold basreliefartig geprägte Arbeiten auf, von denen mehre zu den schönsten Werken der Kunst gehören. Auf ähnliche Weise sind auch die übrigen ältern Kirchen Moskaus aufgeführt und geschmückt, und es ist sehr bezeichnend, daß im ganzen ursprünglichen Rußland auch nicht ein Tempel im gothischen Style anzutreffen ist, wogegen die deutsch-russischen Provinzen Kurland, Esthland, Liefland nie andere aufzuweisen haben. Eine besondere Eigenheit der alt-russischen Kirchen ist die Menge ihrer Kuppeln. Die meisten haben fünf, viele zehn und darüber.

Seit dem großen Brande sind an die Stelle von vielen der alten Kirchen welche in neuerm Geschmack entstanden, und auch die meisten Palläste der Großen und die neuen Wohnhäuser der Kaufleute sind im modernen Style. Das Verlassen der alten Formen erleichtert den Civilisationsprojekten den Eingang, und die Regierung, die fortwährend bemüht ist, auf den üppigen Baum eines lebensfrischen, jugendlichen, aber rohen Volkes, dessen Blüthe noch die dunkle Knospe verhüllt, die Keime einer täuschenden Kultur zu pfropfen, begünstigt die Metamorphose auf alle mögliche Weise und geht überall mit dem Beispiel dazu voran. Aber was hilft diese Frühentzauberung einer Nation aus der bunten, gemüthlichen Farbenwelt ihrer Ideale, diese Dressur für das äußere, trockene Leben der Civilisation, wenn man sich scheut, zugleich das reiche, innere Licht der Bildung über sie auszugießen?


Doppelte Pforten verschließen den Tempel der Völkergesittung:
Unterricht heißt die eine, die andere – Freiheit.