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Buße zu thun und ihre Opfergaben niederzulegen. Die große Menge der kirchlichen Gebäude und der Reichthum und die Pracht vieler ist daher leicht zu erklären. Der herrlichste Tempel unter allen ist der im nebigen Stahlstich verbildlichte, dessen phantastische Formen man im grellsten Farbengewande denken muß, um eine wahre Vorstellung zu erhalten. Die Wände sind roth, gelb und blau bemalt, die Dächer glänzen von Kupfergrün, oder schimmern vergoldet: – das Ensemble ist das vollkommenste Muster der altrussischen Architektur.

Iwan der Schreckliche baute die Kirche im Jahre 1554, und damit der griechische Architekt kein zweites, ähnliches Werk hervorbringen möge, ließ er ihm – die Augen ausstechen. Das Innere weiset in den verschiedenen Schiffen, Chören und Kapellen, deren Wände zum Theil mit Abbildungen von Heiligen auf Goldgrund, nach Art der Byzantinischen Gemälde geziert sind, aus Silber und Gold basreliefartig geprägte Arbeiten auf, von denen mehre zu den schönsten Werken der Kunst gehören. Auf ähnliche Weise sind auch die übrigen ältern Kirchen Moskaus aufgeführt und geschmückt, und es ist sehr bezeichnend, daß im ganzen ursprünglichen Rußland auch nicht ein Tempel im gothischen Style anzutreffen ist, wogegen die deutsch-russischen Provinzen Kurland, Esthland, Liefland nie andere aufzuweisen haben. Eine besondere Eigenheit der alt-russischen Kirchen ist die Menge ihrer Kuppeln. Die meisten haben fünf, viele zehn und darüber.

Seit dem großen Brande sind an die Stelle von vielen der alten Kirchen welche in neuerm Geschmack entstanden, und auch die meisten Palläste der Großen und die neuen Wohnhäuser der Kaufleute sind im modernen Style. Das Verlassen der alten Formen erleichtert den Civilisationsprojekten den Eingang, und die Regierung, die fortwährend bemüht ist, auf den üppigen Baum eines lebensfrischen, jugendlichen, aber rohen Volkes, dessen Blüthe noch die dunkle Knospe verhüllt, die Keime einer täuschenden Kultur zu pfropfen, begünstigt die Metamorphose auf alle mögliche Weise und geht überall mit dem Beispiel dazu voran. Aber was hilft diese Frühentzauberung einer Nation aus der bunten, gemüthlichen Farbenwelt ihrer Ideale, diese Dressur für das äußere, trockene Leben der Civilisation, wenn man sich scheut, zugleich das reiche, innere Licht der Bildung über sie auszugießen?


Doppelte Pforten verschließen den Tempel der Völkergesittung:
Unterricht heißt die eine, die andere – Freiheit.



Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/134&oldid=- (Version vom 2.9.2024)