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CCXV. Die Cathedrale Wassily-Blaggennoi in Moskau.




Russia ist an der Tafelrunde der europäischen Gesittung die jüngste unter den versammelten Gästen. Aus der Schale der Rohheit krochen die slavischen Völker zuletzt. Zu einer Zeit, als in Westeuropa eine Kultur schon untergegangen war, als die Baudenkmäler der Etrusker, Griechen und Römer nur in Trümmern bestanden, aber Italien mit herrlichen Basiliken prangte, Spanien mit den Pallästen und Moscheen der Sarazenen, und in Englands, Deutschlands und Frankreichs zahlreichen Städten große Kirchen die Bauwerke früherer Jahrhunderte beschämten, und Hügel, Berge und Gauen aller dieser Länder besetzt waren mit stattlichen Schlössern, Burgen und Abteien, war Rußland nur von barbarischen, großentheils wandernden Stämmen roher, heidnischer Völker bewohnt. Noch im neunten Jahrhunderte konnten Kiew und Nowgorod als die einzigen Orte gelten, welche den Städtenamen verdienten.

Wie in den übrigen Ländern unsers Welttheils, so ward auch in Rußland das Evangelium das kraftigste Mittel zur Gesittung. Olga, die Gemahlin des Großfürsten Ivans in Nowgorod, wurde für den Norden das, was die Kaiserin Helena für den Orient gewesen war, und König Chlodwig’s Gemahlin für den Westen Europas. Sie ließ sich 957 in Constantinopel taufen. Damit gewann die Einführung des Christenthums Halt. Olga brachte Baumeister aus Byzanz mit und baute in Nowgorod die ersten Kirchen. Ihr Sohn Wladimir der Erste erhielt die Taufe zu Cherson, heirathete eine griechische Prinzessin und beförderte die Ausbreitung des Christenthums in seinen Staaten mit großem Eifer. Durch die Erbauung neuer Städte suchte er zugleich für die Kultur seines Volks zu wirken. 1172, unter Wladimir dem Zweiten, wurde Moskau gegründet.

Schon im ersten Jahrhunderte erhob sich Moskau zur Hauptstadt des Reichs. Die Czaren verlegten von Nowgorod ihre Residenz dahin, und unter der Leitung byzantinischer Baumeister entstanden viele Palläste und Kirchen. Daher die Einführung des byzantinischen Styls und Geschmacks, welcher, nachdem er in seinem Vaterland längst untergegangen war, in Rußland noch Jahrhunderte fortlebte, und als alt-russischer Styl bis auf den heutigen Tag Geltung hat.

Weil Moskau der griechischen Christenheit das ist, was Rom der katholischen, so strömen Pilgerschaaren aus allen Theilen des Reichs das ganze Jahr dahin, um an den Schreinen der Heiligen ihre Andacht zu verrichten,

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1838, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_5._Band_1838.djvu/133&oldid=- (Version vom 20.10.2024)