Die Blindenanstalt in Steglitz

Textdaten
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Titel: Die Blindenanstallt in Steglitz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 731–732
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[731] Die Blindenanstalt in Steglitz, von welcher wir in unserer Nr. 21 schon einen längeren Bericht brachten, hatte am 28. September zum ersten Male die Vertreter der Behörden, Angehörige der Zöglinge, Freunde und Gönner des Instituts zu einer „musikalischen Unterhaltung“ eingeladen. Bei der tiefen Bedeutung, welche der Musikunterricht für Geist, Gemüth und Erziehung der Blinden hat, und im Hinblick auf die dabei zu überwindenden Schwierigkeiten war es erklärlich, daß die zahlreich erschienenen Zuhörer den im Programm angekündigten dreizehn Nummern mit einer gewissen Beklommenheit entgegen sahen, um so mehr, als wohl die meisten der Anwesenden noch nie einem von Blinden gegebenen Concerte beigewohnt hatten. Das Mitleid, welches bei dem Erscheinen der jugendlichen Künstler, Sänger und Sängerinnen in der hellerleuchteten Aula rege geworden war, wich indeß sehr bald einem freudigen Gefühl, als die ernsten und feierlichen Klänge des Bach’schen Orgel-Präludiums und Fuge C-moll, vorgetragen von einem der talentvollsten Schüler, den Saal durchbrausten. Hieran schlossen sich in buntem Wechsel Clavier-Soli: Lieder ohne Worte von Mendelssohn, Beethoven’sche Sonaten, Compositionen von Schumann und Chopin, Cello- und Violinvorträge, die durchweg mit feinem Verständniß, sauberer Technik und großer Sicherheit zu Gehör gebracht wurden. Wenn diese Einzelleistungen schon das ganze Interesse des Auditoriums fesselten, so geschah dies in erhöhtem Maße durch den Chorgesang, an welchem sich fast alle Zöglinge der Anstalt betheiligten. Die dreistimmig a capella ausgeführten Lieder entzückten das lauschende Publicum sowohl durch ihre Reinheit und deutliche Aussprache, wie auch durch den höchst eigenartigen Schmelz und zarten Wohllaut. Statt der frischen und hellen Töne, wie sie wohl sonst in der Schule [732] gehört werden, erklangen hier Gesänge, die, vielleicht unbewußt, all das Weh ausathmeten, welches mit dem Verlust des Augenlichts doch nun einmal unzertrennlich ist. Welche Bilder mochten wohl in der Seele der Kinder vorüberziehen bei Liedern, wie: „Drunten im Unterland“, „Wie ist die Luft so klar!“ oder „Nun fangen die Weiden zu blühen an“. Wie gerne würden sie das Abt’sche „Wanderlied“ auf sonniger Landstraße marschirend singen, wie fern ist ihnen die Verwirklichung des Silcher’schen „Morgen müssen wir verreisen“ mit der Strophe „Kommen wir zu jenen Bergen, schauen wir zurück in’s Thal“! – Das Publicum belohnte die jugendlichen Concertgeber mit reichem Beifall und bereitete ihnen dadurch eine sichtliche Freude. – Im Hinblick auf den Vortrag contrapunktischer Compositionen, wie Bach’scher Fugen etc., dürften einige Andeutungen über die Methode des Unterrichts und die betreffenden Lehrmittel nicht ohne Interesse sein. Die Darstellung der Töne wird vermittelt durch drei Momente: das musikalische Gehör, Theorie und Notenschrift. Letztere lehnt sich an das Buchstabensystem des französischen Blindenlehrers Braille an und wird mit den Fingerspitzen gelesen.

Beispielsweise werden die sieben Töne der diatonischen Tonleiter durch folgende (erhabene) Punkte dargestellt:



In dieser Schrift sind bereits die meisten classischen Compositionen gedruckt worden, der Director der königlichen Blindenanstalt, Herr Rösner, hat indeß die Absicht, eine Erweiterung respective Verbesserung des Systems herbeizuführen, zu welchem Zwecke bereits eine Einigung mit den Blindeninstituten in Kopenhagen und Wien erzielt worden ist. – Wir fügen hieran die manchem Blinden vielleicht nicht unwillkommene Notiz, daß der genannte Director Rösner eine Anthologie aus Schiller’s Werken und einen Atlas für Blinde vorbereitet, welche im Verlage der Steglitzer Anstalt erscheinen werden.

     Berlin, im October 1877.
Gustav Schubert.