Der Zweifler
Der Zweifler.
Ein Mann, der lange zu den gläubigst Frommen
Gehört, gerieth in zweifelndes Gewirre.
Des Grübelns Geist war über ihn gekommen;
Die Wunder machten ihn am Glauben irre.
Der hoch im Ruf der Weisheit stand beim Volke
Und um sich zog lichthelle Lebenskreise,
Die nie verdunkelt eines Zweifels Wolke.
Der sprach: „Die größten Wunder, die ich kenne,
Im Ei legt mir ein Wunder jede Henne;
In jedem Grashalm tritt mir eins zu Tage.
Hier duftet der Jasmin, dort der Hollunder;
Im Lichte tanzt der Mücken bunt Gewimmel;
Auf Erden, wie die Sterne dort am Himmel.
In diesem Steine schlummert noch das Leben –
Er ward aus Staub: mach’ ihn auf’s neu zu Staube,
Und Nahrung wird er jeder Blume geben
Wer gab der Rose Gluth und Duft zu eigen
Und des Gewebes wundervolle Feinheit?
Wer ließ aus schwarzer Erde Lilien steigen,
So weiß wie Schnee in ihrer heil’gen Reinheit?
An ihre Wurzeln bleibt gebannt die Pflanze –
Der Mensch nur kann im Geist zum Lichte streben,
Erkennt sein Blick im kleinsten Theil das Ganze.
Und du magst zweifelnd noch nach Wundern fragen?
Das Buch der Welt liegt Jedem aufgeschlagen,
Doch Wen’ge nur versteh’n darin zu lesen.
- ↑ Aus der soeben zur Ausgabe gelangten Sammlung: „Aus Morgenland und Abendland“ (Leipzig, F. A. Brockhaus) in welcher
der berühmte Dichter zum ersten Mal neben dem Orient auch die Neue Welt in das Gebiet seiner poetischen Betrachtung zieht. Außer der hier
wiedergegebenen Probe sind als Perlen der Sammlung gerade diejenigen Gedichte zu bezeichnen, zu welchen des Dichters Reise in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika die Anregung gegeben hat. Möge diese neueste Frucht vom Baume Bodenstedt’scher Poesie in allen Kreisen des deutschen
Lesepublicums dasjenige freundliche Entgegenkommen finden, welches sie vermöge ihrer reinen und edlen Natur unbedingt beanspruchen darf!
Die Redaction.