Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments

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Autor: Albert Kalthoff
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Titel: Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 48, 50, 51, S. 803–807, 832–835, 850–854
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[803]
Zur Literaturgeschichte des Neuen Testaments.
Von Dr. Kalthoff.
I.
Die ältesten Urkunden des Christenthums.
Motto: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“

Der Versuch, dem Leserkreise der „Gartenlaube“ die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments in großen Zügen vorzuführen, bedarf kaum einer besonderen Rechtfertigung. Wer nur halbwegs mit der Entwickelung unserer Zeit gleichen Schritt gehalten hat, der ist sich darüber vollständig klar, daß der Anspruch der orthodoxen Kirche, in der Bibel einen unfehlbaren Glaubenscodex, eine unbedingte göttliche Autorität zu besitzen, vor der fortschreitenden Wissenschaft in nichts zusammenfällt. Fast bis zum Ueberdruß oft ist auf die Widersprüche, die zwischen den einzelnen Büchern der Bibel bestehen, auf die historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Irrthümer, selbst auf die einseitigen sittlichen und religiösen Anschauungen, die sich in der Bibel finden, hingewiesen worden.

[804] Wohl überschwemmt die Orthodoxie jahraus jahrein das Land mit Colporteuren, um der Bibel neuen Eingang in die Häuser zu verschaffen, und es ist allein den preußischen Bibelgesellschaften gelungen, im vergangenen Jahre 52,741 Bibeln und 14,786 Neue Testamente abzusetzen. Aber trotzdem ist die Bibel kein Volksbuch mehr. Sie ist vorwiegend Decoration für Familienbibliotheken und wird wohl noch gekauft und verschenkt, aber wenig gelesen.

Die wissenschaftliche Theologie hat längst einen richtigeren Maßstab für die Würdigung der biblischen Schriften gewonnen, als ihn die altkirchliche Orthodoxie in ihrem Dogma von. der göttlichen Eingebung der Bibel besaß. Die Wissenschaft vergöttert und betet die Bibel nicht mehr an, sondern sucht dieselbe als ein Glied in dem gesammten Entwickelungsgange der Religions- und Kirchengeschichte zu begreifen; sie leugnet die Entstehung der Bibel durch directe göttliche Eingebung und übernatürliche Mittel und erklärt sie für ein Werk von Menschenhand, für ein Buch wie andere Bücher. Bei dieser Betrachtungsweise hat die Bibel wahrlich nicht verloren, sondern nur gewonnen. Wenn dagegen in der Mehrzahl unserer Schulen die alte traditionelle Auffassung der Bibel auf hohen obrigkeitlichen Befehl ruhig weiter gelehrt wird, als ob eine wissenschaftliche Theologie überhaupt nicht existire, so ist das ein Verhängniß, das weder dem Volke noch der Bibel zum Segen ausschlägt.

Die Bibel, insbesondere das Neue Testament, ist unleugbar mit der Geschichte der civilisirten Welt auf's Engste verbunden. Die Entstehung des Neuen Testaments bezeichnet immerhin, wie man auch sonst über dasselbe denken mag, einen der epochemachendsten Punkte in der gesammten Menschheitsgeschichte. Um so bedeutsamer erscheint deshalb die Frage, was es denn mit diesem Buche eigentlich auf sich habe.

Der geschichtliche Proceß, dem das Neue Testament seine Entstehung verdankt, ist keineswegs so einfach, wie die vulgäre kirchliche Anschauung anzunehmen pflegt. Ursprünglich hatten die christlichen Gemeinden, die in ihren Gottesdiensten einfach zunächst die heiligen Schriften der Juden gebrauchten, überhaupt keine eigenen heiligen Schriften. Die älteste Art und Weise, das Christenthum zu verbreiten, war ohne Zweifel die der mündlichen Predigt. Jesus selber hatte bekanntlich keinerlei schriftliche Aufzeichnungen über seine Lehre hinterlassen, und seine Jünger, die nach seinem Tode den Zusammenbruch dieser Welt erwarteten, konnten zunächst gar kein Bedürfniß haben, ihre Predigt für nachkommende Geschlechter sicher zu stellen, zumal so lange sie mit derselben nicht über den Kreis der sie umgebenden Gemeinde hinausgingen. Nur von dem Apostel Matthäus haben wir die verbürgte Nachricht, daß er schriftliche Aufzeichnungen über die Reden Jesu hinterlassen habe. Papias, der Bischof von Hierapolis, gestorben um 163, ist hierfür Gewährsmann, und außerdem begegnet uns auch in der ältesten Kirche die Kunde von einem sogenannten Hebräer-Evangelium, welches, wenn nicht gar mit jenem Evangelium des Matthäus identisch, doch mit demselben nahe verwandt war. Dieses Matthäus-Evangelium ist indeß in seiner ursprünglichen Gestalt verloren gegangen. Es war hebräisch geschrieben und wird neben den hauptsächlichsten Reden Jesu einzelne kurze biographische Daten aus dessen Leben enthalten haben. Daneben vertrat es den judenchristlichen, an dem alten mosaischen Gesetz festhaltenden Standpunkt. Unser griechisches Matthäus-Evangelium, das uns im Neuen Testamente aufbewahrt ist, kann keine Uebersetzung des ursprünglichen Evangeliums sein, wen es Bestandtheile enthält, welche in dem Ur-Matthäus nicht gestanden haben, und weil es sich in der freien Behandlung alttestamentlicher Citate als ein griechisches Original, nicht aber als eine Uebersetzung aus dem Hebräischen bekundet.

Welch weiter Weg ist nun von jener in engen Grenzen sich bewegenden mündlichen Predigt der Jünger und jenem einfachem nur noch in einzelnen Bruchstücken mühsam erkennbaren hebräische Matthäus-Evangelium bis zu dem so reich und mannigfaltig gestalteten Inhalte unseres Neuen Testaments! Ein Weg, der durch die Geschichte von Jahrhunderten hindurchführte und erst am Anfang des fünften Jahrhunderts, im Zeitalter Augustin’s, durch den definitiven Abschluß des neutestamentlichen Canons sein letztes Ziel erreicht. Dieser Weg war durchaus nicht glatt und eben. Das Neue Testament hat sich nicht so gebildet, daß uns einem vorhandenen Grundstock sich die einzelnen Zweige organisch heraus entwickelten. Es ist vielmehr das Resultat heftiger Strömungen und Gegenströmungen, die ihre Spuren deutlich in der Geschichte zurückgelassen haben.

Schon als die einzelnen Schriften des Neuen Testaments sämmtlich vorhanden waren, wurde immer noch um ihre offizielle Anerkennung und Aufnahme in die kirchlich autorisirte Sammlung gekämpft. So theilt noch der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea, gestorben 340, die Bücher des Neuen Testaments in solche, die allgemein anerkannt waren, und in solche, denen widersprochen wurde. Zu der ersten Gruppe rechnet er die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief zu der zweiten dagegen den Brief des Jacobus, des Judas, den zweiten Brief des Petrus und den zweiten und dritten Brief des Johannes, während die Offenbarung Johannis bald zur ersten, bald zur zweiten Gruppe gerechnet wurde. Von Hause aus giebt es aber im Neuen Testament keine einzige Schrift, deren Berechtigung nicht angefochten wurde, und je weiter wir in die ältesten Zeiten der Kirche hinausgehen, desto schwankender wird der Inhalt der neutestamentlichen Sammlung. Eine Anzahl Schriften, welche die Kirche später gar nicht in ihre Sammlung aufgenommen hat, stand früher bei vielen Gemeinden in hohem Ansehen, so z. B. das Hebräer-Evangelium, die Thaten und die Predigten des Petrus, die Offenbarung des Petrus und andere. So waren auch Schriften, die bei dem einen Theil der Christen in Gebrauch waren, bei dem andern entweder völlig unbekannt oder geradezu verworfen.

Sobald man nun diese verschiedenen, zum Theil sogar einander ausschließende Schriftsammlungen näher betrachtet, entdeckt man, daß denselben ein bestimmtes System zu Grunde liegt. Diese Verschiedenheiten erscheinen nämlich bedingt durch die verschieden Stellung, welche die einzelnen Parteien der christlichen Kirche zu der Person des Paulus und der durch ihn vertretenen heidenfreundlichen Richtung einnahmen. Noch der Bischof Papias erkennt als heilige Schriften nur zwei Evangelien, das hebräische des Matthäus und das des Marcus, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief, sowie die Offenbarung Johannis, an; der Kanon des gleichzeitig lebenden Häretikers Marcion enthält dagegen nur eine unserem Lucas-Evangelium verwandte Evangelienschrift und zehn Briefe des Paulus. Und doch war zur Zeit des Papias dem Widerspruch gegen Paulus in der officiellen Kirche schon die Spitze abgebrochen, wie die Ausführung des ersten Petrusbriefes, einer entschieden vermittelnden Schrift beweist. Nichtsdestoweniger fuhren die Heißsporne aus dem Judenchristenthum immer noch fort, ihre Bannstrahlen gegen den bestgehaßten der christlichen Prediger zu schleudern. Wie fanatisch diese Polemik gegen den Paulinismus geführt wurde, ist besonders aus den Homilien des falschen Clemens und den älteren Apostelgeschichten, den Thaten und Reden des Petrus, zu ersehen. Dort ist Paulus der Typus des Erzketzers. Er wird als Magier Simon hingestellt, der im Gegensatz zu dem wirklichen Simon, dem Petrus, die Gabe des heiligen Geistes mit Geld habe erschleichen wollen. Er wird geschildert als der feindliche Mensch, der Unkraut unter den Weizen säte, der in den Tempel eingebrochen sei, um den Feuerbrand vom Altar zu reißen und das Zeichen zur Verfolgung zu geben, als der, der gekommen sei, die Seele zu täuschen, indem er den Juden heuchelte und vorgab, das Gesetz Gottes zu lehren.

Wen am Anfange und in der Mitte des zweiten Jahrhunderts solch erbitterten Gegensatz gegen den großen Heidenapostel noch bestand, so geht die neuere Kritik sicherlich nicht fehl, wenn sie annimmt daß Paulus überhaupt der Mittelpunkt war, um den sich die Bewegung in der ältesten christlichen Kirche drehte. In der That ist es Paulus gewesen, der zu jener im alten Matthäus-Evangelium zum Ausdruck gekommenen judenchristlichen Strömung die Gegenströmung erzeugt und dadurch die literarische Thätigkeit der alten Kirche erst in Fluß gebracht hat. Da wir das hebräische Urevangelium nicht mehr besitzen, so sind wir also für die Kenntniß des urchristlichen Lebens an die Briefe des Paulus als an die ältesten Quellen des Christenthums gewiesen.

Unter den Briefen, welche den Namen des Paulus tragen, müssen wir aber wieder diejenige vorläufig ausscheiden, welche offenbar den Stempel einer späteren Zeit an sich tragen, sodaß als unzweifelhaft echt paulinisch nur vier Briefe übrig bleiben: die beiden an die Corinthier, der an die Galater und der an die Römer, [805] zu denen als wahrscheinlich paulinisch noch der Brief an die Philipper, der an die Ephesier und der an dem Philemon, vielleicht auch der erste Thessalonicherbrief kommen. Beschränken wir uns indeß, um theologische Details zu vermeiden, auf die vier zuerst angeführten! Aus denselben tritt uns zunächst das Charakterbild des Verfassers in scharf geschnittenen Umrissen entgegen.

Es ist ein Charakter, der die größten Gegensätze in sich vereinigt. Die alte ungestüme Leidenschaft, mit welcher der junge Tarser einst die Mitglieder der neuen Secte aufgespürt hatte, um sie dem Henker zu überliefern, hat zwar reinere und edlere Ziele gefunden, aber sie ist nicht gebrochen. Was sich ihm in den Weg wirft, wird schonungslos niedergetreten. „Mögen sie ausgerottet werden, [806] die euch zerstören!“ sagt er und ferner: „Wer ein anderes Evangelium predigt, als ich gepredigt habe, der sei verflucht!“

Solche Worte lassen noch wieder den alten Zeloten von früher erkennen. Er wird in diesem Eifer für seine Sache selbst ungerecht gegen den Gegner. Er sieht Heuchelei und böse Absicht, wo doch nur Schwäche oder irrige Ueberzeugung zu finden ist. Daneben ist das Herz dieses stürmischen Eiferers wieder der weichsten und innigsten Empfindungen fähig. Paulus ist es ja, der die Liebe höher stellt als alles Reden mit Menschen- und Engelzungen, höher als alle Weisheit, ja höher als den Glauben und die Hoffnung.

So wechselt in seinen Briefen oft plötzlich die Stimmung. Nachdem er eben noch heftig gedroht, verfällt er kurz darauf in den rührendsten Ton der Bitte und der Ermahnung. Seine unverwüstliche Arbeitskraft, die ihn rastlos in zwei Welttheilen umhertreibt, indem er den Tag über zu seinem Lebensunterhalte Teppiche webt und Abends und Nachts über die höchsten Probleme der Menschheit predigt und discutirt – diese Arbeitskraft wird getragen von einem schwachen, gebrechlichen Körper, der ihm oft viel zu schaffen macht und nach Momenten höchster geistiger Erregung oft den Dienst versagt. Das hohe Selbstbewußtsein, das ihn im Blick auf die heilige Sache, der er dient, über sich selbst erhebt, hat zu seiner Kehrseite die Erinnerung an die große Verirrung seiner Jugend, der er zum Opfer gefallen ist, und diese Erinnerung legt über sein ganzes Wesen einen tiefen melancholischen Schatten, der nach den Augenblicken höchsten Jubels und höchster Seligkeit doch wieder zum Vorschein kommt. Bald ist er schwärmerisch entzückt, daß er nicht mehr weiß, ob er im Leibe ist oder außerhalb des Leibes; er schaut Visionen, die kein sterblich Auge gesehen; er hört unaussprechliche Töne. Und doch sieht sein nüchterner praktischer Blick, daß ein vernünftiger, der Belehrung und Besserung dienender Gedanke mehr werth ist, als alle diese Zustände verzückter Erregung.

Widerspruchsvoll wie der Charakter, ist auch die Theologie, die in den Briefen des Paulus vertreten ist. Diese Theologie ist in ihrer Grundlage durchaus pharisäisch geblieben. Die Cardinalfrage des Pharisäismus, wie der Mensch gerecht werde vor Gott, ist auch die Cardinalfrage der paulinischen Theologie. Diese Frage ist aber nur möglich, wo das Verhältniß von Gott und Mensch noch als ein äußerliches, juristisches aufgefaßt wird. Sie setzt voraus, daß ein Rechtshandel zwischen Gott und Mensch bestehst und es kommt nur darauf an, diejenige Rechtsnorm zu finden, nach welcher der Handel zum Austrag gebracht werden muß. Die Pharisäer sagten: „Das Gesetz ist diese Rechtsnorm; wer dasselbe erfüllt, der ist gerecht.“ Paulus sagte: „Der Glaube ist diese Rechtsnorm; denn der Glaube wird dem Menschen kraft eines alten, schon vor Einführung des Gesetzes mit Abraham abgeschlossen Vertrages als Gerechtigkeit angerechnet.“

Auch in der Form verrathen die paulinischen Briese noch durchweg den früheren Pharisäer. Um einen Gedanken zu beweisen, geht er nicht auf die innere Logik und Wahrheit der Sache ein, sondern er geht auf das Alte Testament zurück, das er in echt rabbinischer Weise verwendet. Er hängt nach Art der Rabbiner einen ganzen Berg an ein Haar; das heißt: er zieht aus einem an sich ganz geringfügigen Umstande die schwerwiegendsten Folgerungen. Diese Art rabbinischer Beweisführung macht viele Stellen der paulinischen Briefe für den Laien unverständlich, ja geradezu ungenießbar.

Und doch ist dieser Paulus, der mit dem einen Fuße im Pharisäismus stecken geblieben ist, zugleich auch wieder der kühnste Vertreter der christlichen Freiheit. Ihm ist das Christenthum gleichbedeutend mit der Religion der Freiheit. „Ihr seid zur Freiheit berufen, Bestehet in der Freiheit!“ So ruft er den Galatern in's Gewissen. „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist, einen Geist der Flucht, sondern einen kindlichen Geist empfangen,“ so schreibt er an die Römer, und: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“ das ist das große Thema des ersten Corintherbriefes.

Auf diesem freien religiösen Standpunkte ist die Scheidewand zwischen den Nationen und Confessionen gefallen. Die äußeren Ceremonien, welche die Menschen trennten, haben da ihre absolute Bedeutung verloren. Deshalb gilt nun nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Mann noch Weib, Knecht noch Freier – sie sind allzumal Eins. Wenn Jemand noch Tage hält, Neumonde und Jahreszeiten feiert, so mag er das um des schwachen Gewissens willen thun. Aber er kehrt damit zurück zu den dürftigen und überwundenen Anfängen der Gottesverehrung. In allen religiösen und sittlichen Dingen bleibt das Gewissen die letzte Instanz.

Niemand darf sich zum Richter eines fremden Gewissens aufwecken, und auch die Apostel sind nicht Herren über den Glauben der Gemeinde. Für den Standpunkt höchster sittlicher Freiheit gilt eben das Wort: „Alles ist euer! Alles ist erlaubt, was wir vor unserem Gewissen rechtfertigen und mit der Pflicht der Nächstenliebe vereinigen können!“ Alle äußeren Satzungen und Ceremonien der Religion sind nur für die Kinder und Unmündigen, die unter dem Zuchtmeister stehen. Die mündig gewordene Menschheit bedarf ihrer nicht mehr. Wer versucht, die Christen wieder unter ein knechtisches Joch zu fangen, versündigt sich an dem innersten Wesen des Christenthums.

Frei wie zu allem historischen Inhalt der Religion steht Paulus auch zur geschichtlichen Person Jesu. Wohl mag Paulus die Einzelnheiten aus Jesu Leben erkundet haben, wie er ja in Betreff der Einsetzung des Nachtmahls der entscheidende Zeuge ist. Aber der geschichtliche Jesus ist ja der „Christus nach dem Fleisch“, von dem Paulus mit einem gewissen Nachdruck behauptet, daß er ihn nicht mehr kenne, ob er ihn schon früher einmal gekannt habe. Als Quelle für die Geschichte Jesu bietet deshalb Paulus, die Einsetzung des Abendmahls abgenommen, wenig oder gar nichts. Sein Christus ist der ideale, der vergeistigte Christus, der aufgehört hat, sterblich zu sein. Christus ist ihm ein weltgeschichtliches Princip, das Princip der Erlösungsreligion, das schon seit Anbeginn der Geschichte wirksam, aber erst im Christenthum zu voller Entfaltung gekommen ist. Er ist ihm der andere Adam, das Urbild der Menschheit im Sinne der platonischen Idee, das, vom Anfang an in der Idee Gottes vorhanden, „als die Zeit erfüllet war“, im Fleische erschien.

Es ist von ganz außerordentlicher Bedeutung für die weitere Entwickelung des Christenthums, daß Paulus gerade diese Auffassung des Christenthums vertritt. Hatte die ursprüngliche, im Ur-Matthäus zur schriftlichen Darstellung gekommene jerusalemische Tradition sich hauptsächlich an die Lehre Jesu und überhaupt an die geschichtliche Wirklichkeit des Lebens Jesu gehalten, so liegt nun in dem paulinischen Christenthum das Hauptgewicht auf einer bestimmten speculativen Ansicht über die ideale Bedeutung der Person Jesu. Dort haben wir den realen, hier den idealen Christus, und dieser Gegensatz führte mit innerer Nothwendigkeit zu der späteren kirchlichen Lehre vom Gottmenschen.

Daß eine solche Predigt im Munde eines Mannes, der mit seiner ganzen Persönlichkeit für dieselbe in den Riß trat, eine zauberische Wirkung auf die Gemüther ausübte, läßt sich leicht begreifen. Die Predigt, daß die Menschen zur Freiheit berufen seien, schien dem innersten Verlangen der Menschen zu entsprechen, und gerade in der hellenischen Welt mußte Paulus für seine an die platonische Philosophie sich anlehnende theologische Vorstellungsweise günstigen Boden finden. Und doch läßt es sich ebenso leicht begreifen, daß diese Predigt auf der anderen Seite den heftigsten Widerspruch hervorrief. Eine solche absolute Freiheit, wie sie Paulus verkündigte, erschien den Meisten als alle Sittlichkeit und Religion untergrabend. Man muß gegen die Gegner des Paulus gerecht sein. Möglich, daß beleidigter hierarchischer. Ehrgeiz bei ihnen mitspielte. Hatte doch Paulus dem Petrus in Antiochien in höchst unehrerbietiger Weise nackt und unverhüllt den Vorwurf der Heuchelei in’s Gesicht geschlendert. Hatte er. sich doch um die angesehenen Jünger in Jerusalem gar nicht gekümmert, sondern auf eigene Faust, ohne ihre apostolische Bestätigung abzuwarten, das Amt eines Apostels angetreten. Doch werden persönliche Motive hier schwerlich den Ausschlag gegeben haben. Die jerusalemitischen Christen meinten eben wirklich, daß das Heiligthum der Religion gefährdet sei, wenn der scheinbar grundstürzende Liberalismus des Paulus um sich greife. Sie meinten, daß der, welcher so stark sich über alle historische Tradition hinwegsetze, unmöglich das wahre Christenthum haben könne. So ist es ein erbitterter Principienkampf, dem wir auf Schritt und Tritt in den Schriften des Paulus begegnen, ein Kampf, der sich aber der Natur der Sache nach auch bald persönlich zuspitzte. Man suchte den Paulus zu verdächtigen, er sei gar kein Apostel, er predige, um den Menschen zu gefallen, er suche seinen Vortheil, und wir sehen aus den Briefen des Paulus, daß diese Machinationen und Verdächtigungen nicht ohne Erfolg blieben.

[807] Doch war bis jetzt der Kampf nur im Geheimen, durch namenlose Abgesandte aus Jerusalem geführt worden, und das Uebergewicht der Persönlichkeit des Paulus hielt die Gegner noch einigermaßen im Zaume. Als aber Paulus von dem tragischen Geschick ereilt wurde, daß er zum Dank für die Geldunterstützung, die er der unter der Hungersnoth leidenden Gemeinde zu Jerusalem überbringen wollte, von seinen eigenen Glaubensgenossen, denen er zu helfen gekommen war, der Gefangenschaft überliefert wurde, war die Gelegenheit zu einer officiellen Bekämpfung des Paulinismus gekommen. Die älteste und bedeutendste dieser der Bekämpfung des Paulus gewidmeten Schriften ist die in das Neue Testament ebenfalls aufgenommene Offenbarung Johannis.

Bekanntlich hat dieses räthselhafte Buch den Theologen zu allen Zeiten viel Kopfzerbrechens gemacht, und noch heute sind die Acten, über dasselbe nicht vollständig geschlossen. Man hielt die Offenbarung lange Zeit für eine Weissagung auf eine mehr oder weniger ferne Zukunft und machte dadurch das Verständniß des Buches unmöglich, bis die neuere Kritik entdeckte, daß man es hier mit einer prophetischen Behandlung der Zeit, in der das Buch geschrieben war, zu thun habe. Von jeher war es im Alten Testamente beliebt, den Inhalt aller nationalen Hoffnungen durch prophetische Bilder auszudrücken. Je schroffer nun seit den Tagen der Verbannung der Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und den nationalen Wünschen hervortrat, desto gewaltsamer suchte man sich durch eine prophetische Behandlung der jeweiligen Gegenwart über die Misere der Zeit hinwegzusetzen. So entstanden künstliche Nachbildungen der alten Prophetien, welche den Zweck hatten, die dunklen Nachtseiten der politischen Lage der Juden mit dem Lichte des nationalen Glaubens zu erhellen. Das älteste Denkmal dieser Art „Offenbarungen“ ist das Buch Daniel (um 163 vor Christo), dem noch mehrere ähnliche Erzeugnisse folgten. Da diese „Offenbarungen“ nur für die Eingeweihten bestimmt waren, so hüllten sie sich mehr und mehr in ein mystisches Gewand, indem man eine Geheimlehre erfand, in der nach dem Vorgange der Neupythagoräer der Zahl eine tiefere symbolische Bedeutung beigelegt wurde. Eine christliche Nachbildung dieser Art „Apokalypsen“ ist die Offenbarung Johannis.

Was zunächst die Zeit, in der das Buch abgefaßt ist, betrifft, so scheint dasselbe aus der nächsten Zeit nach dem Tode des Kaisers Nero (gestorben 9. Juni 68) zu stammen. Die neronische Christenverfolgung hat schon ihre Opfer gefordert. Das ehebrecherische Weib, die stolze Roma, ist trunken vom Blute der Heiligen. Der Seher sieht unter dem Altare die Seelen Derer, die um ihres Glaubens willen erwürgt sind, angethan mit dem weißen Kleide des Martyriums. Der jüdische Krieg ist entbrannt. Auf dem rothen Pferde sitzt ein Reiter, ein großes Schwert in der Hand, und ihm ist gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde. Andererseits ist der Tempel in Jerusalem noch nicht zerstört. Aber die Gemüther sind erfüllt von der Erwartung, daß Nero, das satanische Gegenbild Christi, mit neuen Heerschaaren wiederkehren und nicht nur Rom, sondern auch Jerusalem einnehmen werde. So wird die Zeit der Abfassung der „Offenbarung Johannis“ in den Anfang des Jahres 69, kurz vor die Ermordung Galba’s, zu setzen sein. Wir haben also hier ebenfalls eine der ältesten Urkunden des Christenthums vor uns – aber welch anderer Geist weht in dieser Schrift als in den Briefen des Paulus! Auch sie ist im Großen und Ganzen für dasselbe Publicum bestimmt, für das Paulus geschrieben, für die Gemeinden des proconsularischen Asiens, ja sie richtet sich direct an Gemeinden, die Paulus gestiftet.

Man hat darüber gestritten, ob es wirklich der Apostel Johannes ist, der hier mit dem ganzen Gewichte seines Ansehens gegen den Paulus in die Schranken tritt. Aeußere Gründe gegen die Abfassung der Offenbarung durch Johannes liegen nicht vor – im Gegentheile spricht die alte Ueberlieferung entschieden für Johannes. Und die Züge, die wir aus dem Inhalte der Offenbarung für den Charakter des Verfassers zu entnehmen vermögen, stimmen durchaus mit dem Charakterbilde des Johannes, das uns anderweitig überliefert worden ist. Wir dürfen allerdings bei diesem Johannes nicht an den Verfasser des vierten Evangeliums, an den Jünger, den „Jesus lieb hatte“, der „an der Brust Jesu“ lag, nicht an den Verfasser der Johanneischen Briefe, der als höchsten Inhalt des christlichen Gottesbewußtseins die Liebe hinstellt, denken; denn der geschichtliche Johannes ist ganz anders geartet. Er ist aus härterem Stoffe. Er ist einer der Donnersöhne, die Feuer vom Himmel auf die samaritanischen Städte herniederbeten möchten, als dieselben einmal den Meister nicht aufnehmen wollen. Er gehört zu den Säulenaposteln in Jerusalem, zu den gesetzeseifrigen Judenchristen, und diesem Geiste des Donnersohnes entspricht die Offenbarung. Auch hier wird Feuer vom Himmel auf Alle herniedergeholt, die nicht zu der Fahne des Apostels schwören.

Das Christusbild der Offenbarung ist nicht das des Weltenheilandes, des stillen sanften Menschenfreundes; es ist das Bild des jüdischen Messias, der in den Wolken des Himmels kommt, um alle seine Feinde zu zermalmen. Und zu diesen Feinden gehören in erster Linie alle Nichtjuden, gehört auch der falsche Apostel, der sich selbst für einen Apostel ausgiebt, aber als Lügner erfunden worden ist. Dieser falsche Apostel, der Paulus, hat ja das Essen des Götzenopferfleisches freigegeben. Jene Secte der Nikolaiten, welche die Offenbarung bekämpft, ist ja nichts Anderes, als eine mystische Bezeichnung der Anhänger des Paulus, denen der Apokalyptiker Schuld giebt, daß sie das Wort ihres Lehrers: „Alles ist mir erlaubt“, zum Deckmantel fleischlicher Ausschreitungen machen. Die Pauliner sagen wohl auch, sie seien Juden, aber sie sind die Synagoge des Satans. Hatte Paulus behauptet, daß der Geist alle Dinge erforsche, auch die Tiefen der Gottheit, so meint der Apokalyptiker, daß dieses gesetzesfreie Christenthum vielmehr die Tiefen des Satans erforsche. Es ist demnach der Standpunkt des extremsten Judaismus, auf dem die Offenbarung steht. Alles Heidenthum ist an sich Antichristenthum. Hier heißt es: kalt oder warm sein. Wer, wie die Pauliner, dem Heidenthum gegenüber lau ist, wer wohl gar für die Zulassung der Heiden zum Gottesreich eintritt, wird ausgespieen aus dem Munde Gottes.

Man kann es tief bedauern, daß die Kirche ein solches Buch, wie die „Offenbarung“, unter ihre „heiligen“ Schriften aufgenommen hat; denn aller Fanatismus späterer Jahrhunderte hat sich wesentlich an diesem Buche genährt. Die Blutgerichte der späteren Kirche, die Scheiterhaufen des Mittelalters sind nichts als die Erzeugnisse des apokalyptischen Geistes, und dieser Geist ist wahrlich nicht der Geist des Nazareners, der nicht gekommen war, der Menschen Seelen zu verderben.

Doch ist auch dieser fanatische Vorkämpfer eines engherzigen und unduldsamen Kirchenthums von der großen universellen Idee des Christenthums nicht völlig unberührt geblieben. Wohl kann sich der Apokalyptiker die religiöse Entwickelung nicht anders denken, als daß dieselbe über rauchende Trümmerhaufen und über die blutigen Gebeine der Heiden hinwegführt. Aber in der prophetischen Perspektive bleibt ihm doch die Ahnung, daß das Menschengeschlecht zu etwas Besserem, als zu Mord und Todtschlag berufen ist. Die arg mißhandelten und verzerrten Ideale flüchten sich in die Idee eines tausendjährigen Reiches, wo ein neuer Himmel über eine neue Erde sich wölbt, wo die Thränen abgewischt werden, kein Leid, kein Geschrei, keine Schmerzen mehr sein werden, sondern eine Hütte Gottes bei den Menschen.

So haben wir drei verschiedene Auffassungen des Christenthums in der ältesten Zeit vor uns. Erstens: die die historische Erscheinung Jesu einfach reproducirende, im verloren gegangenen Urevangelium des Matthäus niedergelegte Tradition; zweitens: das paulinische; drittens: das apokalyptische Christenthum.

Es wird in zwei ferneren Artikeln Aufgabe sein, zu zeigen, wie diese verschiedenen Auffassungen weiterhin auf einander eingewirkt haben und wie sie durch die geschichtliche Entwickelung mit einander vermittelt worden sind.



[832]
II.
Die Entstehung des Katholicismus.
Motto:

„Ich seh’s, der wunderbare Mutterschooß
Des menschlichen Gemüths ist nicht erschöpft.
Zerfällt in Staub die abgelebte Welt,
Das Menschenherz gebiert sie ewig neu.“

Rob. Hamerling, Ahasver in Rom.

Jenseits des Oceans giebt es noch Urwälder, die von der menschlichen Cultur bis jetzt nicht urbar gemacht worden sind. Wenn der Fuß des Wanderers in dieselben eindringen will, so muß er sich erst mit der Axt den Weg bahnen, den ihm Schlinggewächse und üppig wucherndes Gehölz zu versperren sucht. Bei dem Schlage der Axt wird unheimliches Gethier emporgescheucht, das den kühnen Eindringling ächzend und krächzend umschwärmt, um ihn in seinem Unterfangen zu stören.

In ähnlicher Lage, wie ein solcher Wanderer, befand sich die Theologie, als sie bei ihren Untersuchungen an die Evangelienschriften des Neuen Testaments gelangte. Ein undurchdringlich erscheinendes Gewirr von Sagen und Legenden, von traditionellen Vorurtheilen und dogmatischen Anschauungen trat ihr entgegen, verworrene Schlinggewächse, die jeden Durchblick hemmten. Da nahm die Wissenschaft ihre Axt, um sich den Weg durch diesen Urwald zu bahnen. Aber bei jedem Schlage krochen die Kirchenmänner aus ihren Schlupfwinkeln vor, schreiend und polternd, daß man sie in ihrer Ruhe störe. Indeß die Wissenschaft ließ sich nicht beirren. Sie ist unter unsäglichen Mühen in das Dickicht eingedrungen, und wenn dasselbe heute auch noch keineswegs vollständig gelichtet ist, so ist es doch möglich, ein wenigstens in den [834] Hauptzügen klar erkennbares Bild von der Entstehung der Evangelien zu gewinnen.

Ein wissenschaftliches Verständniß der neutestamentlichen Evangelienliteratur war schlechterdings unmöglich, so lange man annahm, daß alle im neutestamentlichen Canon enthaltenen vier Schriften unter sich wesentlich eins wären, und sie dementsprechend nach ein und demselben Maßstabe behandelte. Erst als man zu der Ueberzeugung kam, daß die vierte, nach Johannes benannte Evangelienschrift durchaus von den drei ersten abgesondert und für sich behandelt werden müsse, war der entscheidende Schritt zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Evangelienfrage geschehen. Man entdeckte, daß, während die drei ersten, nach Matthäus. Marcus und Lucas benannten Schriften, ihrer Eigentümlichkeiten unbeschadet, in wesentlichen Punkten übereinstimmen, zwischen diesen dreien und der vierten die bedeutendsten Differenzen vorwalten. Die drei ersten, wegen ihrer Uebereinstimmung mit dem technischen Namen der „Synoptiker“ bezeichneten Schriften verlegen die Hauptthätigkeit Jesu nach Galiläa und lassen ihn erst kurz vor seinem Tode, bei der Reise zum letzten Passah, nach Jerusalem kommen. Er ist bis zu diesem Zeitpunkt in Jerusalem fast unbekannt; denn bei seinem Einzuge in die Stadt fragt die erstaunte Menge: „Wer ist denn dieser?“ und die Reisegefährten Jesu geben erst über ihn nähere Auskunft. Nach dem vierten Evangelium dagegen fällt die Hauptwirksamkeit Jesu in die Hauptstadt und ihre nächste Umgebung, wo er die unglaublichsten Wunderthaten verrichtet haben soll, also unmöglich unbekannt geblieben sein könnte. Auch ist das Christus-Bild, das der vierte Evangelist uns zeichnet, ein wesentlich anderes, als das der drei ersten.

Bei diesen beginnt Jesus mit der Predigt vom Gottesreiche. Seine Person tritt in den Hintergrund, und nur gegen das Ende seines Lebens berührt Jesus auch die Frage nach der messianischen Bedeutung seiner Person. Bei jenem dagegen ist die Messianität Jesu der Ausgangspunkt. Die Gleichnißrede ist völlig verschwunden und hat den Reden über die höhere Würde Jesu Platz gemacht. Am eclatantesten ist aber die Verschiedenheit in der Angabe des Datums, an dem Jesus gestorben sein soll. Bei den Synoptikern hat Jesus am 14. Nisan, am eigentlichen Passahfeste, das Nachtmahl gefeiert; der 15. ist sein Todestag. Nach dem vierten Evangelisten hat er überhaupt das Passah nicht mehr mitgefeiert. Er ist am Tage vorher mit seinen Jüngern zusammen gewesen und am 14. Nisan gekreuzigt worden. Diese Differenz, die auch in den Kämpfen der Kirche zu Tage tritt, läßt sich nicht mehr mit der wohlfeilen Auskunft gegenseitiger Ergänzung abfertigen; sie verlangt eine klare Entscheidung für die eine oder die andere Angabe. Unter dem Einflusse der Schleiermacher’schen Gefühlstheologie entschied man sich eine Zeitlang für das vierte Evangelium mit seinem mystischen Christus-Bilde. Ja es gehörte in den Kreisen der Schleiermacher’schen Schule zum guten Tone, auf die drei ersten Evangelien, die doch im Wesentlichen nur einen einfachen galiläischen Rabbi zeichnen, mit einem gewissen Gefühl der Geringschätzung hernieder zu blicken. Die neuere Kritik der Tübinger Schule kehrte indeß das Verhältniß um, und es gehört jetzt zu den sichersten Ergebnissen der theologischen Wissenschaft, daß, wenn es überhaupt gelingen soll, die historische Grundlage des Lebens Jesu zu erforschen, dies nur mit Hülfe der drei ersten Evangelien und durch ein Beiseitelassen des vierten möglich wird. Die Synoptiker sind jedenfalls die ursprünglicheren Schriften, und es kommt darauf an, auch sie einer kritischen Behandlung zu unterwerfen.

Die kritische Hauptfrage in Betreff der drei ersten Evangelien ist nun die, wie sowohl die zwischen ihnen bestehende Verwandtschaft wie auch die vorhandene Verschiedenheit erklärt werden könne. Beides, Verwandtschaft und Verschiedenheit, ist hier tatsächlich in auffallender, wohl kaum zum zweiten Male in der Geschichte auftretender Weise vorhanden. Oft scheint es, als habe ein Evangelist den andern einfach copirt; dann kommen plötzlich wieder Differenzen zum Vorschein, die eine solche Annahme geradezu ausschließen So haben die drei ersten Evangelien mit den Gelehrten geradezu ein neckisches Spiel getrieben.

Es würde den Leser ermüden, wenn auch nur im Allgemeinen der Gang dieser Untersuchungen angedeutet werden sollte. Was überhaupt an Hypothesen geleistet werden konnte, ist auch auf diesem Gebiete geleistet worden, bald genial und kühn, bald kleinlich und pedantisch, ohne daß aber bis jetzt das Problem selber zu einer allgemein anerkannten Lösung gekommen wäre. Nachdem sich indeß die Hypothesenfluth seit einiger Zeit etwas verlaufen hab haben sich die Forschungen soweit geklärt, daß man als sicheres Ergebniß derselben das Eine betrachten kann: daß wir in keinem einzigen unserer Evangelien eine wirklich ursprüngliche Schrift von einem Apostel oder einem directen Apostelschüler besitzen. In der uns überlieferten Redaction kann keine der drei Evangelienschriften vor dem Jahre 70, dem Jahre der Zerstörung von Jerusalem, verfaßt worden sein, da sich in allen dreien Stellen finden, welche die Zerstörung Jerusalems schon als geschehen voraussetzen. Wahrscheinlich ist die zweite, nach Marcus benannte, die älteste, jedenfalls aber die dritte, nach Lucas benannte, die jüngste unserer neutestamentlichen Evangelienschriften. Das dritte Evangelium giebt in seiner Einleitung selbst an, daß zur Zeit der Abfassung desselben schon zahlreiche anderweitige Evangelienbearbeitungen vorhanden waren, und unverkennbar ist, daß in dem dritten Evangelium die beiden andern benutzt worden sind. Das Ende des ersten und der Anfang des zweiten Jahrhunderts ist demnach als die Zeit anzusehen, in welcher die Evangelienliteratur zu ihrem canonischen Abschluß gekommen ist.

Daneben steht aber auch das Andere fest, daß doch jede dieser drei Evangelienschriften alte historische Quellen, wenn auch mit mehrfacher Ueberarbeitung, enthält. Als Quelle gilt in erster Linie das alte, von Papias erwähnte hebräische Original des Matthäus. Außerdem wird aber wahrscheinlich noch eine zweite, auf Marcus, den Schüler des Petrus, zurückzuführende und ebenfalls von Papias erwähnt Quellenschrift in Betracht kommen.

Wenn durch die Grundlage gemeinsamer Quellen die zwischen den drei Evangelien bestehende Aehnlichkeit ihre Erklärung findet, so entsteht nun aber die weitere Frage: woher denn die Verschiedenheit komme? Die Antwort hierauf ist die, daß die einzelnen Bearbeiter in ihren Arbeiten bestimmt Tendenzen verfolgten, und daß diese Tendenzen die Art und Weise der Bearbeitung beeinflußt haben.

Zwei unvermittelte und schroffe Gegensätze waren am Ausgange des apostolischen Zeitalters zu verzeichnen gewesen: die heiden-christliche, in den Paulus-Briefen vertretene Auffassung des Christenthums, und die juden-christliche, in der Offenbarung des Johannes vertretene Auffassung. Jemehr aber der Gedanke einer katholischen, das heißt allgemeinen, alle Gegensätze aus ihrem Schooße austilgenden Kirche sich zu entwickeln begann, desto mehr mußte vor allen Dingen jener fundamentale Gegensatz, der die ältesten Gemeinden geradezu in zwei Heerlager spaltete, beseitigt werden. Die ursprünglichsten Producte dieser katholisirenden Thätigkeit der Kirche haben wir nun in unseren Evangelien vor uns. Die Quellenschriften des Lebens Jesu waren ursprünglich ein neutrales Gebiet. Sie enthielten einfache, soweit wie möglich objective Erzählungen und Berichte. Dieses Gebiet suchte jede der feindlichen Partien für sich zu erobern. Man legt, je nach der eigenen Parteirichtung, Jesu Worte in den Mund, die eine Autorität für die Partei-Anschauung zu werden geeignet schienen; man änderte die historischen Berichte in demselben Interesse um oder entfernte auch einfach solche Worte, die den Parteigrundsätzen widersprachen. Unsere Evangelien sind indeß keine ersten Ueberarbeitungen der Quellen mehr, sondern erweisen sich als zweite oder gar dritte Redactionen. Es tritt in ihnen eben nicht mehr die reine Parteitendenz, sondern schon die der Parteitendenz mehr oder weniger die Spitze abbrechende katholisirende Richtung der Kirche zu Tage. Das zweite Evangelium neigt noch entschieden dem Juden-Christenthume zu; es giebt dem Petrus eine hervorragende Stellung unter den Jüngern; es hebt mit Nachdruck die Lehre von der Einheit Gottes, diese Grundlehre des Mosaismus, hervor; es sieht in dem heidnischen Gebiet den Wohnort der Dämonen und läßt Jesum einen geheilten Heiden aus seinem Gefolge wegweisen. Andererseits ist die auf craß judaistischem Boden entstandene Erzählung, daß Jesus die Heiden mit den Hunden verglichen haben soll, denen man das für die Kinder, die Juden, bestimmt Brod nicht vorwerfen dürfte, schon durch die Auffassung gemildert, daß die Kinder nur den Vorzug hätten, vor den Heiden bedacht zu werden. Es tadelt den Johannes, der einem Menschen den Exorcismus im Namen Jesu verbieten will, weil derselbe nicht direct zu ihrer Schaar gehöre, und es läßt Jesum seine Jünger direct ermahnen, sie sollen Frieden mit einander haben.

Die seltsamste Erscheinung dieser altkatholischen Literaturerzeugnisse bleibt das nach Matthäus benannte Evangelium, die Schrift mit dem Janus-Kopf, dessen eines Gesicht, wie ein neuerer [835] Theologe sich ausdrückt, in das Griechische, das andere in das Semitische zurückweist. Dieses Evangelium birgt die engherzigsten und weitherzigsten, die großartigsten und kleinlichsten Aussprüche in sich. Kein Buchstabe, kein Häkchen vom Gesetz soll vergehen, und wer, so wird mit offenbarer Beziehung auf Paulus hinzugefügt, eins von den kleinsten Geboten auflöst und die Leute also lehrt, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich. Im Gegensatz hierzu berichtet dasselbe Evangelium, daß Jesus seine Jünger, die das Sabbathgebot übertreten hatten, in Schutz nimmt und fordert, daß der neue Wein nicht in die alten Schläuche gefüllt werbe. Petrus wird im ersten Evangelium als der Felsen bezeichnet, auf den die Gemeinde gebaut werden soll, als der, der die Schlüssel zum Himmelreich hat, daß er binden und lösen könne für Himmel und Erde. Und doch berichtet gerade dieses Evangelium die schwächste Stunde des Petrus, die von den Paulinern mit besonderer Vorliebe mag hervorgehoben worden sein, die Stunde der Verleugnung, mit besonderer Ausführlichkeit. Mit echt rabbinischer Spitzfindigkeit wird aus zufälligen oder künstlichen Anklängen an alttestamentliche Worte die Erfüllung prophetischer Weissagungen gefolgert, und doch ist das Gesammtbild, das hier von Jesus entworfen wird, von imponirender Größe.

Am weitesten nach links steht das nach Lucas benannte Evangelium. Die Rolle, die in den beiden anderen Schriften dem Heidenthum zugewiesen wurde, fällt hier dem Judenthum zu. Jerusalem ist die prophetenmörderische Stadt. Das Christenthum hat von Hause aus die Bestimmung, über die Grenzen des Judenthums hinauszugehen. Dem Verlorenen wendet sich ganz besonders die Liebe zu, wenn auch der tugendstolze Pharisäer gerade aus den ihm nicht ebenbürtigen Heiden herniederblickt. Das dritte Evangelium enthält deshalb die universellsten und großartigsten Züge. Es hat uns die beiden Perlen unter den christlichen Gleichnissen überliefert, das vom barmherzigen Samariter, diesen Triumph der reinsten, über alle Schranken der Nationen und Confessionen hinübergreifenden Menschenliebe, und das vom verlorenen Sohn, den Triumph der den Menschen nur nach der Kraft seiner Sehnsucht schätzenden Gottesliebe.

Doch ist auch dieses den Pauliner so deutlich verrathende Evangelium keineswegs radical. Es hat ebenfalls die Stelle aufgenommen, welche die unbedingte Gültigkeit des Gesetzes, ja jedes Buchstabens in demselben, beansprucht. Es hält es ausdrücklich für nothwendig, zu erzählen, daß die Eltern Jesu alles an ihm gethan hätten, was im Gesetze vorgeschrieben sei. Das ist eben das Charakteristische dieses Katholicismus, welches auch schon bei den canonischen Evangelien bemerkbar wird, daß derselbe nicht Gegensätze wahrhaft vermittelt und in die höhere Einheit abhebt, sondern daß er die Gegensätze einfach durch kirchliches Decret zusammenwirft und es nun den Menschen überläßt, das Widersprechendste zusammenzudenken. Wer nicht darüber orientirt ist, wie diese ganz entgegengesetzten Anschauungsweisen, die sich in unsern Evangelien finden, in dieselben hineingekommen sind, muß nothwendig, sobald er denkend liest, bei der Lectüre dieser Schriften in Verwirrung gerathen.

Der katholisirende Charakter unserer Evangelien tritt auch nach einer anderen Seite hin deutlich hervor. Bei aller Verschiedenheit hatten die beiden ursprünglichen christlichen Richtungen doch etwas Gemeinsames in dem Glauben an die Verherrlichung Jesu. Dieser Glaube war nicht eine aus rein geistiger und sittlicher Grundlage erwachsene liebevolle Verehrung und Werthschätzung der Charaktergröße Jesu, sondern die durch das Medium der Christus-Visionen und des Auferstehungsglaubens vermittelte sinnliche Vorstellung eines persönlich zur Rechten Gottes erhöhten und im Lichtglanze himmlischer Majestät thronenden Messias. Es konnte nicht ausbleiben, daß dieser überirdische Glorienschein seine Strahlen auch auf die geschichtliche Erscheinung Jesu zurückwarf; denn auch hier lag es im Charakter des werdenden Katholicismus, beides, das historische Lebensbild und das in der Vorstellungsweise der Gemeinde lebende Messiasbild, in Eines zu verschmelzen. So erhielt das Lebensbild Jesu auch in den neutestamentlichen Evangelien jenen katholischen Heiligenschein des Wunderthäters, jene starren Züge des Himmelskönigs und des Weltenrichters, der, ganz wie in der Denkweise des Apokalyptikers, wiederkommen wird, um seine Feinde an den Ort der ewigen Qual zu senden.

Kopfschüttelnd stehst der moderne Mensch gerade vor diesen Zügen der neustestamentlichen Ueberlieferung. Sie verderben ihm den Geschmack auch an dem, was ihn sonst anziehen und erwärmen würde. Wir müssen eben bedenken, daß hier die in sinnlichen Bildern sich bewegende religiöse Vorstellungsweise der ältesten christlichen Gemeinden in die Evangelien selber hineingetragen ist. Jener überirdische Glorienschein, der in den canonischen Evangelien das Haupt des Nazarethanischen Zimmermannssohnes schmückt, ist nichts als der Ehrenkranz, den die glühende Verehrung der ersten Christen ihrem Meister geflochten. Die einzelnen Blätter dieses Kranzes sind verwelkt. Wir suchen die Hoheit des Menschen, auch des Menschen, der sich am liebsten des Menschen Sohn nannte, nicht in Mirakeln und im katholischen Heiligenschein, sondern in der Fülle sittlicher Ideen und großer, weltbewegender Gedanken, die sein Geist umfaßte. Aber auch die verwelkten Blätter sind werthvolle historische Denkmäler, wenn auch nicht vom Leben Jesu, so doch von der Denkweise der ersten Christen, von einer religiös mächtig erregten Zeit von stürmisch wogender Begeisterung.

Es kann uns nun nicht mehr Wunder nehmen, daß unsere Evangelien auch in den Berichten über die Geburt und Abstammung Jesu Widersprechendes zusammenstellen. Jesus erscheint durch die aufgeführten Stammbäume als Sohn Joseph’s und der Maria, durch die eingefügten Kindheitslegenden und Vorgeschichten lediglich als Sohn der Maria. Die Quellenschrift hat von einer Geburt aus der Jungfrau nichts gewußt, und die ältesten Christen, unter ihnen noch Paulus, kannten Jesum nur als Abkömmling des Davidischen Geschlechts, und die Spuren dieser Ueberlieferung finden sich auch noch mehrfach in unseren Evangelien. Je mehr aber Jesus dadurch vollständig auf dem Boden des Judenthums verblieb, desto mehr mußte die antijudaistische Partei diese Tradition umbilden, um Jesum auch schon durch seine Abstammung dem Rahmen des Judenthums zu entreißen. Unsere Synoptiker erweisen sich aber dadurch als Erzeugnisse des erst werdenden Katholicismus, daß sie noch beiden kirchlichen Richtungen Rechnung tragen

Werfen wir nun noch einen flüchtigen Blick auf zwei interessante Schriften, die ebenfalls deutlichen Spuren des Kampfes der Parteien an sich tragen gleichzeitig aber, ganz wie die drei ersten Evangelien, schon über die Zeit der schroffen Gegensätze hinausweisen! Zuerst ist da der Hebräerbrief, eine Schrift, die lange Zeit irrtümlicher Weise dem Paulus zugeschrieben wurde, während heute kaum noch ein Mensch die paulinische Abfassung des Briefes zu behaupten wagt. Die Schrift vertritt ohne Zweifel die Richtung des Paulinismus, versucht aber, wie schon der Name erkennen läßt, diese Richtung auch der Partei der Hebräer annehmbar zu machen. Paulus hatte im Römerbrief denselben Versuch gemacht. Aber die Rolle, die er von seinem extremen Standpunkte aus dem jüdischen Gesetze zuertheilt hatte, daß dasselbe nämlich gegeben sei, um die Sünde hervorzurufen und dem Menschen zum Tode zu gereichen, konnte wenig versöhnend auf die Anhänger der Gesetzesreligion wirken.

Der Verfasser des Hebräerbriefes schlägt dagegen den Weg ein, daß er eine innere Einheit zwischen den Institutionen des mosaischer Cultus und dem Christenthum nachzuweisen sucht. Die Ersteren sind typische, sinnbildliche Hinweisungen auf das Letztere. Sie stehen zum Christentum nicht in einander abschließendem Gegensatz, sondern verhalten sich zu ihm wie das Unvollkommene zu dem Vollkommenen.

Eine ganz anders geartete Schrift ist der dem Jacobus zugeschriebene Brief. Er will durchaus antipaulinisch sein; er erhebt directen Protest gegen die Hauptlehre des Paulus, daß der Mensch ohne Berücksichtigung des Gesetzes lediglich durch seinen Glauben gerecht werde, und behauptet dafür geradezu, der Mensch werde nicht durch den Glauben, sondern durch seine Werke gerecht. Aber der Einfluß der Richtung, die der Brief bekämpfen will, auf den Brief selber ist doch unverkennbar. Das Gesetz wird ja als das Gesetz der Freiheit bezeichnet. Gemeint ist also nicht mehr der Buchstabe, sondern der in den freien, selbstbewußten Willen des Menschen abgenommene Geist des Gesetzes. Damit aber berührt der Jacobus-Brief deutlich den paulinischen Gedankenkreis.

Wir sehen also, wie da, wo die traditionelle Orthodoxie nichts als die starre Einförmigkeit unfehlbarer Glaubensregeln erblickt, in Wirklichkeit ein reiches geschichtliches Leben, ein mächtiges Kämpfen und Ringen der Geister vorhanden ist.

Welchen vorläufigen Abschluß dieser Kampf im Neuen Testament genommen hat, werden wir nun noch in einem weiteren und letzten Artikel sehen.



[850]
III.
Der Sieg des Katholicismus im Neuen Testament.
Motto: Luther, Du! - Großer verkannter Mann! -
Du hast uns vom Joche der Tradition erlöst:
wer erlöst uns von dem unerträglicheren Joche
des Buchstabens? Wer bringt uns endlich ein
Christenthum, wie Du es jetzt lehren würdest,
wie es Christus selbst lehren würde?
Lessing, „Theologische Streitschriften“.

Jede Tendenz, die eine bestimmte Zeit beherrscht, bedarf um zu ihrer Verwirklichung zu kommen, des äußeren Anstoßes. Wie lange hatten schon die Besten unserer Nation eine Einigung des in sich so vielgetheilten Deutschland erstrebt! Aber erst der Krieg der Jahre 1870 und 1871 brachte unser Volk an das Ziel seiner edelsten Wünsche. Auch in den zerklüfteten Gemeinden der ältesten Kirche war das Bestreben nach Vereinigung der bestehenden Gegensätze längst lebendig. Aber erst die gemeinsame Noth der Christenverfolgungen brachte es zuwege, daß der häusliche Zwist beigelegt wurde und die Parteien sich enger zusammenschlossen.

[851] Die neronische Verfolgung des Jahres 64 war auf Rom beschränkt geblieben. Wohl waren die Christen unter den nächstfolgenden Kaisern einzelnen Quälereien ausgesetzt gewesen, aber erst unter Trajan (98 bis 117) nahm die Verfolgung einen bedrohlichen Charakter an. Der im Jahre 111 nach Bithynien entsandte Statthalter Plinius fand dort, wie er sich in einem Briefe ausdrückt, daß die Seuche des christlichen Aberglaubens sich nicht nur über die Städte, sondern auch über das Land und die Dörfer verbreitet, sodaß die Tempel leer standen und der Handel mit Opferthieren aufgehört hatte. Er hielt sich für berufen, der Seuche zu steuern. Dabei aber kam er in Conflict mit seinem Rechtsbewußtstein und schrieb an den Kaiser um Instruction. Die kaiserliche Antwort lautete, man solle die Christen nicht aufsuchen, anonyme Anzeigen auch nicht berücksichtigen, aber förmliche Anklagen untersuchen und die, welche des verbotenen Glaubens schuldig befunden würden und von demselben nicht zurücktreten wollten, bestrafen. Damit war der Rechtsboden für das Einschreiten des Proconsuls gegeben; die Verfolgung hatte eine legale Form erhalten.

Die neutestamentlichen Schriften, in denen sich das Bild dieser Zeit wiederspiegelt, sind der erste Petrus-Brief und die Apostelgeschichte. Die erste dieser Schriften ist von Rom, dem Sitze des Judenchristenthums, an die bedrängten kleinasiatischen Gemeinden, in denen noch vor etwa vierzig Jahren der Kampf der Parteien am heftigsten brannte, gerichtet. Aber dieses Schreiben gehört zu den versöhnlichsten des Neuen Testaments. Es ermahnt die Christen, im Leiden festzustehen, das Böse mit Gutem zu vergelten und dahin zu trachten, daß Jeder nur um der Gerechtigkeit, Keiner um der Bosheit willen leide.

Der Verfasser dieses Briefes hat aus seinem Herzen jeden Groll gegen den Apostel Paulus ausgetilgt. Er bedient sich sogar der Worte und der Gedanken des Paulus, was dem Briefe jedenfalls um so sicherer einen Platz im Herzen der kleinasiatischen Gemeinden verschaffte. Daß der Brief trotz der darin enthaltenen paulinischen Gedanken, den Namen des Petrus trägt, ist ebenfalls ein Beweis dafür, daß die Christen über die Zeit, in der die Einen riefen: „ich bin petrisch“, die Anderen: „ich bin paulisch“, hinaus waren.

Einen ähnlichen Charakter hat die Apostelgeschichte. Auch sie ist unter Trajan verfaßt worden und recht eigentlich das classische Denkmal der zwischen den Petrinern und Paulinern vollzogenen Einigung. Mit peinlicher Sorgfalt sind aus der Lebensgeschichte des Paulus alle herben, gegen das Gesetzeschristenthum gerichteten Züge ausgetilgt. Jener tiefgehende Conflict, den Paulus mit Petrus in Antiochien hatte, als Petrus zuerst mit den Heidenchristen aß, dann aber, sobald Vertreter der Jerusalemgemeinde dazu kamen, plötzlich den Verkehr mit den Heidenchristen abbrach, ist vollständig übergangen. Dafür soll Paulus, im directen Gegensatze gegen seine im Galaterbriefe behauptete Position, sich bei einem Congresse in Jerusalem dazu verstanden haben, seine Gemeinden auf die Innehaltung der sogenannten noachischen Gebote zu verpflichten. Petrus erscheint in der Apostelgeschichte auf einmal als ein durchaus freisinniger Pauliner. Er geht nach einer Vision in das Haus des heidnischen Hauptmanns, um dessen ganze Familie zu taufen. Die Institution der Taufe hat die der Beschneidung völlig verdrängt. Die Taufe ist dafür aber nun ebenso nothwendig geworden, wie früher die Beschneidung. Petrus verkündigt in Jerusalem die paulinische Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben, und da doch einmal in der Tradition fortlebte, daß die Judenschriften eine Unterstützung, die Paulus nach Jerusalem gebracht hatte, zurückgewiesen, so erfand die Apostelgeschichte einen eigenen Magier Simon, dem nun anstatt dem Paulus das Wort entgegengeschleudert wird: „Daß du verdammt seiest mit deinem Gelde!“ Dabei wägt der Verfasser der Apostelgeschichte sorgfältig ab, daß keiner der beiden Apostel in der Bewunderung der Leser zu kurz komme. Jeder Wunderthat des Einen wird eine analoge Wunderthat des Andern zur Seite gesetzt.

So schien der Streit zwischen Paulinern und Petrinern vorläufig beigelegt. Wer hatte denn aber in diesem Streite gesiegt, Paulus oder Petrus? Der ideale Sieg war entschieden auf Seiten der Paulus-Partei; denn sie hatte es fertig gebracht, daß die Gegner ihre particularitischen Gesetzesansprüche hatten fallen lassen müssen. Den Löwenantheil des Sieges trug indessen die Petrus-Partei davon. Ueber den Verlust der Beschneidung konnte man sich trösten, nachdem in der Taufe, dem Zeichen der Aufnahme in den göttlichen Bund, ein Ersatz für dieselbe geschaffen war. Jetzt hatte ja ihr Führer doppelten Ruhm: einmal den Ruhm des Apostelfürsten, und dann noch denjenigen, zugleich auch als der Vertreter der universellen Ideen des Paulus zu erscheinen. Rom hatte seinen ersten entscheidenden Sieg errungen, indem es sich zum Vertreter des kirchlichen Einheitsgedankens aufwarf. Es sollte später Gelegenheit zu einem zweiten noch größeren Siege erhalten.

Wie einst in Kleinasien der Streit um die Verbindlichkeit der Beschneidung begonnen hatte, der erst vor Kurzem durch die allgemeine Einführung der Taufe seine Erledigung gefunden hatte, so entstand jetzt ebendaselbst der Streit um die Befindlichkeit des zweiten mosaischen Sacraments, des Passahmahls. In Kleinasien befand sich eine christliche Partei, welche, streng an der jüdischen Passahfeier festhaltend, das österliche Fasten am 14. Nisan abbrach, um an diesem Tage das gesetzliche Passah zu genießen. In der abendländischen Kirche hatte man sich längst von dieser strengen Praxis losgelöst. Man kümmerte sich nicht um den 14. Nisan, sondern richtete sich, wie es noch heute kirchlicher Gebrauch ist, lediglich nach dem Sonntage, dem der Erinnerung an die Auferstehung Jesu geweihten Tage, und weihte danach den Freitag ein- für allemal als Erinnerungstag an den Tod Jesu. Die Differenz kam zuerst in Rom bei Gelegenheit eines Besuches des Bischofs Polycarp von Smyrna bei dem römischen Bischofe Anicet im Jahre 180 zur Sprache, ohne daß die beiden Bischöfe sich verständigt hätten Zehn Jahre später brach der Streit in Laodicaea jedoch von Neuem aus. Dabei zeigte sich, daß in Kleinasien selbst sowohl die freiere römische als auch die gesetzliche Praxis vertreten war. Der Kampf nahm immer größere Dimensionen an, sodaß er bald die ganze Kirche des Abend- und Morgenlandes erschütterte. Die strengere Partei der Kleinasiaten hielt entschieden daran fest, daß das Passah nur am 14. Nisan, wie es jüdischer Ritus war, gefeiert werden dürfe. Sie berief sich dafür auf keine geringere Autorität, als auf die des Apostels Johannes, der ja in Kleinasien seine Apokalypse geschrieben hatte, und auf die gesammte, auch in den synoptischen Evangelien niedergelegte Ueberlieferung, welche dahin lautete, daß Jesus ebenfalls am 14. Nisan das gesetzliche Passah gefeiert habe und Tags darauf gekreuzigt sei. Hier war von Neuem das Einheitsinteresse der Kirche gefährdet, besonders als nun der römische Bischof Victor den Schritt that, daß er die Gemeinden von Kleinasien von der Kirchengemeinschaft abzuscheiden und als Ketzer zu brandmarken versuchte.

Wer sollte hier nachgeben? Rom hat niemals nachgegeben. Schon war ihm ja auch ein Beistand geworden mit dessen Hülfe ihm der Sieg nicht fehlen konnte, nämlich in dem vierten unserer neutestamentlichen Evangelien. Dieses Evangelium macht den eigenthümlichen Versuch, die Autorität des geschichtlichen Johannes und der ganzen altkirchlicher Ueberlieferung durch die Neubildung einer Evangelienschrift zu bekämpfen. Dieses vierte Evangelium, das auch wir, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche folgend, immerhin das Johanneische Evangelium nennen mögen, stellt sich die Aufgabe, für die römische Praxis in der Behandlung der Passahfrage einen bestimmten Beleg beizubringen. Christus, so argumentirt diese Schrift, ist das wahre Passahlamm. Jene seltsame und unnatürliche Erzählung, daß aus der mit der Lanze der Kriegsknechte durchbohrten Seite des gekreuzigten Jesus Blut und Wasser geflossen sei, hat nur den Zweck, auf Grund eines alttestamentlichen Citats den Beweis führen zu können, daß Jesus das Passahlamm gewesen. Ist diese Voraussetzung richtig, so mußte Jesus am 14. Nisan am Tage, an dem das Passahlamm geschlachtet wurde, getödtet worden sein. War er selbst das Passahlamm, so konnte er das Passah nicht noch gegessen haben. Haben die Christen aber ein anderes Passahlamm, als die Juden, so sind sie an die gesetzlichen Bestimmungen über das Passahfest nicht gebunden. Diese künstliche Verschiebung des Todestages Jesu, die der Tradition so durchaus entgegen war, konnte nur in einer Schrift, welche, wie das vierte Evangelium, so durchaus von einer großen und neuen Gesammtanschauung des Christenthums getragen war, Aussicht aus Erfolg haben. Die ja auch schon von Paulus flüchtig berührte Idee, daß Christus das wahre Passahlamm sei, erscheint hier im Zusammenhange eines großartigen, in sich einheitlichen theologischen Systems.

Das vierte Evangelium hat eine zu bedeutsame Stelle in der kirchlichen Entwickelung eingenommen, als daß wir nicht der Theologie dieses Evangeliums unser Interesse zuwenden sollten.

[852] Der Leser erinnert sich wohl der Scene im „Faust“, in der der Philosoph nach dem Spaziergange am ersten Osterfeiertage in sein Studirzimmer zurückgekehrt ist. Beim Scheine der Lampe erwacht in ihm die alte ungestüme Sehnsucht nach den Urquellen alles Lebens und nach der Erkenntniß der letzten Gründe alles Seins. Er greift nach dem Neuen Testament, um hier Offenbarung, Aufschluß über die Räthsel des Daseins zu finden. Als er das Buch im Urtexte aufschlägt, trifft sein Blick auf den ersten Vers unseres Evangeliums: „Im Anfang war das Wort“. Allein das „Wort“ erscheint ihm zu wesenlos, als daß es als Anfangsprincip der Welt dienen könnte. Er übersetzt deshalb: „Im Anfang war der Sinn“, darauf: „Im Anfang war die Kraft“, und endlich, als er beide Uebersetzungen verworfen hat: „Im Anfang war die That“.

Was hat es mit dieser Stelle für eine Bewandtniß, daß sie einen Faust so tief zu bewegen und doch seine Gelehrsamkeit in Verwirrung zu bringen vermochte? Die Beantwortung dieser Frage wird uns zugleich in das Verständniß des vierten Evangeliums überhaupt einführen.

Wir sehen, daß das Evangelium eingeleitet wird durch einen Prolog, der tief unser modernes Denken in ein mystisches Dunkel gehüllt ist. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Um das zu verstehen müssen wir für einen Augenblick in die Geschichte der griechischen Philosophie zurückgehen. Während bekanntlich die Volksphantasie in Hellas ein ganzes Heer Götter geschaffen, hatte sich, im Unterschied zu den volkstümlichen, sinnlich religiösen Vorstellungen unter den Philosophen die Lehre von einer Einheit des göttlichen Wesens herausgebildet. Aber diesem göttlichen Wesen, dem allein wahres Sein zukam, das nach Plato schöner als das Schöne, besser als das Gute, unveränderlich, allwissend, allgütig war, stand die sinnliche Welt der Erscheinung, die Materie in ihren unendlich vielen Formen, als Gegensatz gegenüber. Es galt nun, zwischen den beiden, dem reinen Ansichsein und dem materiellen Dasein, eine Vermittelung zu finden. Die Welt ist ein Kosmos, ein geordnetes, nach Gesetzen sich bewegendes Ganze. Diese Gesetze sind durch die Vernunft erkennbar. Also scheint die Vernunft das zwischen der materiellen Welt und dem reinen göttlichen Wesen vermittelnde Princip zu sein. Dieses vernünftige Princip der Welt nannten nun die Philosophen bald Geist, bald Vernunft, bald bezeichneten sie es mir dem Begriff, dessen Uebersetzung dem Faust so viel Schwierigkeiten macht, mit dem Begriff des „Logos“, der im ursprünglichsten Sinne jedenfalls ganz richtig mit „Wort“ übersetzt wird, aber, sofern das Wort oben der Ausdruck des vernünftigen Gedankens ist, überhaupt die in die Erscheinung tretende und sich bethätigende Vernunft bezeichnet. So gebraucht schon Heraklit den Begriff „Logos“ als Ausdruck für die gesetzmäßige Bewegung der Welt. Bei den Stoikern findet sich derselbe Begriff neben dem des Geistes, um das der Welt innewohnende ordnende Princip zu bezeichnen.

Als die Juden sich mehr und mehr über die engen Grenzen ihres Landes ausbreiteten, kamen sie notwendiger Weise auch mit der Gedankenwelt der hellenischen Philosophie in Berührung. Dies geschah besonders in Alexandrien, einem Hauptsitz der außerpalästinensischen Judenschaft. Dort bildete sich eine berühmte Schule, welche die griechische Weisheit mit der hebräischen Weltanschauung verschmolz. Eine ganz außerordentliche Rolle spielte hierbei jener Begriff des „Logos“. Da in der griechischen Uebersetzung des Alten Testaments – das hebräische Reden und Sprechen Gottes als „Logos“ Gottes wiedergegeben war, so war ja dieser Begriff vor allem geeignet, als Einigungspunkt für die griechische und jüdische Weltanschauung zu dienen.

Besonders war es der vornehme alexandrinische Jude Philo, der diese Logoslehre weiterbildete. Bei Philo ist der Logos ausdrücklich das vermittelnde Princip zwischen Gott und Welt. Er ist die Kraft die alle Kräfte in sich faßt, der in Gott ruhende Weltgedanke, das Urbild der Welt, der Stellvertreter Gottes, der Dolmetscher, welcher ihr seinen Willen auslegt, daneben aber auch wieder der Vertreter der Wett in ihrem Verhältniß zur Gottheit, der Hohepriester, der Fürbitte für sie einlegt.

Wie Philo die jüdische Religion und die griechische Philosophie zur alexandrinischen Religionsphilosophie zusammenschloß, so verband nun das vierte Evangelium hinwiederum die alexandrinische Religionsphilosophie mit dem Christentum. Es übertrug die Prädicate, welche die Philosophie dem Logos zuteilte, auf Christus, den es als den fleischgewordenen Logos auffaßt. Ein so kühnes Unternehmen konnte natürlich nur auf Erfolg rechnen, wenn ihm die ganze Strömung der Zeit, in der dasselbe erschien, entgegenkam und wenn der Logosbegriff überhaupt schon in die christliche Literatur eingedrungen war. Beides war zur Zeit, als das vierte Evangelium erschien, der Fall.

Seit Anfang des zweiten Jahrhunderts kämpfte die Kirche gegen eine Richtung, welche die Religion in philosophische Speculation aufgehen zu lassen drohte, gegen den sogenannten Gnosticismus. Dieser Richtung bricht nun das vierte Evangelium die gefährlichste Spitze ab, indem es die Gnosis, die philosophische, speculative Erkenntniß, in den Dienst der Kirche nimmt. In den paulinisch gesinnten Kreise Kleinasiens war ja überhaupt die Religionsphilosophie nichts Fremdes mehr. Paulus selbst hatte sich als von platonischen Gebaute beeinflußt gezeigt, und schon der Hebräerbrief wendet die Prädicate des Logos auf Christus an, indem er ihn den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit und den Abdruck des göttlichen Wesens nennt, der alle Dinge mit seinem kräftigen. Worte trage.

Besonders die Briefe an die Colosser und Ephesier, in denen wir wahrscheinlich spätere Ueberarbeitungen eines verloren gegangene paulinischen Briefes vor uns haben, und die dem Johannes zugeschriebenen Briefe stehen mitten in der religionsphilosophischen Bewegung ihrer Zeit. Und doch ist das vierte Evangelium die erste und einzige unserer canonischen Schriften, welche systematisch und consequent die Logosidee für das Christenthum verwendet.

Die Religion wird in dieser Schrift vorwiegend zu einem intellectuellen Proceß. Als die Hauptsache, auf die Alles ankommt, erscheint die rechte Gotteserkenntniß: „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, und den du gesandt hast, den Christ, erkennen.“ Die Mission des fleischgewordenen Logos besteht eben darin, ganz wie bei den Gnostikern, das geheimste Wesen der Gottheit zu enthüllen, und dadurch wird auch das johanneische Christus-Bild bestimmt. Dieser Jesus des vierten Evangeliums hat kein menschliches, sondern ein absolutes, göttliches Selbstbewußtsein. Er erklärt, er und der Vater seien eins; er nennt sich selbst die Wahrheit, das Leben, das Licht der Welt und behauptet von sich, daß ihm alle Dinge vom Vater übergeben seien, daß er vom Himmel gekommen sei, zum Himmel fahre und im Himmel sei. Faßt man diese Worte als Selbstaussagen. eines Menschen, so läßt sich nichts Triftiges gegen die von David Strauß gemachte Bemerkung einwenden, daß ein Mensch, er möge gewesen sein, wer er wolle, solche Rede bei gesundem Kopf und Herzen nicht könne geführt haben.

Aber das vierte Evangelium giebt eben keine Biographie des geschichtliche Jesus, sondern ein bestimmtes, in Form der Erzählung niedergelegtes theologisches System. Es führt aus, wie sich das Christenthum vom Standpunkt der Logosidee betrachtet ausnimmt, und ist nichts als eine Umgestaltung der evangelischen Geschichte im Geiste der alexandrinischen Religionsphilosophie.

Dieses Evangelium war ganz dazu angelegt, einer Kirche, die schon anfing sich an dem Gedanken der einen Heerde unter einem römischen Hirten zu berauschen, die wirksamste Handhabe für die Realisirung ihres Ideals zu bieten. Es schnitt dem noch vorhandenen Rest des Judaismus die letzte Berechtigung ab, indem es die letzte Burg desselben die Passahfeier, niederwarf und dafür die Juden als Kinder des Teufels, als die personificirten Mächte der Finsterniß hinstellte. Es machte mit einem Male den Discussionen, ob Jesus der Sohn Joseph’s oder der Sohn der jungfräulichen Maria sei, ein Ende, indem es ihn als den vom Himmel herniedergestiegenen, fleischgewordenen Logos Gottes auffaßte. Es überwand den damals gefährlichsten Feind der Kirche, einen die historischen Voraussetzungen des Christentums zu philosophischen Spekulationen verflüchtigenden Gnosticismus, indem es die Gnosis selber zu einem wesentlichen Factor des Christentums machte.

So hatte Rom seinen zweiten Sieg errungen. Doch um welche Preis waren diese beiden Siege erkauft worden!

Die Kirche hatte, um ihre Einheit festzuhalten, die Erinnerung an die zwischen den ältesten Aposteln und Paulus bestehenden Differenzen auslöschen müssen. Dies war aber nur möglich auf Kosten der geschichtlichen Wahrheit. Man hatte dem Paulus, dem [854] Petrus, ja dem Stifter der christlichen Religion selber andere Züge geben müssen, als sie in der Wirklichkeit hatten. So hatte die Kirche schon gezeigt, daß sie bei ihrer Auffassung des Katholicismus den Reichthum individueller Gestaltungen nicht in sich zu ertragen vermöge. Die Einförmigkeit der Lehrmeinungen war an die Stelle der im Urchristenthum vorhandenen lebensvollen Einheit des Geistes getreten. In denjenigen neutestamentlichen Schriften, die noch später als das Johannes-Evangelium oder höchstens mit ihm gleichzeitig entstanden sind, den sogenannten Pastoralbriefen (den beiden an Timotheus und dem an Titus) tritt deshalb die Sorge für die eine rechte und heilsame Lehrmeinung in den Vordergrund. Was hatte Jesus von einer Einheit der Lehre gewußt! Die von der Orthodoxie der Schriftgelehrten ausgestoßenen Ketzer, die Samariter, die Zöllner, die sich mit heidnischer Berührung befleckt hatten – das war ja sein liebstes Publicum gewesen. Nicht die reine Lehre, sondern das reine Herz gab den Ausschlag. Das war jetzt anders geworden. „Ein jeglicher Geist, der nicht bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist der Geist des Widerchrists,“ so heißt es nun in dem ersten der sogenannten Johannes-Briefe. Die Religion war katholische Theologie, eine bestimmte, alleinseligmachende Bekenntnißweise geworden.

Wahrlich, ein theurer Preis! Doch was hilft es uns, heute um den Preis zu rechten! Was geschichtlich geworden ist, das ist auch kraft innerer Nothwendigkeit geworden. Und der Preis ist gar nicht einmal zu theuer, wenn er uns, den nachgeborenen Geschlechtern, wenigstens die Einsicht verschafft, daß eine solche Einheit, die nur entstehen kann auf Kosten der Wahrheit, der Freiheit, der lebendigen Mannigfaltigkeit, weder der Religion, noch der Kirche angemessen ist.

Das Neue Testament ist ja nicht nur ein Erzeugniß des Katholicismus. Es ist ebenso sehr auch ein wesentlicher Factor bei der Entstehung des Protestantismus; denn es enthält nicht nur die ersten Ansätze zu einer Versteinerung der Religion zum Dogma, sondern ebenso wohl die unaustilgbaren Spuren eines freien, innerlichen religiösen Lebens. Lernen wir die Schlacken vom edlen Golde unterscheiden, damit wir nicht thörichter Weise Beides mit einander verwerfen!

Wenn die Kirche die alten Urkunden ihrer Religion jedem ihrer Glieder mit der Aufforderung in die Hand giebt, frei darin zu forschen, zu prüfen und nur das Gute zu behalten, wird auch das Neue Testament, anstatt eine Fessel für den denkenden Menschengeist zu sein, ein Sporn für den Wahrheitsdrang, eine Quelle der Belehrung und Erbauung, ein Mittel zur Belebung der Religiosität werden.