Der Zeitgeist im Hausstande

Textdaten
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Autor: R. Artaria
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Titel: Der Zeitgeist im Hausstande
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–7, S. 16–25, 58–63, 85–92, 116–123, 154–160, 188–194, 212–220
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Bilder aus dem Familienleben
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Der Zeitgeist im Hausstande.

Bilder aus dem Familienleben.
Von R. Artaria.
1.

Alte Freunde nach längeren Jahren wiederzusehen, ist selten ein ungemischtes Vergnügen. Allzu lebhaft wird man an das Dichterwort erinnert:

„Der Mensch wird schließlich mangelhaft,
Die Locke wird hinweggerafft …“

und trauernd betrachtet man die Stätten früherer Herrlichkeit. Freilich, jünger und schöner sind auch wir inzwischen nicht geworden, obwohl wir uns unvergleichlich besser konserviert haben als der gute X oder die arme Y. Wir haben also Grund, die Veränderungen des Aeußeren bei unseren Freunden mit mildem Auge zu betrachten.

Aber im Innern – o Himmel! Dort hat der Zahn der Zeit manchmal Hohlräume genagt, welche die frühere Freundschaft unerbittlich mit Einsturz bedrohen. Ist jene dicke berechnende Ballmutter wirklich die poetisch zarte Schwärmerin von ehemals? Jener wohlerhaltene Fünfziger, dessen Seele stundenlang am Skattische angenagelt ist, während seine Lippen kaum ein anderes WOrt entflieht als: „Ich reize!“ oder „Ich passe!“ – müssen wir in ihm den liebenswürdigen, dem „ewig Weiblichen“ zugewandten Gesellschafter von ehedem wiedererkennen, ohne dessen Gegenwart zu Wasser und zu Lande, zu zwei und zu vier Händen überhaupt nichts „los“ sein konnte? Und nun gar der feurige Freiheitsschwärmer aus schönen Studententagen, der jetzt als griesgrämiger Melancholikus herumschleicht, weil er letztes Neujahr wieder einmal mit dem grünen Bärenorden fünfter Klasse übergangen wurd?! – – Ja, die Zeiten ändern sich und wir mit [18] ihnen, das lehrt uns ein Wiedersehen mit alten Freunden oft genug.

Aber nicht immer. Es giebt doch auch dauerhafte Naturen, welche getrost einmal anderthalb Jahrzehnte überschlagen und trotzdem darauf rechnen können, nach dieser Frist wieder als die Alten erkannt zu werden.

So dürften manche Leser der „Gartenlaube" ohne Schwierigkeit ein früher im „ersten Jahr des neuen Haushalts“ beobachtetes Paar wiederfinden, wenn ich sie heute in eine große süddeutsche Residenzstadt und zur Wohnung des Landgerichtsraths Walter führe. Früher, als junger Assessor, lebte er mit seiner Emmy in dem kleinen Städtchen Bergheim, nun gehört er dem Landgericht der Hauptstadt an und wohnt seit Jahren dort. Allerdings nicht in einer der vornehmen Straßen – ein Krösus ist er trotz der Gehaltsaufbesserung nicht geworden – sondern in einem vielstöckigen hellgetünchten Hause jener großen Straßenzüge, die soviel menschliches Glück und Elend mit ihren gleichförmigen Fassaden decken.

Wir betreten an einem naßkalten Novemberabend den von flackernder Gasflamme erleuchteten Hausflur, steigen drei schmucklose Treppen hinauf, welche offenbar den Unterschied zwischen Herrschafts- und Dienstbotenfüßen nicht kennen, öffnen mittels des bekannten Autorenhauptschlüssels die braunlackierte Vorthür mit dem kleinen blankgeputzten Messingschild, sehen noch mit einem Blick, wie gut auf dem Vorplatze der sparsame Raum ausgenutzt ist, wie große und kleine Ueberzieher, Hüte und Schirme in strenger Ordnung dahängen, und dazwischen ein hübsches Spiegelgestell dem Ganzen eine gewisse bescheidene Eleganz verleiht. Dann machen wir leise die Thüre auf und treten in das behaglich erwärmte Wohnzimmer.

Von der Decke hängt eine große Schirmlampe nieder und ergießt einen hellen Lichtkreis auf den runden Tisch und die darum gereihten blonden und braunen Köpfe. Es ist merkwürdig stille im Zimmer, die Kinder beugen sich lesend und lernend über ihre Bücher, die Mutter schreibt einen Brief, „ausnahmsweise," wie sie zu sagen pflegt, wenn ein später Besucher sich zu dieser Stunde noch einfindet.

Aber das ist nicht ganz wörtlich zu nehmen. Frau Emmy gehört nicht zu denjenigen, welche über Kochlöffel und Nähmaschine die Schreibfeder vergessen; ihrer lebhaften Natur war allezeit Mittheilung Bedürfniß, und so wie sie selbst an dem Schicksal ihrer fernen Freunde aufs eingehendste theilnimmt, so erzählt auch sie brieflich leicht und gern von allem, was Haus und Herz bewegt. Wie sie so dasitzt, den gesenkten Kopf mit dem kleidsam aufgesteckten Blondhaar über das Papier gebeugt, sehen ihre Züge noch jugendlich und hübsch aus. Die Figur ist fraulich gerundet, wie es der Mutter heranwachsender Kinder zukommt, aber nicht soviel, daß man die ursprüngliche Schlankheit verkennen könnte.

Jetzt schlägt sie zwei schöne braune Augen von dem Blatt in die Höhe. Der Brief an eine Berliner Freundin, der erste nach längerer Zeit, ist bis zu der Stelle gediehen, wo eine Charakteristik der Kinder und ihrer Entwicklung dringend geboten erscheint.

Emmy wirft einen prüfenden Blick auf ihre Aelteste, die dreizehnjährige Elisabeth, deren rundes Gesichtchen sich allsogleich wie unter einem magnetischen Einfluß vom Buche emporhebt ... Nein – „apart“ kann man sie wirklich nicht nennen, das muß sich Emmy wieder einmal gestehen, obwohl gerade so ungern wie alle vorhergehenden Male. Sie wäre so glücklich über eine „eigenartige“ Tochter, über eines von jenen Wesen mit unergründlich dunkeln Augen und Wimpern unter einem Wald von köstlich hellblonden Haaren, deren Fülle, nur mühsam gebändigt, in schweren Zöpfen den Kopf umgiebt oder auch in großen Wellen von den Schultern zum Gürtel herabfließt, nicht zu vergessen die „goldenen eigensinnigen Löckchen, welche sich jeder Bürste zum Trotz um Stirn und Nacken krausen“ – eines jener Elfenkinder, die in Romanen so häufig wachsen, dagegen in den mittleren Schulklassen so merkwürdig selten anzutreffen sind. Bei Elisabeth kraust sich nichts um die blanke runde Kinderstirn und von Elfenart ist an ihrem wohlgenährten Persönchen nicht das Geringste zu spüren.

Zwischen festen rothen Backen schaut ein kleines Stumpfnäschen heraus, die blaugrauen Augen sind weder groß noch unergründlich, und um den im Rücken hängenden strohblonden Zopf zu „bändigen“, hat es sicher keiner großen Gewalt bedurft.

So steht das „Aparte“ der äußeren Erscheinung auf schwachen Füßen, aber auch das Innere will sich nicht so eigenartig entwickeln, wie Emmy es ums Leben gern hätte. Keine plötzlichen Einfälle, welche die Besucher in Erstaunen setzen, keine Neigung, auf Dächer und Bäume zu klettern, um sich dann von einem sechzehnjährigen Nachbarssohn herunterbeschwören zu lassen und erst recht nicht zu kommen – nein, von alledem ist in Elsbeth keine Spur. Schlicht und recht, ein braves Schulkind, geht sie dahin und den Buben aus dem Wege, denn von dieser Sorte hat sie an den zwei Brüdern übergenug. Sie erröthet stark und macht ein linkisches Knixchen, wenn sie im Salon der Mama Fremden die Hand geben muß – weiter weiß niemand etwas von ihr zu melden.

„Sie ist ein braves, liebes Kind, welches uns viele Freude macht –“ Emmy, auf die wieder ins Buch vertiefte Elsbeth blickend, findet mit einem leisen Seufzer, daß hiermit der Wahrheit Genüge geschehen sei, setzt also einen Punkt, wo sich doch gar zu gern ein schmückender Nachsatz ihrer Feder entrungen hätte.

Und Fritz, der Zwölfjährige – „bedeutend“? ... Nein – bedeutend kann man auch ihn nicht nennen, den braunen kurzgeschorenen Kopf mit der schmalen Stirn und den nüchtern blickenden Augen. Diese gleichen in der Form denen ihres Gatten, aber sie haben nicht soviel Glanz und Lebhaftigkeit – natürlich, die armen Kinder werden ja so mit Schularbeit überbürdet, daß ihnen die Frische zeitig vergeht!

„Geistige Interessen“? Ja wohl, die hat er, nicht gerade für die lateinische Grammatik, aber für Naturwissenschaft. Den Anfangsgründen von Physik und Chemie in Gestalt von Knallerbsen und bengalischen Lichtern hat er schon manches Zehnpfennigstück geopfert, auch eine wirklich genial ausgedachte telephonische Leitung aus Bindfäden und Schachteldeckeln hat er konstruiert. Elsbeth und die Köchin können bezeugen, daß man „es“ im Anfang ganz deutlich hörte; als der Papa dazu kam, versagte freilich die Leitung und Fritz verlor die Lust, ein zweiter Edison zu werden. Er warf sich auf die Geographie und ist bereits beim sechsten Band Jules Verne angelangt. Seine ganze Seele befindet sich in diesem Augenblick „zwanzigtausend Meilen unterm Meer“ bei dem geheimnißvollen Kapitän Nemo, und während der seltenen Besinnungspausen, die ihm das athemlose Durchrasen des Buches gestattet, fragt sich Fritz in höchster Spannung, wie nur der unglückliche Reisende schließlich wieder ans Tageslicht gelangen werde? Denn daß er dies thut, hat ihm ein beruhigender Blick auf die letzte Seite gezeigt.

„Ein gescheiter Junge“ – ja, das kann das mütterliche Gewissen verantworten, und nun geht die Feder rasch an Moritz, dem Achtjährigen, vorbei, an dem wirklich außer einem eifrigen Schling- und einem vorzüglichen Verdauungsapparat nichts Besonderes hervorzuheben wäre, und verweilt bei dem „süßen kleinen Ding, unserem Goldmäuschen Maja.“

Ein zärtlicher Blick fliegt über den Tisch, taucht in die runden großen Kinderaugen wie in zwei Brunnen der Begeisterung, und die Feder der glücklichen Mutter ergeht sich in begeisterter Schilderung ihres Lieblings: „Dein Pathchen, meine Herzensmarie, hat braune Kraushaare und köstliche dunkle Augen, dazu ein süßes Gesichtchen mit dem unschuldig staunenden Ausdruck, der die kleinen Kinder so entzückend macht. Maja ist für ihre drei Jahre merkwürdig überlegt, plaudert herzig und geht als allgemeiner Liebling unter uns umher. Besonders Hugo ist geradezu verliebt in dieses Nesthäkchen, dessen Ankunft ihm damals so gar überflüssig erschien! Das ist nun ein großes Glück, denn im übrigen hat er manchmal Stunden der Entmuthigung, wenn er an die Zukunft denkt – viere sind ja auch ein bißchen viel für unsere Verhältnisse! und es kommt noch so mancherlei dazu! Dir will ich es ganz im Vertrauen sagen, meine Marie, er hat manchmal das Gefühl, an höherer Stelle nicht nach seinem vollen Werth geschätzt zu werden. Und hierin kann ich ihm nicht unrecht geben.

Als wir vor acht Jahren hierher kamen, war der Minister ungeheuer freundlich gegen ihn; es wurde uns gesagt, die Excellenz beabsichtige, Hugo als Referenten ins Ministerium hereinzuziehen, [19] für eine spätere höhere Laufbahn, und ich muß wirklich sagen, daß es ihnen bei dem Mangel an fähigen Köpfen nur gut thun könnte, einen Mann von Hugos geistiger Bedeutung zu haben.

Hugo sollte unbedingt an einen einflußreicheren Posten, er ist ganz dazu gemacht und sitzt nun in dem ewigen Einerlei der Bureauarbeit, welche einen Geist wie den seinigen ermüden muß. Da ist es denn kein Wunder, wenn er manchmal verstimmt ist.

Alles dies ganz unter uns, liebe Marie! Es ist der einzige Schatten, der manchmal in unser Glück fällt –“

Ein kräftiges bestimmtes Klopfen an der Zimmerthür unterbrach den angefangenen Satz.

„Das ist Tante Linchen,“ rief Moritz zugleich mit dem „Herein!“ seiner Mama.

In der geöffneten Thür stand eine große breite Frauengestalt, deren braunrothe Wangen unter einem sturmgeprüften Filzhut hervorschienen. Der Schatten eines Bärtchens lag auf der keineswegs zierlichen Oberlippe, und eine stattliche Habichtsnase wölbte sich darüber her.

„Richtig, da sitzt ja das ganze Lesekabinett wieder beisammen,“ sagte sie bedächtig mit einer männlich tiefen Stimme. „Ihr seht aus wie das Titelbild eines neuen Familienblatts, das ich neulich sah, wo alles liest, das Ehepaar, die Schuljugend, die Kindsmagd und das Wickelkind, während ringsherum die Bäume umsonst blühen. Ist das eine Zeit!“

Sie hatte während dieser Rede ihren Mantel und den alten Rembrandthut mit der verregneten Feder auf die Diwanecke geworfen und zeigte nun ihre starke Figur in einem Kleide von grobem Wollstoff, welches offenbar der Zweckmäßigkeit größere Rechnung trug als der Schönheit. Auf Schönheit ging Fräulein Linchen in richtiger Selbsterkenntniß überhaupt nicht aus.

„Wem der Herrgott so ein Gesicht gegeben hat wie mir, der braucht nicht viel Zeit, um in den Spiegel zu gucken,“ sagte sie gemüthsruhig.

Aergerlicher war ihr die aus Versehen im Laufe der Jahre stehen gebliebene Verkleinerungsform ihres Namens, welche so wenig zu dem Großfolioformat ihrer Persönlichkeit passen wollte. Aber Namen haften bekanntlich fest, und wer einmal von zwei Geschlechtern „Linchen“ genannt worden ist, der bringt’s bei dem dritten zu keiner „Lina“ mehr, geschweige zu einer „Karoline“!

Doch auch dies focht sie nicht allzu sehr an, die treffliche Künstlerin, wenn sie vor ihrer Staffelei saß und unermüdlich das menschliche Angesicht nach seinen verschiedenen Gestalten und Farben auf die Leinwand brachte. Ihre Porträts schmeichelten nicht – „das hat man der Natur gegenüber nicht nöthig“, pflegte sie zu sagen – aber sie waren frisch und tüchtig gemalt und fanden stets guten Absatz.

So genoß Fräulein Karoline Wiesner eine angenehme Unabhängigkeit, die sie dazu verwendete, ihr eigenes Leben zu gestalten, wie sie Lust hatte, ihren Freunden die Wahrheit zu sagen und durch samaritanische Nächstenliebe die Wunden wieder zu heilen, welche ihre furchtlose Zunge gelegentlich der Eitelkeit ihrer Nebenmenschen schlug. An Emmys heiterem Wesen hatte sie gleich von Anfang an Gefallen gefunden, sich dann ernsthaft mit der jungen Frau befreundet und auch von Herzen gern die Tantenwürde bei ihren Kindern übernommen. Da sie mit Walters im gleichen Hause wohnte, kam sie oft abends beim Heimweg vom Atelier für eine Stunde herein und war ein von groß und klein gerngesehener Gast.

„Nun sagt mir einmal, ihr armen Kinder,“ fuhr sie in ihrer Rede fort, „was ihr an den vertrakten Büchern habt, daß ihr euch kurzsichtig und stumpfsinnig daran lest? Wißt ihr denn mit euren Freistunden nichts Besseres anzufangen? Da heißt es immer: ‚die Kinder müssen ihre Augen mit den Schulaufgaben so sehr anstrengen!‘ Jawohl, wenn sie mit denen fertig sind, so setzen sie sich hin und lesen freiwillig weiter, bis sie Lustigkeit und gute Einfälle darüber verlieren und hinterher doch nichts von dem behalten, was sie gerade verschlungen haben.“

Die drei Großen sahen verwundert in die Höhe. Klein Maja, die nur begriffen hatte, daß vom Lesen die Rede war, und sich gerne zeigen wollte, legte sich mit dem halben Leib über ihr Oskar Pletsch-Buch auf den Tisch, fuhr mit den Fingerchen über die Zeilen und sprach feierlich:

„Nein, für Ypsilon und Itts
Weiß ich, Tinder, wahrlich nitts.“

„Na, da haben wir’s ja,“ rief Tante Linchen mit lautem Lachen „Komm, Du kleiner Spitzbub’, gieb mir einen Kuß! Du thust ja doch nur so, bist noch rein von dem Leselaster!“

„Aber was sollen wir denn sonst anfangen?“ wendete nun Fritz ein, indem er behutsam und voll geheimer Hoffnung den Finger auf die Stelle schob, die unvergleichlich spannende Stelle, aus welcher ihn Tante Linchen herausgerissen hatte. Vielleicht ging es doch mit einer kurzen Predigt ab und sie verzog sich bald wieder!

„Was Ihr thun sollt? Springen, Herumlaufen. Spektakel machen!“

„Hier?“ fragte Moritz, indem er mit seinen kurzen und schwärzlichen Fingern einen Kreis über das porzellangeschmückte Buffet, den Blumenständer und das japanische Theetischchen beschrieb.

„Hast recht, Junge, hier in dem schönen Eßzimmer ist’s freilich unmöglich, aber warum habt Ihr denn nicht ein ganz einfaches Kinderzimmer, Emmy?“

„Rechne doch nach, Linchen! Sechs Zimmer haben wir, zwei davon sind Schlafzimmer der Kinder, eines brauchen wir. Bleibt noch Hugos Studierstube, Salon und Eßzimmer, in welchem sie abends sein müssen, damit die Luft in ihren Schlafräumen frisch und rein ist.“

„Die Hygieine!“ seufzte Fräulein Karoline, „die unglückliche Hygieine, die zu meiner Zeit noch nicht erfunden war! Wie viel besser hatten wir es in dem kleinen Wolframszell! Da wies unsere Kinderstube – Schnurrenhöhle nannten wir sie – vier gelbgetünchte Wände auf, an welchen die Betten standen, in der Mitte einen gescheuerten Tannentisch, sechs Hocker ohne Lehne darum her und einen Schrank für Lern- und Spielsachen. Das war die Ausstattung. Mit den Hockern machte man Eisenbahn und Extrapost, auf dem Tisch wurden erst die Aufgaben geschrieben und dann gekocht, gepappt, geschnitzt und gemalt; an die Wände schrieb und zeichnete man alles, was einem über die Geschwister einfiel –“

„Das muß lustig gewesen sein,“ sagte mit glänzenden Augen der dicke Moritz, der sich zusehends für dieses Erinnerungsbild erwärmte.

„Und alle paar Jahre einmal erschien der Tüncher und putzte die ganze Chronik herunter. Dann fing man wieder von vorne an; über die erste Inschrift wurde gezankt, dann kamen immer mehr, und zuletzt mußte die Mama selbst lachen über all den Unsinn,“ schloß Tante Linchen ihren Bericht.

„Ihr habt überhaupt viel mehr ‚thun dürfen‘ als wir,“ seufzte Moritz mit verhaltener Entrüstung.

„Aber auch viel mehr Prügel dafür bekommen, mein Sohn, wenn’s übel ausging.“

„O Tante!“ rief er begeistert, „lieber mehr Prügel und nur nicht so ‚fein‘ sein müssen!“

„Nun ist’s genug,“ warf die Mutter dazwischen, „Du machst mir ja die Bande ganz aufrührerisch! Komm lieber da hinein“ – sie öffnete die Thür in den Salon – „daß man ein ungestörtes Wort zusammen reden kann.“

„Ja, Du hast recht,“ erwiderte Fräulein Linchen, während sie mit zwei großen Schritten über die Schwelle war. „Kinder müssen nicht alles hören. Allein deswegen ist doch wahr, was ich sagte!“

Emmy ergriff ihre beiden Hände. „Wenn Du wüßtest, wie schwer es ist, Kinder zu erziehen in einer großen Stadt, eingeengt durch die Verhältnisse, mit schmalen Mitteln, über die man nicht hinaus kann, mit der steten Rücksicht auf andere –“

„Weiß ich, Kind, weiß ich!“ nickte das Fräulein gutmüthig. „Kann Dir sagen, daß ich deswegen Euch verheirathete Leute nicht beneide. Aber ich habe so meine eigenen Gedanken, wenn Du auch vielleicht meinst, die alte Jungfer versteht das nicht. Ihr vergrößert Euch die Schwierigkeiten selbst mit dem ewigen Streben nach Schick und könnt auf der andern Seite den Kindern zu wenig von dem erlauben, was ein Kinderherz freut. Glaubst [22] Du nicht, ein gut Theil Humor und Bescheidenheit des künftigen Menschen wächst unter dem von den Geschwistern überkommenen abgelegten Kleidchen? Was gewinnen denn die Kinder an dem vergleichenden Blick auf die andern ,Schultoiletten‘ und an dem Bewußtsein, eine den Begriffen der Klasse völlig angemessene Kleidung zu tragen? Nur jene frühzeitige ,Haltung‘ des Dutzendmenschen, dessen höchste Genugthuung darin besteht, genau so zu sein wie die andern! Und Du selbst, arme Emmy, wie mußt Du Dich an der Nähmaschine plagen, um all diesen Schick zur Saison fertig zu stellen! Es ist ja recht brav von Dir, daß Du’s thust, aber nimm mir’s nicht übel, ich fände es gescheiter, Du führtest die kleine Bande in unscheinbaren Kleidern an die Luft und kämest dann ausgeruht und vergnügt heim, statt daß jetzt am Abend Deine abgespannten Nerven nur nach Stille verlangen und deshalb die Lesebücher vorgenommen werden müssen.“

„Die Kinder gewinnen doch manche Anregung daraus!“

„Anregung! Siehst Du, das ist so ein Wort, welches ich auf den Tod hasse, das heißt auf deutsch: den Brei einem in den Mund schmieren, der noch keinen Hunger hat. Dem geistigen Magen bekommt das ebenso schlecht wie dem körperlichen, er wird überladen und unlustig vom vorzeitigen Essen. Ein tüchtiger Bub und ein gewecktes Mädel, die fühlen sich ganz von selbst ,angeregt‘, ihre Augen in der Welt aufzumachen. Und die dämlichen – die werden durch die schönsten Anregungen doch nicht gescheit, das ganze Gelese ist umsonst, sie könnten in der Zeit ’was Gesünderes thun!“

„Aber Linchen, Du wirst doch nicht im Ernst verlangen, daß man in unserer Zeit seine Kinder nicht lesen lassen soll?“

„Fällt mir gar nicht ein, nur Verdauung, richtige Verdauung ist nothwendig. Ein Buch, wohlgemerkt am Sonntag, nicht in jeder freien Werktagsstunde, und wenn das ausgelesen ist, nochmals lesen, weil man ihnen so geschwind kein anderes giebt, und dann sich hinterher einmal erzählen lassen, was drinnen steht, statt aus der Kinderbibliothek alle paar Tage einen neuen Band heimzuschleppen und durchrasen zu lassen! Auf diese Weise zieht man ja ordentlich die öden und gedankenarmen Menschen!“

„Nun,“ erwiderte Emmy mit einem verdächtigen Zucken der Mundwinkel, „es thut mir leid, wenn Dir meine Kinder so öde und gedankenarm vorkommen, ich habe davon freilich bis jetzt nichts bemerkt.“

„Ja, wenn Du anfängst, übelzunehmen, dann wollen wir das Gespräch aufstecken! Die empfindlichsten Künstler sind doch die Eltern, sie vertragen eine Kritik ihrer Erziehungswerke durchaus nicht, selbst wenn sie ganz allgemein gehalten ist. Na, gute Nacht denn!“

„Nein, nein, Linchen!“ bat Emmy und hielt die Freundin fest, „es war nur so eine Anwandlung. Ich kann die Wahrheit ertragen. Sage mir nur alles, was Dir an meinen Kindern unangenehm auffällt!“

„Ich sprach gar nicht von den Deinen im besonderen. Sie sind ja ganz ordentlich und hören, wenn auch mit Ueberwindung, zu lesen auf, wenn man ins Zimmer hereinkommt. Das ist anderswo nicht der Fall, bei Hoffmanns z. B. lesen die nach freiheitlichen Grundsätzen erzogenen Söhnlein ruhig weiter, ohne den Besuch zu beachten. Die Mama fühlt wohl die Unschicklichkeit, wagt aber nicht, ihnen das zu wehren bei der großen Selbständigkeit, welche die jungen Herren zur Freude ihres Vaters gewonnen haben. Nein, da sind die Deinigen von ganz anderem Holze!“

„Und doch möchtest Du sie anders haben!“

„Nicht sie möchte ich anders haben, sondern theilweise die Umstände, unter welchen sie aufwachsen. Ich möchte sie trotz der Großstadt und ihren Uebeln zu frischen Menschen werden sehen, bei denen die Phantasie auch ihr Theil abkriegt, nicht immer nur das verstandesmäßige Denken. Weißt Du, was ich thun würde, wenn ich an Deiner Stelle wäre, Emmy?“

„Nun?“

„Dann würde ich zuerst den Bücherschrank und den japanischen Tisch und die Goldfische aus dem Eßzimmer hinüberstellen in des Herrn Landgerichtsraths Stube. Er ist doch nicht jeden Abend drin?“

„O nein,“ erwiderte Emmy ein wenig gepreßt, „er geht jetzt fast regelmäßig abends aus. Nach der ermüdenden Bureauarbeit, die dem Geist ja gar nichts bietet, bedarf er dringend der Erholung und Anregung. Ich muntere ihn selbst dazu auf.“

Auch Anregung!“ dachte Fräulein Karoline und sah Emmy einen Augenblick prüfend an. „Nun,“ fuhr sie dann in leichtem Ton fort, „also hinüber mit den Sachen, oder auf den Speicher, wenn’s nicht anders geht! Und dann würde ich aus dem Eßzimmer eine helle, gemüthliche Kinderstube machen und mich abends mit den Vieren um den runden Tisch setzen, aber nicht zu einem Lesekabinett. Sie müßten mir bei allerhand leichter Handfertigkeit ihre Augen ausruhen lassen, und dann würde ich ihnen erzählen, Geschichten und Theaterstücke und Jugenderinnerungen, wobei man sich zur Aneiferung immer fünfzig Prozent braver machen kann, als man wirklich war; dann müßten sie mir Räthsel rathen und aufgeben, dadurch wird der Verstand viel aufgeweckter als vom Geschichtenlesen, oder man fängt mit einer Knittelverszeile an und der nächste muß mit einem Reim weiterspinnen und so fort, je lustiger je besser. Es giebt ja tausend solche Spiele, die zugleich Beschäftigung sind und die man nicht immer erst hervorzuholen braucht, wenn ,Gesellschaft‘ da ist. Das Beste dünkt mich hier für den Hausgebrauch gerade gut genug. Soll aber doch einmal gelesen werden, so gieb einem der Großen ein Buch und laß vorlesen. Auch das ist eine Kunst, die heutzutage in Vergessenheit geräth, gerade wie das Erzählen. Und wie ganz anders wirkt doch das lebendige Wort auf die Kinder als das gelesene! Sie sind ja glücklich darüber und verlangen stets nach mehr! – Siehst Du, Emmy, so ging es in unserer Kinderstube zu, es sind tüchtige Menschen darin aufgewachsen, die heute noch mit inniger Rührung an ihre goldene Jugend denken und an die kluge gütige Mutter, aus deren Hand sie jene empfingen.“

„Auf diese Art käme man eigentlich gar nicht mehr zu sich selbst,“ sagte Emmy nach einer kurzen Pause. „Ich bin immer froh, wenn sie beschäftigt sind, damit ich auch einmal etwas lesen oder schreiben kann.“

„Du kannst sie ja früh zu Bett schicken, aber im übrigen, liebe Emmy, nimm es mir nicht übel: wer vier Kinder hat, der darf, glaube ich, zehn Jahre lang nicht in solcher Weise an sich denken. Vier Menschen fürs Leben erziehen, das ist ein so gewaltiges Geschäft, daß es mir ordentlich davor graust!“

„Wenn alle Leute das so schwer nehmen wollten –“

„Dann gäbe es viel weniger unvernünftige, schlecht erzogene und unnütze Menschen auf dieser Welt, davon bin ich überzeugt. Aber das trifft Dich ja nicht, Du bist eine gute und sorgsame Mutter, nur in dem einen Punkt würde ich es anders machen.“

Emmy saß nachdenklich da, sie fühlte etwas Wahres aus den Worten ihrer aufrichtigen Freundin heraus, zugleich aber fragte sie sich, was für Gesichter wohl ihre Bekannten machen würden, wenn sie plötzlich ihr reizendes Eßzimmer so vereinfachen wollte! Gerade daraus hatte sie sich bisher einen besonderen Stolz gemacht, daß man ihm die Kinderstube nicht ansah, die es eigentlich war. Aber allerdings – wie viel Wehren und Ermahnen hatte es auch gekostet, um das durchzusetzen! – Sie erinnerte sich, sogar von Hugo ein paar anzügliche Bemerkungen darüber gehört zu haben ...

„Es ist doch recht schwer, ein moderner Mensch zu sein!“ in diese Worte faßte sie schließlich das Ergebniß ihrer Betrachtungen zusammen.

„Gerade im Gegentheil!“ meinte lachend die Künstlerin, „es ist sehr bequem, man macht sich alle modernen Erfindungen und Künste zu nutze, wenn man sie brauchen kann, und schließt im übrigen vor dem nervösen Zeitgeist hübsch die Thür zu. Mache ich’s nicht immer so? Und kommt Ihr nicht mit vielem Vergnügen in meine ,paradiesische Einfachheit‘ da oben? Uebrigens ...“ rief sie plötzlich wie elektrisiert, „ich vergesse ja über unserm Gerede ganz, warum ich heute abend da bin, ich wollte Dir erzählen, daß sie zu mir kommt, daß ich sie malen darf!“

„Wer ist ,sie‘?“

„Vilma von Düring, das reizende Geschöpf!“

„Die allerliebste Katze!“

„Siehst Du, Emmy, hier bist Du ganz abscheulich ungerecht. Du hast geradezu ein Vorurtheil gegen Vilma!“

[23] „Ich habe sie als Kind gekannt und glaube nicht, daß ihr damaliger Charakter sich unter der Erziehung dieser Mutter sehr verändert hat.“

„Die Alte gebe ich Dir preis, die ist, unter uns gesagt, auch mir äußerst zuwider mit den steten Lobpreisungen ihrer Töchter und der offenkundigen Männerjagd. Die Mädchen leiden auch sehr darunter …“

„Paula – ja, das glaube ich, weil ihrer wahrhaftigen Natur die vielen Lügen ein Greuel sind. Gott weiß, wie das Mädchen in die Familie kommt! Vilma aber und Hedy, der vielversprechende Backfisch, finden es nur unklug von der Mama und haben deshalb manchmal Bescheidenheitsanfälle. Nun, ich will Dir Deine Begeisterung nicht stören, hübsch ist sie ja, die blonde Vilma, das muß ihr der Neid lassen, und für Euch Künstler genügt das.“

Linchen wollte eben lebhaft erwidern, als draußen die Glocke gezogen wurde und der Schritt des Hausherrn im Vorplatz erklang. Sie erhob sich zum Gehen.

„Bleibst Du nicht noch ein wenig?“ fragte Emmy. „Es erheitert Hugo immer so sehr, mit Dir zu plaudern.“

Doch Linchen entschuldigte sich mit dringender Arbeit. Frauen erheitern, die armen Opfer männlicher Tyrannei, o ja, das that sie gern, aber Männer, denen es ohnehin schon viel zu gut in dieser Welt ging – nein, die sollten sich nur selbst aufheitern, dafür opferte sie keine Viertelstunde ihrer kostbaren Zeit. Und so enteilte sie nach ein paar rasch gewechselten Begrüßungsworten gegen den Herrn Rath und war schon oben in ihrer bescheidenen Wohnung angelangt, als dieser im Hausrock zu seiner Frau ins Zimmer trat.


2.

Der Landgerichtsrath machte für seine zweiundvierzig Jahre immernoch einen jngendlichen Eindruck. Zwar schimmerte hier und da durch seine dichten dunkeln Kraushaare ein silbernes Fädchen, aber die braunen Augen blickten lebhaft, manchmal sogar mit einer durchdringenden Schärfe, und seine Bewegungen waren rasch und leicht. Das freundliche Lächeln freilich, welches in jugendlichen Jahren so charakteristisch für sein hübsches Gesicht war, schien jetzt seltener geworden zu sein, dagegen vertiefte sich um den Mund ein gewisser Verdrießlichkeitszug, wie er sorgenvollen Hausvätern zukommt und würdig ansteht. Emmy pflegte jetzt nach diesem Zuge zuerst zu spähen, wenn Walter das Zimmer betrat.

Und heute war er unleugbar vorhanden. Ihr Gatte wandelte nach kurzer Begrüßung schweigend im Zimmer auf und ab wie ein Mann, der einen Theil des Weltlaufs als persönliche Beleidigung empfindet. Emmy häkelte fleißig an einer bunten Decke, sie erwartete in solchem Fall gerne sein erstes Wort.

„Schmidt ist vortragender Rath geworden,“ brach Hugo endlich das Schweigen.

„Ach!“ fuhr Emmy auf, „wie ist das möglich? Schmidt ist ja jünger als Du!“

„Und was thut das? Deswegen kann ihn der Herr Minister doch begünstigen.“

„Wie ungerecht! Schmidt ist doch gar kein besonderer Kopf!“

„Aber ein ausgezeichneter Streber, mein Kind, einer von denen, die es weit bringen, weil sie es verstehen, sich bemerklich zu machen. So muß man sein, das ist die richtige Sorte für die große Carriere!“

„Nun, laß gut sein, Hugo!“ tröstete Emmy, die rasch aufgesprungen war, seinen Arm ergriff und jetzt mit ihm den Spaziergang durchs Zimmer fortsetzte. „Du kannst noch nicht von Zurücksetzung sprechen, bist ja noch jung für Deinen Posten.“

„Ja, wenn mein Ehrgeiz nicht weiter geht, als im Kollegium grau zu werden wie so viele andere, dann habe ich mich allerdings nicht zu beklagen. Ich hatte Besseres gehofft, freilich vergebens, wie ich jetzt sehe …“

„Es wäre eine Auszeichnung gewesen,“ stimmte kleinlaut Emmy bei, „und ich hätte sie Dir sehr gegönnt, lieber Mann. Doch, was thut’s,“ fuhr sie wieder muthig werdend fort, „wir sind auch so glücklich und vergnügt. Etwas mehr Geld freilich könnte nichts schaden –“

„Gewiß,“ bestätigte Hugo sarkastisch, „drüben auf meinem Schreibtisch liegt ein Pack Rechnungen, der diesen Satz glänzend belegt.“

„Es waren lauter nothwendige Anschaffungen für die Kinder, Hugo!“ sagte sie mit leisem Vorwurf.

„Weiß ich, liebes Weib“ – er zog sie an sich und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. „Ich weiß auch, daß Du alles so gut eintheilst als möglich. Aber steigende Bedürfnisse und gleichbleibende Einnahmen, das reimt sich schlecht. Wir werden einmal nach einheitlichem Grundsatz ans Sparen denken müssen, mit den einzelnen Anläufen ist es nicht gethan.“

„Gerne, Hugo,“ erwiderte Emmy, „wir wollen uns gleich daran machen, ich hole meine Bücher, wir haben gerade noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen.“

„Nun, das eilt ja nicht so,“ meinte er etwas unlustig, doch Emmy, froh, die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen zu können, enteilte und kam bald mit Haushaltungsbuch und Tintenfaß wieder. Dann saßen sie rechnend und vergleichend eine Zeitlang über das Buch gebeugt, das, nach Rubriken geordnet, eine leichte Uebersicht gestattete.

„Und das wäre also wirklich alles, woran wir sparen könnten?“ nahm endlich Hugo kopfschüttelnd das Wort. „Eine billigere Wohnung in schlechtem Stadtviertel, eine geringer bezahlte Magd, die nicht kochen kann und Abbrechen am täglichen Tisch? Das letztere besonders scheint mir ganz falsch, denn die Kinder sind im Wachsen und brauchen eher mehr als weniger. Was wollen auch schließlich die paar hundert Mark sagen, die dabei herauskommen!“

„Nun, zu verachten sind sie nicht, aber allerdings – die Ersparniß ist nicht groß.“

Eine Pause entstand. Hugo ging wieder mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Endlich sagte er, stehen bleibend:

„Ist es nicht sonderbar? Wir haben mehr als so viele, die auch durchs Leben kommen müssen, wir haben dazu den guten Willen, uns einzuschränken, und bringen es trotzdem zu keinem nennenswerthen Erfolg.“

„Ich habe auch schon die Tage her viel darüber nachgedacht,“ entgegnete Emmy, „und weißt Du, worauf ich gekommen bin?“

„Nun?“

„Wirksam sparen könnten wir nur, wenn wir uns entschließen würden, unser ganzes Verhältniß um einen Grad herunter zu setzen, alle unsere Gewohnheiten und Ansprüche. Wenn jedes einzelne billiger beschafft und auf manches völlig verzichtet wird, dann muß zuletzt im ganzen etwas herauskommen. Aber wir müßten dann freilich auch den Muth finden, dies unsern Bekannten einzugestehen.“

„Warum nicht gar,“ brauste Hugo auf, „uns selbst um die gesellschaftliche Stellung bringen, die heutzutage alles ist!“

„Ist sie denn wirklich etwas so Großes, daß man solche Opfer für sie drangeben muß?“ fragte Emmy nachdenklich. „Oder meinen wir am Ende nur, es müßte so sein? Sieh, Hugo, wir leben eigentlich immer im Hinblick auf andere. Ich thu’ es ja auch, ich weiß es, und die Aenderung wird mir schwer genug fallen, aber ich muß sagen, die viele Heuchelei, die in unserm Leben ist, fängt an, mich zu drücken. Wir sind im Grunde ganz kleine Leute, und doch wollten wir lieber hungern als einen uneleganten Anstrich haben – das ist eine fürchterliche Schwachheit. Wir schrauben uns immer höher und höher, der ‚Welt‘ zuliebe, und diese Welt besteht genau genommen aus einer handvoll Menschen, die ebenfalls recht froh wären, wenn sie eingestehen dürften, daß es ihnen gerade so geht wie uns. Und alle wissen das voneinander, aber niemand findet den Muth, zu sagen: von heute an giebt es, wenn meine Freunde zu mir kommen, einen Braten ohne Vor- und Nachspeisen oder einen einfachen kalten Aufschnitt zum Salat, wie ihn jeder an seinem eigenen Tisch vergnügt und zufrieden ißt, bei seinen Freunden jedoch durchaus nicht essen darf! Wir, Du und ich, stehen jetzt geradezu vor der Wahl, entweder auf Geselligkeit, wie sie in dieser Stadt üblich ist, zu verzichten, weil sie zu kostspielig wird, oder unsere Bewirthung so einzurichten, daß sie unsern Verhältnissen entspricht.“

„Ich möchte Dein Gesicht sehen, Emmy, wenn Du den Geheimrath Hoffmann zu Schinken und Butterbrot eingeladen hättest!“

[24] „Vielleicht ginge es über meine Kraft, sein Gesicht dabei zu sehen. Aber wo steht es geschrieben, daß wir gerade den Geheimrath wieder einladen müssen?“

„Nun, da hast Du es ja – dann sinken wir eben aus der gesellschaftlichen Höhe um eine Stufe herunter. Nein, das geht nicht, man kann sich nicht ausschließen. Wir leben eben einmal in dem, was unsere Welt ausmacht, und müssen einigermaßen an der Oberfläche bleiben – schon um der Kinder willen! Man sollte sich eigentlich, so lange sie klein sind, vorsätzlich mit lauter reichen Leuten befreunden, damit diese und ihre Kinder dann später den Erwachsenen wirksame Hilfe zum Fortkommen bieten können …“

„Hugo!“ Sie blitzte ihn voll Entrüstung an, worauf er ihr lachend die Hand hinstreckte. „Das ist Dein Glück, daß Du lachst, ich ließe mich wahrhaftig gleich von Dir scheiden, wenn das Dein Ernst wäre! Pfui, auch nur in Gedanken die Freundschaft so zu entheiligen!“

„Sie kann ja dennoch aufrichtig sein; mit reichen Leuten ist sie eben so gut möglich wie mit armen!“

„Aber oft nur unter schwierigen Umständen, denn Reiche brauchen zu häufig Schmeichler statt Freunde. Nein, davon sei mir nur ganz still, Du Spekulant, dessen sämmtliche Freundschaften keine Viertelmillion werth sind! Wir wollen unsere Kinder zu tüchtigen Menschen erziehen, die sich selbst ihr Fortkommen schaffen, statt nach reichen Freunden auszulugen, die ihnen doch nicht helfen können, wenn sie untüchtig sind.“

„Das hat man eben auch nicht so in der Hand, wie Du meinst. Die Erziehung allein macht keine guten Köpfe, da kommen zuerst die Anlagen in Frage. Sieh unseren Fritz an! Dachten wir nicht, das müsse ein genialer Junge werden? Und was ist er jetzt? Ein mittelmäßiger Kopf, der viel schlechter lernt als ich im gleichen Alter.“

„Dein Lernen wurde von einem sorgsamen Vater überwacht, der ganz seiner Familie lebte,“ sagte Emmy mit dem Gefühl eines Menschen, welcher, ein brennendes Streichholz in der Hand, sich dem Pulverfaß nähert.

„Was soll das heißen?“ fuhr Hugo auf, und sein Gesicht röthete sich. „Willst Du mir etwa damit sagen, daß ich ein pflichtvergessener Vater sei? Werden mir auch die paar Abendstunden Erholung nicht mehr gegönnt, die ich dringend brauche, wenn ich den ganzen Tag für meine Familie schaffe und arbeite?“

„Ach, Hugo, sei nicht gleich böse,“ flehte sie, „Du weißt, daß ich Dir alles gönne, was zu Deiner Erholung dient. Aber andererseits habe ich das sichere Gefühl, daß Du Dich um Fritz mehr annehmen müßtest, ich kann ja doch seine lateinischen Aufgaben nicht mehr nachsehen wie früher die deutschen Hefte. Er wird jetzt so zerstreut und nachlässig; wenn er ein paar Abende in der Woche drüben in Deinem Zimmer unter Deinen Augen arbeiten müßte, so würde er sich wohl anders zusammennehmen. Und dann –“ fügte sie zögernd hinzu. „fällt das abendliche Ausgehen ins Gasthaus doch auch unter die Reihe der entbehrlichen Ausgaben, von der wir vorhin sprachen.“

„Weiberlogik und kein Ende,“ brach nun Hugo erbittert los. „Weil der faule Schlingel nicht arbeitet, soll der Papa hübsch zu Hause bleiben und es ihm eintrichtern. Das wäre der richtige Weg, ihn vollends denkunfähig zu machen. Nichts da, den wollen wir auf andere Weise kurieren – Fritz!“ rief er hastig und öffnete die Thür nach dem Speisezimmer.

Fritz kannte offenbar diesen Ton. „Ja, Papa!“ erwiderte er, eilfertig hereinschießend.

„Sind Deine sämmtlichen Aufgaben für morgen gemacht? Ich sage säm-m-t-lich-e!“ Fritz schwieg betreten. „Nun?“ erklang es nochmals drohend, und Fritz stammelte. „Nur noch – die Mathematik –“

„So, und da sitzt Du und liest, als wenn alles in schönster Ordnung wäre – Du bist doch ein ganz pflichtvergessener Kamerad! Aber ich sage Dir: wenn bis Ostern nicht Deine sämmtlichen Noten gut sind – Du weißt, wie schlecht sie im Herbst waren – dann sollst Du mich kennenlernen! Denke daran, jeden Augenblick von jetzt an, und richte Dich danach! Und jetzt geh’ augenblicklich und hole die Aufgabe, Du bekommst nichts zum Nachtessen, bis sie fertig ist.“

Fritz, der nicht einsah, wieso dieses Unwetter ihm aus tiefem Frieden heraus plötzlich um die Ohren sausen konnte, zog sich einigermaßen verdonnert zurück. „Heut ist der Papa bös“, war seine Nutzanwendung gegen die erstaunt horchenden Geschwister, dann holte er seinen Schulranzen und begann zu arbeiten.

Drinnen im Salon sagte mittlerweile der Rath zu seiner Frau:

„Was ferner Deinen andern Vorwurf der Geldverschwendung betrifft –“

„Ach laß doch, Hugo,“ besänftigte sie, „das war ja nicht so gemeint.“

„Ich will es hoffen,“ sprach er majestätisch, „denn er wäre geradezu thöricht. So weit sind wir denn doch noch nicht, um mit den paar Groschen rechnen zu müssen, die ich allenfalls für mich gebrauche. Man kann das Sparen auch zu weit treiben, liebes Kind, und geräth dadurch in eine kleinliche Knickerei, zu welcher ihr Frauen hauptsächlich Anlage habt. Ich stimme jeder vernünftigen Ersparniß im großen zu, aber erlasse mir soviel als möglich von den Kleinigkeiten! Wenn ich in mein Haus heimkomme, will ich ein friedliches Behagen finden, nicht neue Verdrießlichkeiten nach den bereits ausgestandenen. Du verstehst das ja fertig zu kriegen, Emmy, bist ja klüger und praktischer als andere.“

Sie schwieg eine Zeit lang. „Ich will Dir einen Vorschlag machen,“ sagte sie dann, „der uns aller kleinlichen Ersparnisse überhebt; ich hielt nur bis jetzt damit zurück, weil er natürlich auch seine Schattenseite hat. Hier –“ sie holte einen Brief aus der Tasche und entfaltete ihn – „fragt meine Freundin Marie an, ob wir nicht geneigt seien, einen jungen Amerikaner, der hier studieren soll, bei uns aufzunehmen. Die Pension würde sehr reichlich bemessen sein, die Ansprüche des jungen Mannes dagegen nicht das übersteigen, was unser Haus bieten kann. Die Eltern legen den Hauptwerth darauf, daß er deutsches Familienleben kennenlernt.“

Hugo sprang auf und ging im Zimmer umher.

„Einen Fremden hier in unserer Häuslichkeit! Einen Amerikaner mit einer von der unseren völlig verschiedenen Bildung!“

„Hierin irrst Du. Er ist der Sohn einer Freundin von Marie, einer Deutschen, die in Boston an einen der ersten Professoren verheirathet ist. Dieser steht auch mit Deutschland in vielfacher Verbindung und stimmt dem sehnlichen Wunsche seiner [25] Frau bei, dem Sohne eine gute deutsche Bildung zu verschaffen. Ein Semester in Berlin, wo er viel in Mariens Hause verkehrte, hat der junge Francis bereits hinter sich, er spricht auch ziemlich gut deutsch, – Du siehst also, das Wagniß ist nicht so arg.“

„Hm – wir haben ja aber gar keinen Platz, wo wolltest Du ihn denn unterbringen?“

„Dafür ließe sich schon Rath schaffen. Im oberen Stock ist ein großes Mansardenzimmer zu haben. Dorthin kämen die Jungen, ihr jetziges Zimmer gäbe Deine Studierstube und die bisherige, die hübsch und elegant ist, stünde dann für den jungen Weston zur Verfügung.“

„Und immerfort diesen Menschen in unserem vertrauten Kreise, an unserem Tisch haben, kein ungestörtes Wort mehr mit den Kindern!“

„Den Kindern könnte es vielleicht recht gesund sein, sich bei Tisch und sonst aus Rücksicht auf den Fremden manierlich zu benehmen.“ versetzte Emmy, die sich infolge von Hugos Widerspruch zusehends für den Plan erwärmte. „Uebrigens soll der junge Mann ein guter umgänglicher Mensch sein. Marie hat ihn sehr gern und hält viel von seinem Charakter.“

„Einen Pensionär nehmen?“ wiederholte Hugo, hartnäckig seinen ersten Gedanken festhaltend. „Das heißt öffentlich eingestehen, daß man nicht mehr genug zu leben hat.“

Emmy fühlte mit dem Ahnungsvermögen der Frauen, daß hier endlich der Hauptgrund aus der Tiefe heraufstieg, sie erwiderte deshalb mit großer Lebhaftigkeit: „Aber Hugo, gerade in diesem Falle kann doch niemand an dergleichen denken. Wir betonen bei allen, daß es eigentlich ein Freundschaftsdienst ist, den wir Marien und den Eltern erweisen, daß wir gern die Gelegenheit benutzen, unsere Kinder Englisch lernen zu lassen …“

„Gut, gut –“ unterbrach sie ihr Gemahl, „daß es Dir an Gründen nicht fehlen wird, glaube ich. Wir wollen jetzt die Sache ruhen lassen und zu Tisch gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Am andern Abend schrieb Emmy an Marie: „Ich habe es bei Hugo durchgesetzt! Der junge Weston kann kommen, sobald er will, und schreibe seiner Mutter, daß ich über ihn wachen will, als ob er zu den Meinigen gehörte.“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 2, S. 58–63
[58]
3.

Das Atelier von Karoline Wiesner zeigte nichts von der pomphaften Dekoration, welche heutzutage auch die kleinere künstlerische Größe an ihre Umgebung zu wenden pflegt. Breit und viereckig, ohne jede Vorhangdraperie, hob sich das große Fenster mit seinem Scheibengitter gegen den bleigrauen Winterhimmel ab, Gobelins und Fußteppiche fehlten gänzlich; an den getünchten Wänden waren da und dort Studien angeheftet, auch wohl ein Arm oder ein Bein mit Kohle auf die Mauer gezeichnet. Das Mobiliar beschränkte sich auf ein paar Strohsessel, einen großen, mit Büchern und verstaubten Fläschchen und Farbentuben bedeckten Tisch, sowie auf einen wurmstichigen Großvaterstuhl in der Ecke, in dem die große Gliederpuppe, Toni genannt, ein beschauliches Dasein führte. Ihren haarlosen Kopf, der in verzückter Wendung nach oben gerichtet war, schmückte ein durchlöcherter Strohhut, die übrigen Glieder schlotterten unter einer Art Toga von grünem Glanzkattun hervor. Fräulein Linchen behandelte diese wattierte Armseligkeit mit der gebührenden Verachtung, aber mit der ganzen Zärtlichkeit ihres feurigen Herzens liebte sie den Bewohner der anderen Zimmerecke: ein Skelett von seltener Tadellosigkeit. Sie hatte seinerzeit fast gehungert, um es sich kaufen zu können, nun erfüllte sie auch der gesicherte Besitz mit stets neuer Wonne.

„Sehen Sie nur diesen Bau,“ pflegte sie zu sagen, „diesen herrlichen Brustkorb, die schlanken geraden Arme und Beine! Ja, die wahre Schönheit fängt eben doch erst beim Knochen an!“

„Rinaldo^ nannten Walters Kinder den stillen Mann, wegen eines vom Papa scherzweise ausgesprochenen Verdachts hinsichtlich seines Vorlebens und der Todesursache, die ihn in der Blüthe seiner Jahre der Anatomie überliefert habe – eine schnöde Unterstellung, welcher Fräulein Linchen stets durch den Hinweis auf seine gänzlich unverletzten Halswirbel entrüstet zu begegnen pflegte. Aber den klangvollen Namen hatte er behalten, und es kam gelegentlich vor, daß sie ihn selbst in Gedanken so nannte.

In diesem Augenblick stand sie in der Nähe des Fensters vor ihrer Staffelei, die Brille auf der Nase, eine große Malschürze umgebunden, die Palette und den Pinselbüschel in der Linken, und betrachtete zwischen eifrigem Arbeiten dann und wann voll Entzücken das Original ihres angefangenen Porträts, welches ihr gegenüber auf einer einfachen Erhöhung vor einem aufgespannten Vorhang saß. Zart und bestimmt wie eine geschnittene Gemme hob sich der jugendliche Mädchenkopf von dem dunklen Hintergrund ab. Hellblondes, glänzendes Haar, vom Nacken aufgenommen und oben in einen Knoten vereinigt, zeichnete, von da zur Stirn absteigend, in weichen Hebungen und Senkungen eine Umrißlinie, die entweder der Natur aufs wunderbarste gelungen oder einer sehr erfahrenen Kunst zu verdanken war. Das Gesicht mit dem kurzen Näschen und dem eigensinnigen hübschen Mund hatte mehr den Reiz des Pikanten als der wirklichen Schönheit, aber unbedingt erobernd strahlten daraus ein Paar wundervoller graublauer Augen mit schwarzen Brauen und Wimpern. Die letzteren sollten allerdings, nach Aussage von Vilmas Schulfreundinnen, erst mit ihrem sechzehnten Jahr und ganz plötzlich so dunkel geworden sein, aber Thatsache war nun einmal, daß sie dem zarten Gesichtchen einen eigenartigen Zauber verliehen, der den Beschauer fesselte. Wie sie so im Sessel lehnte, das hellbeleuchtete Profil etwas abgewandt, in der lässigen Stellung den reinen Linienfluß ihrer Glieder zeigend, wäre Vilma von Düring auch für unbefangenere Augen als die des guten Linchens ein reizender Anblick gewesen. Ein schwarzes Kleid, wie sie es mit Vorliebe trug, hob die helle Gesichtsfarbe und die goldene Haarpracht aufs vortheilhafteste hervor; das schmale Hälschen schimmerte durch einen schwarzen Tüllstreifen, der, zur großen duftigen Schleife gebunden, halb einen Strauß blasser Rosen verdeckte, welche Vilma als einzigen Schmuck angelegt hatte.

„Ich bringe und bring’s nicht heraus!“ rief plötzlich Fräulein Linchen in künstlerischer Verzweiflung und warf die Palette zur Seite.

„Was denn?“ fragte Vilma mit einem erstaunten Heben ihrer großen Augen.

„Ja, schauen Sie mich nur an! – Das Unbeschreibliche in Ihrem Gesicht meine ich, das, wofür das Wort Schönheit gar kein Ausdruck ist, obwohl man wieder keinen andern dafür anwenden kann. – Sehen Sie, in Ihrem Alter – ich kann wohl sagen, das gewöhnliche Hübschsein habe ich nie beneidet, weil es mir zu oft langweilig vorkam. Aber wenn es einmal der Natur so geglückt ist – dann sich sagen zu können: das bist Du selbst – Herrgott, das muß wohl schön sein! Sie sind ein Glückskind, liebe Vilma – so, ach, halten Sie den Kopf nur ein wenig so, ich glaube doch, ich könnte es am Ende noch herausbringen.“

Sie raffte die Palette auf und begann von neuem eifrig über die Leinwand zu streichen. Nach einer Pause sagte Vilma:

„So besonders glücklich fühle ich mich aber um meines Gesichtes willen, das Sie noch dazu sehr überschätzen, in keiner Weise. Zum Glück gehört doch viel, viel mehr, was man erleben muß, sich selbst nicht verschaffen kann!“

„Ja, ja, ich weiß – Verlobung und so weiter, ohne das thut es Ihr jungen Mädchen nun einmal nicht. Allein da haben doch Sie wahrhaftig die Wahl, während die andern armen Dinger warten müssen, bis sie gnädigst gewählt werden, um dann ihr Leben lang ihrem Pascha dafür dankbar zu sein!“

„Gewiß,“ sagte Vilma vorsichtig und gedehnt, „die Wahl hätte man ...,“ sie senkte für ein Paar Augenblicke die langen Wimpern: es log sich merkwürdig schwer dieser einfachen unabhängigen Seele gegenüber, die keinen Begriff von der Kette von Entbehrungen und geheimen Erniedrigungen hatte, womit Vilma und ihre Mutter das Leben in der Gesellschaft erkauften, von all den Anstalten und Hoffnungen und nachfolgenden Enttäuschungen, die den Hauptinhalt ihrer bisher erlebten fünf Ballwinter ausmachten. Nicht ihrer besten Freundin hätte Vilma gestehen mögen, wie wenig „Wahl“ sie bis jetzt gehabt hatte. Und nun war sie dreiundzwanzig Jahre alt, und die große Partie, von welcher seit ihrem achtzehnten die Mama träumte, wollte immer nicht erscheinen. O, welche Scenen sie manchmal miteinander hatten, daß ihre Schwester Paula angewidert aus dem Zimmer ging: Klagen, Vorwürfe, Heftigkeitsausbrüche, Thränen – ja, es war wohl der Mühe werth, sie vor andern glücklich zu preisen!

Aber das junge Geschöpf war längst gewohnt, derartiges in sich zu verschließen und mit dem kinderhaften Lächeln zu bedecken, das ihrem Gesichtchen so lieblich stand. Sie zeigte dieses Lächeln auch jetzt, als sie fortfuhr:

„Ich glaube, liebes Fräulein, Sie sind die wahre Glückliche unter uns. Niemand sieht Sie je schlechter Laune, Sie sind eine so zufriedene ...“

„‚Nebenfigur‘, wollen Sie sagen. Ja, das bin ich und darin liegt eben das Geheimniß meiner Zufriedenheit. Es können nicht alle Hauptfiguren sein; wer das früh erkennt und sein Leben auf ehrliche und tüchtige Thätigkeit einrichtet, dem geht es besser als denen, die immer nach einem großen Glück für ihre ausgezeichnete und werthvolle Person streben und darüber nicht einmal die Zufriedenheit erreichen, die jeder ordentliche Mensch in tüchtiger Arbeit finden kann. Es leiden heute gar zu viele an der ‚Ich-Krankheit‘ – die übertriebenen Romane, die jahraus jahrein gelesen werden, mit der dummen Ueberschätzung der Persönlichkeit tragen auch ihr Theil Schuld daran. Man sollte in jeder Schule, in jeder Familienstube eine Tafel aufhängen mit der Inschrift: ‚Du bist gar nichts Besonderes, gehe hin und arbeite fürs Ganze!‘ Das würde dem heranwachsenden Geschlecht gut thun.“

Die schöne Vilma hatte eine Empfindung, als ob ihr Fräulein Linchen einen Vortrag in chinesischer Sprache halte, und suchte ihn deshalb nach Kräften abzukürzen. Sie verfolgte beim Besuch dieses Ateliers einen ganz bestimmten Zweck, der nichts mit philosophischen Gesprächen zu thun hatte, und wollte ihn nicht aus den Augen verlieren. Also neigte sie das Köpfchen, sah die in Eifer gerathene Künstlerin schalkhaft an und sagte:

[59] „Aber die Liebe, Fräulein Wiesner, die große Angelegenheit, in der sich doch jeder gern als Hauptfigur fühlt?“

„Gehen Sie mir mit der! Das ist auch so ein Gethue von den Romanschreibern. Hauptsache im Leben! Es giebt andere Hauptsachen darin, die wichtiger sind und länger vorhalten. In Wirklichkeit nimmt jede Grete den Hans, den sie gerade kriegen kann, oder tröstet sich ohne ihn, wenn nichts draus wird. Es ist nicht der Mühe werth, um eine so gewöhnliche Sache große Worte zu machen.“

„Wenn man Sie so reden hört, sollte man denken, daß Sie nie geliebt hätten.“

„Nie?“ versetzte die Malerin, indem sie die Augen halb zudrückte und mit zurückgebogenem Kopfe ihre Anlage prüfte, „das will ich nicht gerade sagen – aber eigentlich der Rede werth kann’s nicht gewesen sein, denn ich habe mich nie unglücklich dabei gefühlt, und das muß man doch, nicht wahr? Mir stand es von Anfang an fest, daß ich zum Malen auf der Welt sei, und so denke ich heute noch und fühle mich hier allein in meinem Atelier glücklicher als in der größten Gesellschaft, ja ich muß gestehen, daß mir diese immer langweiliger wird. Mit ein paar guten Freunden bin ich allezeit gern zusammen, doch mich in einen davon zu verlieben“ – sie lachte laut auf, „nein, das wäre mir nie eingefallen.“

Von hier aus war der bewußte Punkt zu erreichen! Vilma ließ langsam die Enden ihres Gürtelbandes zwischen den Fingern durchlaufen und fragte in gleichgültigem Tone.

„Kennen Sie den Maler Thormann?“

„Na und ob! Sein Atelier ist ja hier unter dem meinigen. Haben Sie das Thürschild beim Heraufkommen nicht bemerkt?“

Nein, Vilma hatte nicht darauf geachtet, sie kannte auch Thormann nicht persönlich, nur ein großes Marinebild von ihm hatte sie auf der Ausstellung gesehen, und es hatte ihr so unendlich gut gefallen! „Er ist wohl schon ein alter Herr?“ fragte sie.

„Warum nicht gar,“ widersprach die Malerin, „kaum vierzig! Allerdings, sein Haar ist schon ziemlich grau, er hat viel Schweres erlebt mit seiner armen Frau, die so lange leiden mußte, ehe sie starb. Er hat sie sehr geliebt und kann ihren Verlust noch nicht verwinden, deshalb geht er auch nicht in Gesellschaft und lebt ganz für sein Töchterchen, das ebenfalls von zarter Gesundheit ist. Er will im nächsten Frühjahr draußen am Stadtpark ein Haus im Grünen für sie bauen. Hier herauf zu mir kommt er öfters, ich kenne ihn von früher her, auch zu ein paar andern alten Freunden geht er, sonst aber zu niemand.“

„Wie alt ist das Kind?“

„Zehn Jahre.“

Das genügte vorderhand. Vilma versank in ein schweigendes Nachdenken und „saß^ dabei so ausgezeichnet, daß die Malerin in athemloser Hast die schwierige Partie um den Mund, wie es ihr schien, sehr glücklich hinsetzen konnte. Eine geraume Zeit war so den beiden unbemerkt vergangen, als es an die Thür klopfte und eine hohe Stimme rief:

„Fräulein Linchen, sind Sie drinnen?“

Die Malerin machte ein grimmiges Gesicht, und ihr „Herein!“ klang durchaus nicht einladend.

Unbekümmert darum hüpfte ein dünnes Figürchen mit breitkrempigem Federhut und knappanliegender Tuchjacke herein. Aus ihrem sehr blassen Gesicht forschte ein Paar wasserblauer Augen, und das spitze Näschen zwischen ihnen trug auf seinem Gipfel den Hauch von Röthe, welcher Wangen und Lippen fehlte. Aber ein dichter brauner Tituskopf, der unter dem hellgrauen Filzhut hervorblickte, wog in den Augen seiner Besitzerin diese kleinen Unvollkommenheiten genügend auf. Frida Gersdorff, eine Schulgenossin Vilmas, zählte sich entschieden zu den hübschen Mädchen und wußte dieser Ueberzeugung stets durch eine „patente“ Toilette Ausdruck zu verleihen. Ihr Vater, ein reicher Fabrikant, „hatte es“, und darin wenigstens fühlte sie sich Vilma entschieden überlegen.

Einen verhüllten Gegenstand in der Rechten, näherte sie sich jetzt von der Thür her den beiden.

„Tag, Fräulein Linchen! Der Tausend, Vilma, Du wirst gemalt ... dazu können Sie mich auch ’mal haben, wenn Sie wollen!“

Die also Angeredete räusperte sich stark. Es gab Leute, von denen sie das „Linchen“ nicht vertrug, und wenn diese Leute dann noch in ihre beste Arbeitszeit hereinfielen, so erregte das bei ihr eine innere Umwälzung, welcher leicht ein Ausbruch folgen konnte.

„Was wünschen Sie denn eigentlich, Frida?“ fragte sie, ohne das zuvorkommende Angebot einer Antwort zu würdigen. „Sie sehen, ich habe zu thun!“

„O, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Ich wollte bloß fragen, ob Sie mir ein paar Lose für unseren Wohlthätigkeitsbazar abnehmen, hinkommen werden Sie ja doch nicht, da muß man sie Ihnen wohl nachtragen.“

„Lose für Ihren Bazar ‚künstlerischer Dilettantenarbeiten‘? Gut, ich will Ihnen drei Stück abnehmen, sollte ich damit etwas gewinnen, so können Sie es gleich dort behalten.“

„Es sind sehr hübsche Sachen da,“ versicherte Frida empfindlich, „kein Schund, wie Sie zu glauben scheinen.“

„Haben Sie mir gleich eine Probe davon mitgebracht?“ fragte die Malerin spottend und deutete auf das Packet.

„Nein“ – versetzte Frida zögernd mit einem Blick auf Vilma, „ich wollte Sie da um eine große Freundlichkeit bitten. Hier“ – sie wickelte das Papier auseinander – „mit dieser griechischen Tänzerin komme ich um keinen Preis zustande.“ Sie brachte eine große gemalte Glasvase hervor und hielt sie Linchen zur Betrachtung hin.

„Schauderhaft!“ sagte diese.

„Ja, die Stellung ist nicht ganz richtig, und da sollen Sie mir einen Rath geben!“ Sie wagte trotz ihrer Keckheit nicht, zu sagen: „Die Figur hineinmalen,“ wie sie eigentlich beabsichtigt hatte.

„Der einzige Rath, den ich Ihnen geben kann, ist der: waschen Sie das da mit Terpentin herunter, kleben Sie ein paar ausgeschnittene japanische Bilder hinter das Glas und streichen Sie dann – soweit wird Ihre Oeltechnik reichen – einen blauen oder grauen Grund darüber. Dann können Sie in Ihrem Bazar fünf Mark dafür verlangen, was Sie für diese Schmiererei hier entschieden nicht bekommen.“

„Ja, mein Gott, Sie dürfen doch daran nicht einen hohen künstlerischen Maßstab legen! Ich habe gar nie zeichnen gelernt, und dafür, das sagte sogar neulich der Maler Leichtherz, sind meine Sachen sehr talentvoll gemacht.“

„Sie sind köstlich, Sie und Ihr Leichtherz,“ lachte Fräulein Linchen grimmig auf. „Weil Sie nicht zeichnen gelernt haben, deshalb fühlen Sie sich gedrungen, zu malen, und machen Figuren von zehn Kopflängen, die auf keinem Bein stehen können und in der Mitte abbrechen. Sehen Sie, Fräulein Frida, Sie sind mir wirklich merkwürdig, denn Sie stellen das Prachtexemplar einer Dilettantin vor, jener Menschensorte, die ihren höchsten Ruhm darein setzt, nichts gelernt zu haben, aber trotzdem alles zu können –“

„Sie mißverstehen mich, Fräulein Linchen –“

„Während,“ fuhr diese unbeirrt fort, „die größten Genies mit der riesigsten Begabung jahrelang angestreugt arbeiten müssen, um ihres Stoffes Herr zu werden, erfliegt das der glückliche Dilettant im Handumdrehen. Ich will ihm sein Vergnügen nicht verderben, solange er thut, was das Wort besagt: dilettarsi, sich ergötzen an der großen Kunst, solange er mit Bescheidenheit die eigene kleine Kraft in ihren Bahnen übt. Allein das Großthun in Gesellschaft, wo heutzutage die Pfuscherei mit Selbstgefühl als Kunstwerk ausgegeben wird, das krankhafte Auszeichnungsbedürfniß ohne Hintergrund eines ordentlichen Studiums, die Talentlüge mit einem Wort, die wie falsches Geld durch alle Kreise geht – sie muß man rücksichtslos beim Namen nennen. Talent ist eine viel zu seltene und kostbare Gabe, um ‚zur Bildung‘ gehören zu können. Aber unbedingt gehört zur Bildung, die Kunstwerke, welche die wirklichen Meister geschaffen haben, zu kennen, sich liebevoll mit ihnen zu beschäftigen und aus der Tiefe seiner eigenen Kleinheit heraus mit Ehrfurcht die Großen zu bewundern. Wer das einmal so recht aus Herzensgrund gethan hat, dem vergeht es gründlich, ‚Ich auch!‘ zu sagen.“

„Wenn man aber doch freie Zeit hat und das entschiedene Bedürfniß fühlt, selbst etwas zu leisten?“ entgegnete Frida, durch diesen Platzregen von Grobheit sichtlich eingeschüchtert.

„Dann setzt man sich hin, mein Engelchen, und lernt einmal etwas. Gründlich und gewissenhaft von Anfang an – das Weitere findet sich dann bald. Die Kunst ist nur eine und der Weg dazu ist auch nur einer. Da – Sie können gleich hier anfangen! Versucheu Sie einmal, den Rinaldo dort ganz getreu abzuzeichnen!“

[60] Fridas Blicke folgten dem ausgestreckten Finger der Malerin nach der Ecke, der sie bisher den Rücken zugekehrt hatte, aber mit einem Schrei fuhr sie zurück vor dem freundlich grinsenden Totenschädel mit seinen schönen zweiunddreißig Zähnen.

„Pfui! Wie abscheulich! Davor würde ich mich zu Tode fürchten. – Wie Du das nur fortwährend ansehen kannst, Vilma, Du guckst doch von oben gerade darauf hin!“

Linchen lachte ihr tiefes behagliches Lachen.

„Ja sehen Sie, der ist ehrlich. Aller Schwindel von Fleisch und Kleidern abgefallen – wenn da ein Bein nicht recht steht, sieht man’s auf den ersten Blick.“

„Ach liebstes, bestes Fräulein!“ sagte nun Frida mit ihrer süßesten Stimme, „Sie haben mich vorhin so gescholten und ich habe es ruhig angehört – habe ich das nicht? Ich will mich auch bessern und will zeichnen lernen, doch jetzt – bitte, bitte – nicht wahr, jetzt helfen Sie mir mit der Unglücksvase und stellen mir die Tänzerin ein bißchen auf die Beine? Nächsten Sonntag wird der Bazar eröffnet, ich kann mich nicht sehen lassen, wenn ich nichts Ordentliches habe; es wäre eine furchtbare Schande.“

Karoline Wiesner war nur gegen Anmaßung gepanzert, demüthiger Bitte gegenüber fühlte sie sich regelmäßig wehrlos, und es half nichts, daß sie sich hinterher ebenso regelmäßig über diese ihre Dummheit entrüstete. Sie sah das „armselige Ding“, wie sie Frida im stillen nannte, in seiner Herzensangst, sie sah über die Bittstellerin hinweg Vilmas leises Lächeln, sie wußte, wie bitter deren Gegenwart für jene war – und fühlte ein menschliches Rühren.

„Nun denn,“ sagte sie in milderem Ton. „Stellen Sie das Ding dort hin, ich will nachher sehen, was sich thun läßt!“

„O Sie himmlisches, einziges Fräulein!“ jubelte Frida und nahm einen Schwung, der Künstlerin stracks an den Hals zu fliegen. Linchen reckte die Schultern etwas höher und sagte abwehrend:

„Ruhig, ruhig, zu danken brauchen Sie mir erst, wenn’s gethan ist. Sie wissen ja noch gar nicht, wie es ausfällt.“ Es half nichts, Frida strömte unaufhaltsam weiter von Glückseligkeit über und Fräulein Linchen begriff in diesem Augenblick, was ihr sonst stets räthselhaft vorkam, daß dieses abgeschmackte Wesen doch bei vielen Leuten wirklich wohlgelitten war. Eine ähnliche Empfindung mochte auch Vilma bewegen; sie, welche sonst unter den Freundinnen den Ruf hatte, durchaus nicht immer „nett“ zu sein, sagte jetzt vom Podium herunter in gutmüthigem Ton und scherzend:

„Nun, einen Trost waren Sie der armen Frida am Ende auch schuldig, Fräulein Wiesner, Sie sind ein bißchen hart mit ihr umgegangen dafür daß sie doch von uns allen die begabteste im Kunstfache ist. Ich habe mir schon oft ihre verschiedenen kleinen Talente gewünscht, aber vorhin, während Ihrer strengen Strafrede, war ich ordentlich froh, keines davon zu besitzen.“

„Du kannst ganz zufrieden sein,“ erwiderte Frida etwas spitz, „Du besitzest eben ein großes, das wir andern nicht haben –“

„Und das wäre?“ forschte Fräulein Linchen arglos, doch die schwierige Antwort blieb Frida erspart, denn in diesem Augenblick öffnete sich ein Spalt der Thür, und ein schmales Kindergesicht, von dünnen blonden Haaren umgeben, sah aufmerksam herein.

„Darf ich und der Papa kommen, Tante Linchen?“ fragte die kleine Stimme.

„Gewiß, Sigrid!“ Die Malerin öffnete die Thür vollends, und auf der Schwelle erschien jetzt hinter dem schmächtigen Mädchen ein hochgewachsener Mann, dessen hellblaue Augen einfach und freundlich aus den schon etwas eingefallenen Zügen hervorschauten; ein blondgrauer Bart umrahmte das Gesicht. Beim Anblick der beiden Besucherinnen machte er eine Bewegung nach rückwärts, allein Linchen ergriff mit gewohnter Bestimmtheit seine Hand und zog ihn vollends herein. „Stören? Keine Rede davon, Herr Thormann, wir sind ohnedies gerade bei einer Pause. Darf ich Sie meinen jungen Freundinnen vorstellen?“

Die Gelegenheit, Thormann, den interessanten menschenscheuen Norweger, hier leibhaftig vor sich zu haben, war für Frida zu entzückend, um nicht von ihr auf der Stelle zu einem begeisterten Ansturm auf seine Person benutzt zu werden. Sie hatte seine Aquarelle gesehen – göttlich! Diese Fjorde, diese Ufer! Und die kleinen Häuschen daran, welche aussehen, als ob in ihnen nur idyllische Menschen wohnen könnten, und dann vollends das Nordkap bei Mitternachtssonne – einfach grandios! Sie hatte sich noch niemals von Bildern so hingerissen gefühlt!

Er sah ihre lebhaften Bewegungen mit seinen ruhigen Augen an. „Wenn Ihnen jene Gegenden so gefallen, müssen Sie einmal hinreisen,“ sagte er kurz und richtete dann den Blick über ihr kleines Persönchen dem Podium am Fenster zu.

Wieder diese Vilma! Natürlich, man war es gewohnt, daß sie immer die Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne scheinbar etwas dazu zu thun. Dort war sie sitzen geblieben, weil sie wußte, wie anmuthig ihre Stellung war, sie hatte nur leise den Kopf geneigt, als Linchen den Maler vorstellte, und nun blickte dieser so angelegentlich hinüber, als ob sonst niemand im Atelier sei. Es war einfach lächerlich!

Mittlerweile bemühte sich Sigrid, hinter das angefangene Bild zu kommen. Sie war groß für ihr Alter, aber eckig von Gliedern und hastig in den Bewegungen, so daß ihr Durchschlüpfen ein gefährliches Wanken verschiedener Staffeleien zur Folge hatte. Die Malerin hielt sie abwehrend auf, worüber die Kleine ärgerlich das Gesicht verzog. Ihre Züge waren plump und breit, dem länglichen Gesichtsschnitt des Vaters unähnlich. Nur das helle Blau der Augen hatte sie von ihm.

„Aber warum darf ich es denn nicht sehen?“ rief sie mit dem Ton eines verzogenen Kindes. „Papa läßt mich immer dabei sein, wenn er malt.“

„Wenn es einmal weiter ist, sollst Du’s zu sehen bekommen,“ beruhigte die Malerin, ihr freundlich über die Haare streichend; aber Sigrid, welche im Durchsetzen ihres Willens offenbar eine bedeutende Uebung besaß, machte mit einem unartigen: „Nein, jetzt!“ neue Anstrengungen zum Vorwärtsdringen. Endlich rief ihr Vater mit einem unsicheren Bestreben, sein Ansehen geltend zu machen: „Ruhig, Sigrid! Belästige Fräulein Wiesner nicht, oder ich muß Dich wegschicken.“ Er wandte sich zu dieser und fuhr fort: „Wir kommen nur, um zu fragen, ob Sie wohl nächsten Sonntag meine Kleine zu Landgerichtsrath Walter mitnehmen wollten. Ihre Vermittlung der Bekanntschaft zwischen den Kindern hat Früchte getragen, man war so freundlich, Sigrid einzuladen, sie freut sich auch sehr auf die Kindergesellschaft, aber sie ist so scheu. Da kam mir der Gedanke, ob Sie vielleicht auch hingehen ...“

„Versteht sich, versteht sich,“ fiel das gute Linchen ein, dessen Herz vor einer Minute noch nicht an eine solche Aufgabe gedacht hatte. „Werden Sie auch hinkommen, Vilma?“ suchte sie nun die hartnäckig Schweigende ins Gespräch zu ziehen.

„Wohl kaum,“ ertonte endlich deren sanfte Stimme. „Meine kleine Schwester, Elsbeths Schulfreundin, ist eingeladen und freut sich ebenfalls schon sehr darauf.“

Thormann beobachtete voll Antheil, wie anmuthig sich ihre Züge beim Sprechen belebten. Gerade begann in ihm die dunkle Vorstellung aufzudämmern, daß es für ihn wohl schicklich sein möge, nach der Kindergesellschaft Sigrid selbst abzuholen und sich Walters vorzustellen; aber ehe er noch wußte, was ihm diesen Gedanken eingegeben hatte, sah er sich von Frida, die niemals nach einer ersten Niederlage den Muth verlor, von neuem aufs Korn genommen.

„Herr Thormann“ – sie blickte ihm kindlich in die Augen, „nicht wahr, Herr Thormann, Sie kommen doch übermorgen in unseren Ueberschwemmtenbazar im Schloßtheater?“

Aufs unangenehmste berührt, fuhr er herum. „Aufrichtig gesprochen – nein, Fräulein. Mir sind alle solche Ansammlungen verhaßt ... ich war seit Jahren niemals ... kann ich Ihnen nicht meinen Beitrag hier ...“

„Gott bewahre!“ wehrte sie mit beiden Händen geziert und kichernd ab. „Nein, diese Entschuldigung wird nicht angenommen, wir müssen Sie selbst haben. Christenpflicht und Barmherzigkeit, denken Sie doch! Und für Ihre paar geopferten Goldstücke sollen Sie Wunder schauen, es wird famos, ganz famos! Von unseren Kostümen will ich gar nichts sagen, aber Vilma –“ setzte sie mit ungeheurem Entschluß um der guten Sache willen bei.

[62] Doch des Menschenfeindes Stirn blieb gefurcht. Zwar zog er die Hand, welche sich nach dem Geldbeutel gesenkt hatte, wieder leer aus der Tasche hervor, indessen nur, um trocken und kurz zu sagen:

„Ich werde Ihnen meinen Beitrag durch einen Freund zustellen lassen. Komm, Sigrid, wir haben die Damen schon zu lange aufgehalten.“

„Du hättest auch ’was sagen können,“ schmollte Frida, als die Tritte auf der Treppe verhallten. „Das hätte ihn vielleicht bestimmt. Nun kommt er nicht! Und es wäre so nett gewesen, wenn er gekommen wäre.“

Vilma lächelte leise. Er kommt! dachte sie bei sich, denn sie erinnerte sich des Blickes, der sie gestreift hatte, als Thormann das Atelier verließ.




4.

„Das ist ja das reine ‚Tausend und eine Nacht‘!“ sagte Frau Emmy, ihres Gatten Arm vor Erstaunen loslassend, als die hohe Vorhangpforte sich theilte, und sie in das zum Zaubergarten umgewandelte Schloßtheater eintraten. Ein Lichtmeer ergoß sich über riesige Palmenfächer und farbige Blumenbeete, weiße Statuen schimmerten aus dem Grün hervor, im Hintergrund zwischen hohem Lorbeergebüsch plätscherte lebendiges Wasser in ein von Rosenbüschen umsäumtes, klares Becken nieder. Die oberen Logenreihen waren durch Laubgewinde und phantastische Schilfbüschel verdeckt, zwischen welchen farbige Lampions, riesenhafte Käfer und Schmetterlinge hervorwinkten; die unterste Reihe aber in ihrer goldenen Barockdekoration erstrahlte, durch erfahrene Künstlerhände zu den Läden des Bazars umgeschaffen und magisch beleuchtet, in einer solchen Farben- und Schönheitsfülle, daß der Neueintretende Zeit brauchte, sich einigermaßen zurechtzufinden – vorausgesetzt, daß es ihm gelungen war, aus der umklammernden Menschenwoge heraus und auf einen stilleren Platz zu gelangen.

Von einem solchen aus genoß das Ehepaar Walter schon längere Zeit den feenhaften Anblick. „Donnerwetter,“ sagte der Landgerichtsrath, nachdem seine Blicke allmählich auch in das Innere der Logen drangen, „was haben sie hier für eine Pracht von schönen Mädels beisammen! Sieh nur dort den Theeladen mit der reizenden dunkeläugigen Japanerin, sollen wir uns da nicht eine Tasse ausbitten?“

„Es ist die Soubrette vom Stadttheater,“ meinte Emmy zögernd.

„Um so besser!“ antwortete unternehmend der Gatte, und ihres leisen Widerstrebens ungeachtet, befand sie sich eine Sekunde später vor der Loge, die wie ein Schmuckkästchen von Lack- und Metallkostbarkeiten strahlte. Mit echt japanischem Schmachtblick reichte die brokatumhüllte Schauspielerin die beiden winzigen Tassen und ein paar Biskuits über die Brüstung.

„Zwei Mark fünfzig, bitte,“ war wohl alles, was für die beiden von Fräulein Mizis Lippen abfiel, aber Hugo schien vollbefriedigt. „Der Thee war vorzüglich,“ erklärte er im Weiterschreiten, „und, wenn man die Umstände bedenkt, nicht einmal theuer.“

Emmy gedachte zagend des vorher zu Hause gefaßten Vorsatzes „Fünf Mark im ganzen!“, allein Hugos gehobener Stimmung gegenüber wagte sie keine Einrede, sie störte ihn auch nicht im Erwerb eines Cigarrenbechers mit Häkelarbeit und eines Arbeitskörbchens aus Waldmosaik, an dem sie schon im Geist ihre sämmtlichen Seidenfäden hängen sah, nur suchte sie ihn in weitem Bogen an dem Kunstladen vorüberzulenken, wo die beiden reizenden Zwillingstöchter seines Präsidenten Photographien und Aquarelle zu haarsträubenden Preisen feilboten. Plötzlich erhielt sie einen leichten Schlag auf die Schulter: „Bazarpost, meine Herrschaften!“ und Frida Gersdorff stand vor ihnen, in weißem Rock und kokettem Postillonsfrack aus rothem Atlas, einen Dreispitz mit Federbusch auf die gepuderten Locken gedrückt. Sie überreichte salutierend die Festzeitung, deren Erwerb wenigstens eine Schutzstandarte abgab gegen die Angriffe der andern schönen Postillone, die, nach allen Seiten den Saal durcheilend, unwiderstehlich auf Auge und Börse wirkten.

„Kommen Sie nur mit,“ rief Frida, „es liegt auf der Expedition ein Brief an Sie, Herr Rath!“ und sie zog die beiden hinter sich her, vorüber an den Blumenläden, wo es verlockend von frischen Müdchenlippen erklang: „Nur fünfzig Pfennig das Sträußchen!“, vorüber an der Galanterieauslage, die glänzende Geschäfte machte, obgleich oder weil ihre Inhaberin, Lucie Peters, die gefeierte Königin sämmtlicher Studentenbälle, erklärt hatte: „Gebt mir nur allen Bafel, ich bringe ihn doch an!“ und diesem Ausspruch in wahrhaft ruchloser Weise Ehre machte, vorüber an dem benachbarten Schmuckladen, wo ein blasses reizloses Mädchen im kostbaren Ballkleid, die Tochter eines hohen Beamten, voll Bitterkeit nach dem Gedränge um Lucie hinübersah, von dem sich niemand zu ihr verlieren wollte – an alle dem vorbei zu der glücklich erdachten und glanzvoll ausgestatteten „Postexpedition“ mit Annahme- und Abgabeschalter, bedient von den schönsten Frauen der Stadt in rothcr Gala-Uniform, umdrängt von einer dichten Menschenmenge. Postlagernde Briefe und Sendungen, gute und schlechte Scherze enthaltend, wurden herausgereicht, mit dem Gelächter wuchs das Gedränge, und schon nach einer Viertelstunde war die „Postexpedition“ als der große gelungene Wurf des Bazars anerkannt.

Hugo entfaltete sein Blatt und las: „Sirach 26, 1 und 2.“ Fragend sah er Emmy an, denn seine Bibelfestigkeit war nicht stark genug, um sofort zu wissen, ob ihm hier eine Schmeichelei oder eine Grobheit gesagt werde. Aber auch sie konnte diesmal der Pflicht einer guten Ehefrau, alles zu wissen, was der Mann vergessen hat, nicht genügen und sah zweifelhaft auf die kurze Zeile.

„Habe die Ehre!“ erklang jetzt neben ihr eine Stimme, und aufsehend erkannte sie die kurze dicke Gestalt des Geheimen Medizinalraths Hoffmann, der mit Paketen und Schachteln beladen war, daß ihm kaum eine Hand zum Gruße frei blieb. Sein sonst recht sarkastisches Gesicht trug eine stille Duldermiene.

„Herr Geheimrath – ja, was haben Sie denn alles?“ lachte Emmy.

„Fragen Sie lieber, was ich noch nicht habe? Genug habe ich jedenfalls und ich verziehe mich jetzt dahin, wo das Buffet aufgeschlagen ist. Dort weiß man wenigstens, wofür man sein Geld hergiebt, und sitzt in Sicherheit. Gehen Sie mit?“

Ja, man ging mit, zu Emmys stiller Erleichterung, und bald fand man zwischen mächtigen Orangenkübeln ein geschütztes Tischchen, an dem nur ein einsamer Gast saß.

Der berühmte Heldentenor der Hofoper trat in weißer Konditortracht heran, um zu fragen, was die Herrschaften befehlen, dann brachte er das bestellte Eis mit tadelloser Grandezza. Niemals zuvor hatte Emmy „Vanille und Erdbeer“ mit solchem Hochgefühl geschlürft! Der Medizinalrath saß, seiner Pakete entledigt, behaglich da und sah in das rastlose Menschengewühl hinaus.

„’S ist doch nur ein großer Schwindel,“ bemerkte er plötzlich. „Man will sich vergnügen, sucht aber dabei sein Gewissen zu beschwichtigen und den Nebenmenschen heuchlerisch Sand in die Augen zu streuen.“

„Sagen Sie das nicht,“ fiel Emmy lebhaft ein. „Ich habe mich so gefreut über die allgemeine Opferwilligkeit und hoffe, es soll etwas Tüchtiges für die Ueberschwemmten dabei herauskommen.“

„Wissen Sie auch, wie ungeheuer die Wunde ist, die man hier mit einem kleinen bunten Fleckchen zukleben will?“

„Wenn jede Stadt in demselben Maßstabe ihre Schuldigkeit thut, dann kann das Pflaster am Ende reichen.“

„Liebenswürdige Optimistin!“ lächelte Hoffmann. „Was sagen Sie dazu, Walter?“

„Ich bin mehr Ihrer Ansicht; das Wohlthätigkeitsvergnügen ist mir eigentlich zuwider, weil die Mittel mit dem Zweck in so grellem Widerspruch stehen. Aber hier, wo man erst schenkt und dann wieder kauft, wo soviel Aufopferung zum guten Zweck sichtbar ist, sagt man sich doch, daß mit einer einfachen Sammlung nicht der vierte Theil zusammengekommen wäre.“

„Wie zum Beispiel,“ fügte Emmy belustigt bei, „Herr Medizinalrath Hoffmann in keinem Ladengeschäft diese alte leere Bonbonniere des Erwerbens für werth gefunden hätte.“ Sie hielt ihm die verblichene Seidenschachtel mit den abgerissenen Bändern und dem fragwürdigen Spitzenpapier vor Augen.

Er lachte: „Die hat mir die ausbündige Hexe Lucie aufgehängt, sie sagte, das sei ein reizendes Taschentuchetui für meine Frau. Ich merkte den Schwindel wohl, allein die kleine Schlange sah so allerliebst aus und rollte dabei ihre nichtswürdigen Schelmenaugen, daß ich nicht lange fragte, sondern zehn Mark hinlegte.“

[63] „Und das gewiß herzlich gern.“

„Natürlich, ich erkaufe mir damit das Recht zum Schimpfen. Wenn ich einen Werth dagegen eingetauscht hätte, müßte ich ja stille sein.“

„Das heißt, Sie ziehen vor, die Wohlthätigkeit rein auszuüben,“ sagte Emmy freundlich. „Hoffentlich denken recht viele eben so.“

Ein undeutliches Brummen kam statt der Antwort. „Wir sind doch in der That gewaltig fortgeschritten,“ nahm nach einer Pause Hugo das Wort. „Derartige Veranstaltungen, die uns heute selbstverständlich vorkommen, wären früher unerhört gewesen. Man kann wohl sagen: das öffentliche Gewissen ist erwacht.“

„Es dürfte noch ganz anders erwachen,“ kam es jetzt langsam und ironisch von den Lippen des alten Herrn, der mit am Tische saß und bisher scheinbar theilnahmlos vor sich hingestarrt hatte. „Entschuldigen Sie meine Freiheit,“ er lüftete mit leicht zitternder Hand den Hut und verneigte sich gegen die Drei, „aber Sie sprechen hier von Dingen, über die ich selbst unablässig nachdenke. Mein Name ist Mayer. Professor Mayer. – Glauben Sie nicht, daß riesige Summen herauskommen müßten, wenn jeder das geben würde, was er sich an Luxus leicht abstreichen könnte, ohne Noth zu leiden?“

Von Namen kannten sie alle den etwas absonderlichen Gelehrten, der große Entdeckungsreisen gemacht und wissenschaftliche Bücher geschrieben hatte. Man freute sich also der persönlichen Bekanntschaft, und Hugo fuhr nach der Gegenvorstellung gleich im angefangenen Thema fort:

„Ich glaube, Herr Professor, Sie überschätzen unsern Luxus. Die meisten haben nicht viel übrig zum Geben.“

„Ich berechne mir nur manchmal die Summen, die täglich in der Pferdebahn über das Pflaster rollen und beim schönsten Wetter von Leuten bezahlt werden, deren Zeit durchaus nicht immer Geld ist; jeder dritte Schuljunge ist ja heute zu faul, seinen Heimweg von einer halben Stunde zu Fuß zu machen, und fährt im Schülerabonnement! Das ist weggeworfenes Geld, ebenso wie die Spielverluste, die den ganzen Nachmittag über an den Tischen der Kaffeehäuser bezahlt werden. Es empört nich stets, wenn ich im Vorübergehen die Säle voll junger müßiger Leute erblicke. Man sollte sie wegjagen können, an die Arbeit, wie es der alte Friedrich Wilhelm ganz vernünftiger Weise gethan hat. Und erst die Summen für Bier, [die] in unserer guten Stadt allabendlich verschleudert werden! Was könnte für die Armen geschehen, wenn jeder Bürger nur einmal in der Woche einen Abend lang Wasser trinken wollte!“

Diese Zumuthung empörte den Medizinalrath, der Wasser nur zum Zahnputzen verwandte.

„Mein lieber Herr Professor,“ begann er, „Sie sprechen als Menschenfreund und Idealist. Das erstere bin ich auch, aber als Mann der Praxis kann ich Sie versichern: mit Geld allein ist unsern sozialen Schäden nicht zu helfen. Das Hauptübel liegt in der ganz unglaublich gesunkenen Tüchtigkeit und Sparsamkeit. Das verschweigen stets die, welche über das Massenelend jammern. Geben Sie Geld, soviel sie wollen, Sie werden dem Elend nicht steuern, nur die Unzufriedenheit vermehren.“

„Wenn ich sage: Geld für die Armen,“ erwiderte der Professor, und seine hellen Augen blitzten unternehmend unter der starkgewölbten Stirn hervor, „so ist das nur ein kurzer Ausdruck für: Mittel, die Rohheit, die Unwissenheit, das Laster zu bekämpfen, Mittel, die Leute, welche mit uns gemeinsam arbeiten sollen, zu erziehen und auf unseren sittlichen Standpunkt zu heben.“

„Das ist unmöglich bei der tiefen Kluft, die ihre Bildung von der unserigen trennt!“

„Aber schauen Sie doch um sich! Besteht denn diese Kluft nicht zwischen den sogenannten Gebildeten selbst? Auf der einen Seite die kleine Zahl derjenigen, die unsere wundervollen Kulturmittel zur höchsten Geistesfreiheit und schönen menschlichen Pflichterfüllung verwenden; auf der andern die große Menge, die trotz dieser Mittel kein anderes Ziel kennt, als äußeren Luxus, die sich den Winter über regelmäßig ihr Karlsbad für den Sommer anißt und antrinkt – Menschen, welche jählings statt in ‚stilvollen‘ in Zimmern mit Spitalmöbeln wohnen würden, wenn auf einmal ein Zauberspruch die Umgebung eines jeden auf den Rang seiner Gedankenwelt einstellen könnte! Und diese Leute geben heute im öffentlichen Leben den Ton an. Soll das so fortgehen – die Jagd nach Genuß, die unbedenkliche Ausnützung jedes Vortheils, das Streberthum in jeder Gestalt? Wahrlich, es wäre Zeit für das öffentliche Gewissen, wirklich zu erwachen, sich zu erinnern, daß der Zuwachs an Reichthum nicht die eigene Genußsucht ins ungemessee steigern darf, sondern daß er dringende Verpflichtungen fürs Allgemeine auferlegt. Wie ganz anders könnten unsere öffentlichen Zustände sein, wenn sich die Besitzenden dessen erinnern wollten!“

„Es wird doch viel gethan!“ sagte Hugo.

„Lange nicht das, was gethan werden müßte,“ fiel der Professor eifrig ein, „wenn wirklich überall tüchtige Einrichtungen zum öffentlichen Besten entstehen sollten. Dem Egoismus, den unser wirthschaftliches Emporkommen großgezogen hat, muß jetzt der ‚Altruismus‘, die Sorge für den andern, aufgesetzt werden, das sieht jeder, der diese Zeit und ihre ungeheuren Aufgaben mit aufmerksamem Auge betrachtet. Es wird eine geistige Umwälzung dazu nöthig sein, so tief als die der Reformation und der großen Revolution, aber sie wird vollzogen werden ...“

„Und den sozialistischen Staat begründen,“ sagte ironisch der Landgerichtsrath, der seinen Mann zu haben glaubte.

„Und endlich die Moral des Christenthums wirksam machen,“ erwiderte dieser lächelnd, „nachdem man sich seit Jahrhunderten für seine Dogmen die Köpfe blutig schlägt.“

„Ich verstehe Sie ganz gut, Herr Professor,“ versetzte jetzt Emmy uachdenklich. „Sie meinen, jedes sollte die Augen über den eigenen Familienkreis hinausrichten und sich nicht nur mit Geld, sondern mit eigener Sorge und eigenem Handeln der öffentlichen Uebelstände annehmen?“

„Genau das meine ich, und außer dem Vortheil, der fürs Ganze dabei herauskäme, würde eine Menge bisher müßiger unzufriedener Menschen ganz nette Freuden kennenlernen, die nur kostet, wer einmal selbst einen verwahrlosten Jungen auf den rechten Weg brachte, einen Genesenden warm bekleidete oder den Lichterbaum in eine Stube schickte, die sonst dunkel und traurig geblieben wäre.“

„Wir Frauen gehen schon auf diesem Weg,“ versetzte Emmy, „unsere Wohlthätigkeitsvereine wirken viel Gutes. Allein Sie haben recht, es könnte noch mehr geschehen, und für das Wort Wohlthätigkeit müßte ‚Pflicht‘ gesetzt werden. Jede von uns leidet unter der Untüchtigkeit und Leichtfertigkeit der weiblichen Dienstboten und Arbeiterinnen; ich habe noch jede Köchin kochen, noch jede Wäscherin waschen und jede Putzerin putzen lehren müssen. Wenn man es in eigenen Anstalten die jungen Mädchen gleich recht lehren würde und ein anständiges Benehmen dazu, dann wäre wohl viel geholfen. Und ähnlich wird es auch bei den männlichen Arbeitern sein.“

„Es ist das derselbe Zweck, dem die Knaben- und Lehrlingshorte, die Fachschulen und Sparkassen dienen,“ erwiderte der Professor. „Um die Heranwachsenden handelt es sich in erster Linie, denn Erziehung und nur Erziehung heißt die Losung, um die unzufriedenen Genußsüchtigen der unteren Klassen zu fleißigen, ihre Verantwortung fühlenden Menschen zu machen und der ungeheuren sozialen Gefahr immer steigender Verwilderung und Verbitterung zu begegnen.“

„Eine Riesenarbeit,“ sagte der Medizinalrath kopfschüttelnd. „Ich gestehe, ich bin nicht Idealist genug, um an ihre Ausführbarkeit zu glauben.“

„Alle neuen Gedanken, die ein Zeitalter bewegten, waren zuerst Forderungen der Idealisten und sind dann realisiert worden – denken Sie nur drei Jahrhunderte zurück! – Und der Schluß auf die Zukunft ergiebt sich sicher durch den Blick auf die Vergangenheit. Den Weg, den wir bisher gingen, werden wir weiter gehen, aus ursprünglicher Rohheit und Verfinsterung zur allgemeinen Bildung und zum menschenwürdigen Dasein, von dem heute so viele noch weit entfernt sind!“

Er hatte sich während der letzten Worte erhoben, grüßte nun mit einer gewissen Feierlichkeit und entfernte sich langsam.

„Amen,“ sagte der Geheimrath. „Es giebt doch merkwürdige Käuze. Uebrigens, was Karlsbad betrifft, da hat er recht, sehr recht. Nur ist es grausam, zu denken, was aus Hummer und Gänseleber werden sollte, wenn gebildete Menschen sie nicht mehr essen würden.“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 3, S. 85–92

[85] Draußen im Saal entstand eine plötzliche Bewegung; alles drängte nach dem untern Ende, wo ein hoher Vorhang den Palmengarten abschloß. „Dort giebt es noch etwas!“ hörte man von allen Seiten. Auch Walters und der Medizinalrath standen auf und schlossen sich dem allgemeinen Strome an. Jetzt ging ein leises Wallen durch den Vorhang, eine sanfte Musik ertönte dahinter, und langsam schoben sich die beiden Flügel auseinander. Ein Ruf der Bewunderung begrüßte den unerwarteten Anblick.

Bis an die Decke hinauf erglänzte mit Hunderten von Glühlichtern ein riesiger Christbaum, dessen Zweige überall Rosenbüschel trugen, und unter dem Baume stand, über eine Gruppe schlafender Kinder gebeugt, der Christengel im weißen Gewand, einen leuchtenden Sternenkranz im Haar – Vilma. Nun richtete sie sich empor und die großen Augen strahlten selbst wie Sterne über die Menschen hin, während sie einfache kurze Verszeilen sprach, vom Baume der Barmherzigkeit, der hier blühe und von dem jeder sich ein Reislein mit heimnehmen solle, auf daß es bei ihm Wurzel schlage und Früchte bringe.

„Sie sieht doch ganz entzückend aus,“ flüsterte Hugo der Gattin zu. „Diese Glorie von blondem Haar um das reizende Gesicht, die wundervolle Gestalt – ich begreife nicht, wie Du sie immer nur pikant finden willst, sie ist geradezu die schönste von allen!“

Solche Anwandlungen von Begeisterung störte Emmy bei ihrem Gatten grundsätzlich nicht, sie gingen so am leichtesten vorüber.

„Sieh einmal dorthin!“ sagte sie, als nun der kurze Prolog beendigt war und unter brausendem Beifallsjubel der Engel sich wandte, die schönen Arme emporhob und mit Hilfe eines rasch aufgetauchten Knechtes Ruprecht die Rosen abzulösen begann. „Dort steht ja unser Francis und starrt wie ein Verzückter herüber! Aha, nun wird er lebendig!“

Der junge Amerikaner sah, daß einzelne sich dem Baum näherten und durch Vermittlung des Pelzmärtels, der bald den irdischen Handel mit himmlischen Rosen schwunghaft betrieb, in Besitz der Zweige kamen. Sofort stürzte auch er vor und bemühte sich angelegentlich, eine Rose unmittelbar aus der weißen Hand zu erhalten, die sie pflückte. Aber diese reichte die Blumen mit einer hoheitsvollen Bewegung an ihm vorüber dem Ruprecht hin, und eine Berührung von dessen rauher Tatze war alles, was Francis für seine drei Mark eintauschte.

Der kleine Auftritt hatte einen stillen Zuschauer; drüben unter den Palmen stand Thormann, sein Töchterlein an der Hand. Die Kleine hatte ihn so lange bestürmt, bis er sie hierhergebracht, er hatte nicht gerade ungern nachgegeben und fand nun die phantasievolle Scenerie dieses Bazars viel anziehender, als seine ernsthafte Seele geglaubt hatte. Er hatte Sigrid für schweres Geld Spielzeug und Bonbons in den Läden gekauft, war an der Bazarpost gewesen, wo er richtig auch für sich einen Brief fand, und hatte zu allerletzt noch – o Triumph! – Fridas Vase erworben, weil er die Malerei „wirklich künstlerisch“ fand. Im stillen bestimmte er sie zum Geschenk für seine Freundin Karoline Wiesner!

Und nun stand er hier und betrachtete, innerlich gefesselt, das schöne Mädchen, das ihm neulich schon im Atelier der Malerin [86] aufgefallen war. Sigrid drängte nach ihrer gewöhnlichen Weise, hinüberzugehen und ebenfalls Rosen zu holen; er war diese quälende Kinderstimme schon gewohnt wie einen körperlichen Zustand, dessen man nicht achtet, endlich aber kam ihm der Sinn ihrer Worte zum Bewußtsein und er lenkte auf den Christbaum zu. Diese unmittelbare Nähe der überirdischen Mächte flößte der kecken Kleinen doch einige Befangenheit ein, sie klammerte sich mit der einen Hand an den Papa und streckte die andere mit einem schüchternen „Bitte!“ nach den Rosen aus. Und siehe da, ehe noch Knecht Ruprecht zur Stelle war, griff der Engel über sich in den Baum, löste zwei der schönsten Rosen mit langen Rauschgoldfäden los und legte sie, holdselig lächelnd, in Sigrids Hand, ohne einen Blick seitwärts nach ihrem Begleiter zu richten.

„Papa!“ jubelte das Kind, während der Menschenstrom die beiden weiterführte, „der Engel hat sie mir selbst gegeben, sieh nur, wie wundervoll!“

Thormann nahm den Zweig in die Hand. „Wunderschön Liebling! Es ist uberhaupt sehr hübsch hier, wir wollen uns unter die Palmen setzen und den Anblick noch ein bißchen genießen!“

„Aber Eis dazu essen, Papa!“

„Auch das.“ Und während nun die Kleine essend und schwatzend ihrem Herzen Genüge that, blieben seine Augen gedankenvoll auf den flimmernden Christbaum gerichtet. Die Gestalten darunter verdeckte ihm die Menschenwand.

Endlich gedachte er des Briefes, den ihm die schöne Postmeisterin lachend mit der Forderung eines erklecklichen Portos entgegengeschwungen hatte, und holte ihn hervor. Dort im Gedränge hatte er ihn nicht öffnen können, es verlohnte auch schwerlich der Mühe, denn er hatte wohl bemerkt, daß die Briefe rasch je nach den Empfängern adressiert wurden. Irgend ein schlechter Witz ins allgemeine würde darin stehen. Er erbrach den Umschlag. Verse?! ...

Mit wachsendem Staunen las er:

„Es kommen Blätter, es kommen Blüthen –
Doch keinen Frühling erlebt mein Herz,
Ich sitze trauernd, ein Grab zu hüten,
Und um Cypressen schweift mein Schmerz. –

Die sanften Lüfte, fühl’, wie sie kosen!
Die hohen Sterne, sieh, wie sie glühn!
Der neue Sommer bringt neue Rosen
Und nur für einen soll keine blühn?“

Von wem konnte das kommen, wer sollte ihn hier erwartet haben? Er zerbrach sich vergebens den Kopf – am Ende war es doch nur ein Zufall, sie hatten wohl viele Verse in Bereitschaft da drinnen! und doch, und doch das traf so merkwürdig mit den Gedanken zusammen, die ihm auch hin und wieder kamen! Er fand kein Ende mit Ueberlegen und sah sinnend vor sich hin. – –

Eine Stunde später kehrte das Ehepaar Walter mit dem glücklich wiedergefundenen Francis heim.

„Nun, wie war es?“ fragte Emmy den jungen Mann, als sie zu Hause waren.

„O, entzückend!“ rief er begeistert. „Ich nie hätte geglaubt, daß könnte sein so schön in Deutschland.“

„Nun, warten Sie nur, es kommt noch besser! Aber jetzt zum Abendessen, das lange Herumstehen macht einen doch gehörig hungrig!“

Aus seinem Zimmer kam im gleichen Augenblick Hugo, eine namhaft verstaubte Bibel in der Hand, mit sehr enttäuschter Miene:

„Ich dachte wunder, was sie da auf mich gemünzt hätten. Das ist nun wirklich der Mühe werth!“

Und Emmy las die in dem Brief genannte Stelle:

„Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat, des lebet er noch eins so lange. Ein häuslich Weib ist ihrem Manne eine Freude, und macht ihm ein fein ruhig Leben.“

„Nun,“ sagte sie mit großen Augen, „Du wirst doch den alten Sirach nicht Lügen strafen wollen?“

„Natürlich nicht,“ erwiderte er, sie umfassend, „aber sie hätten wohl auch einen Spruch für mich persönlich finden können.“

Sie lachte. „Etwa: des Menschen Leben währt siebzig Jahre, aber mit vierzig ist er den klugen Damen nicht mehr interessant? Ja ja, solche Erfahrungen sind schmerzlich für schöne Leute. Doch weißt Du was? Tröste Dich mit dem vorzüglichen Rehragout, das wir heute abend haben. Gebackene Kartoffelklöße dazu, wie Du sie liebst, ist das nicht ausgezeichnet?“

„Komm!“ sagte er und blickte voll Vergnügen in ihr hübsches lachendes Gesicht. „Der alte Sirach hat recht; dort war es schön in aller Feeerei, allein am schönsten ist’s doch zu Hause!“




5.

Geduldige Schafe waren es nicht, die am nächsten Sonntag Stück für Stück bei Walters eintrafen, und ein Stall war es auch nicht, in dem sie sich drängten, aber doch gingen unglaublich viele hinein und fanden Mittel und Wege, denjenigen Lärm in Scene zu setzen, welcher von einer Kindergesellschaft mit Einstimmigkeit das Prädikat „furchtbar lustig“ erhält. Fritz athmete erleichtert auf, als es einmal soweit war; seinem Geiste hatten düstere Ahnungen vorgeschwebt wegen des „geradezu schofelen Menüs“, das abzuwenden er keine Möglichkeit sah. Die Mama hatte seinem flehentlichen Andrängen eine eiserne Kaltblütigkeit entgegengesetzt: „Kaffee mit Kuchen“ lautete ihr unabänderlicher Spruch.

„Und nachher?“

„Apfeltorte.“

„Und was zu trinken?“

„Wasser, vielleicht etwas Limonade!“

Auf das hin hatte Fritz einen Entrüstungsanfall bekommen, der jede weichherzigere Mutter zum Zugeständniß der gewünschten Bowle veranlaßt hätte, denn nach seiner verzweifelten Versicherung war ohne eine solche eine anständige Jugendgesellschaft überhaupt nicht mehr denkbar. Bei Hoffmanns hatte es außerdem noch Gefrorenes gegeben und hinterher belegte Brötchen und Bier!

Das herzliche Lachen seiner Mama auf diese, wie er glaubte, niederschmetternde Enthüllung brachte den jungen Lebemann vollends außer sich. Sie erklärte ihm sehr gemüthsruhig:

„Für kleine Jungen und Mädchen ist zwischen Mittag- und Abendessen Kaffee und Kuchen hinlänglich genug. An mehr könnten sie sich nur den Magen verderben. Und nun lauf, richte die Laterna magica her und besinnt Euch auf hübsche Charaden! Das Vergnügen muß wo anders liegen als im Essen und Trinken, das könnt Ihr nicht früh genug lernen!“

Schwer gekränkt war Fritz abgezogen. Warum hatte ihn das Schicksal nicht bei Hoffmann’s auf die Welt kommen lassen, wo die Söhne ihre Wünsche nur zu nennen brauchten, um sie sofort erfüllt zu sehen! Der harrenden Elsbeth berichtete er nur: „Es giebt eine gräßliche Blamage!“ und weidete sich an ihrem entsetzten Gesicht. Dann ging er aber doch und setzte die Laterna magica in Stand.

Und nun war es so nett geworden! Im Tanzen und Spielen, im Aufführen der Charaden und im Stellen der lebenden Bilder – all das verstand die Mama ausgezeichnet ins Werk zu setzen – waren selbst die blasierten Hoffmanns-Buben warm geworden, vor deren Kritik Fritz heimlich zitterte, und Oskar, der älteste, erklärte bei Gelegenheit eines sehr gelungenen Räuberüberfalls, wobei man Vilmas jüngere Schwester Hedy in offenen Haaren als gefangene Prinzessin weggeschleppt hatte: „So lustig ist’s nie bei uns!“ Er hielt sich fortan dicht zu dem niedlichen Backfischchen, das eine für sein Alter erstaunliche Erfahrenheit in solchen Aufführungen an den Tag legte. Aber Elsbeths ehrliches Innere entsetzte sich, als Hedy im Eifer der Vorbereitung im Schlafzimmer ihr zurief: „Ihr habt ja nicht einmal Puder hier und kein Brenneisen! Dir ist es wohl ganz einerlei, was die Jungens von Deinem Aussehen sagen?“

Jetzt saß das kleine Fräulein während der Tortenpause mit sorgsam ausgebreitetem Röckchen auf dem Sofa und versuchte verschiedene Augenaufschläge an dem jungen Weston, der gekommen war, sich das Fest anzusehen, und sogleich ihr frühreifes Persönchen unter den guten Schulkindern herausgefunden hatte. Daß er sie ganz als Erwachsene behandelte, gab ihr einen hohen Begriff von der Bildung der Amerikaner, sie vergalt es [87] ihm durch eine Unterhaltungsbeflissenheit, die des finster herüberschauenden Oskar Herz mit namenloser, doch leider ohnmächtiger Wuth erfüllte.

Francis erfuhr mittlerweile von dem kleinen Plappermäulchen, daß sie die Schwester Vilmas sei und daß diese wahrscheinlich kommen werde, sie abzuholen. „O, der schöne Weihnachtsengel!“ rief Sigrid, die bis dahin stumm und noch immer etwas verschüchtert neben ihr gesessen hatte. Sie trug einen ungeschickten, von Dienstbotenhänden hergerichteten Anzug und sah sonderbar unkindlich aus unter den andern frischen und beweglichen Gestalten. Hedy hatte Vilma versprechen müssen, sich der Kleinen anzunehmen, und hatte dies auch gethan, allein sie dachte, jede Liebe sei einer Belohnung werth, und hatte als sofortige Abschlagszahlung für ihre Gefälligkeit ein Paar lange dänische Handschuhe und den japanischen Fächer von Vilma mitgehen heißen, den sie jetzt mit großer Befriedigung hin und her bewegte.

„Sehen Sie nur die kleine Kokette,“ sagte, den Blick auf sie gerichtet, im offenen Nebenzimmer der Medizinalrath Hoffmann, der eine Stunde vor der Abholezeit gekommen war, um noch mit den Hauswirthen zu plaudern. „Ja, was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und diese Art liegt im Blut.“

„Hier ebenso in der Erziehung,“ erwiderte Emmy, die gerade einen kleinen Tisch mit Wein und Cigarren zwischen den Medizinalrath, Hugo und Fräulein Linchen hineinstellte und dann selbst bei ihnen Platz nahm, die liebe Jugend für eine Weile ihren eigenen Eingebungen überlassend. „Dasselbe Mädchen würde bei einer wahrhaften und pflichttreuen Mutter anders geworden sein.“

„Sie überschätzen die Macht der Erziehung! Man ändert keine Charaktere, wir gewöhnen den Kindern nur die äußern Unarten ab, hauptsächlich, weil sie uns belästigen. Sie würden das später von selbst ablegen – ich habe noch keinen Achtzehnjährigen gesehen, der mit den Fingern aß!“

„Und Sie halten es für unberechtigte Selbstsucht, sich dieses Schauspiel schon früher am häuslichen Tisch ersparen zu wollen?“

„Das nicht. Aber ich bilde mir nicht ein, die grundverschiedenen Naturen meiner Söhne nach meinem Gefallen zu modeln, indem ich ihre eigenthümlichen Regungen unterdrücke. Wenn sie gut gerathen, so danken sie dies ihrer Natur, nicht meiner Erziehung.“

„Dann würde man ja eine Pädagogik gar nicht brauchen,“ wandte Fräulein Linchen ein.

„Viel Nutzen stiftet sie gewiß nicht, denn sie betrachtet das Kind als ein abstraktes Ding und legt ihm unabänderliche Gesetze auf, um ein vorher berechnetes Ergebniß herauszubringen. Das glückt nicht, und zudem geht die Eigenthümlichkeit verloren, welche die Natur gerade diesem Individuum einpflanzte und welche zu pflegen die Aufgabe einer richtigen Erziehung wäre. Man soll die Natur studieren, nicht sie verbessern wollen.“

„Man erzieht aber doch,“ sagte Emmy, „seine Kinder zum Leben in der Welt, wo der am besten durchkommt, der am wenigsten störende Eigenthümlichkeiten hat. Die große Rücksicht auf Individualität bringt schwer umgängliche Menschen hervor, die stets Ausnahmen für sich verlangen, statt sich der allgemeinen Ordnung zu fügen! Und solche vermeidet man im Umgang, also haben sie den Schaden davon.“

„Na, und gnade Gott jemand, der seine Tage zwischen sechs solcher werdenden Individuen zubringt,“ versetzte Fräulein Linchen trocken. „Ich glaube, mir würden unaufhörlich die Finger jucken.“

„Ja, da haben wir das letzte Auskunftsmittel der alten Erziehung, den Stock! In meinem Hause ist er niemals angewendet worden.“

„Ach du himmlische Güte! Buben ziehen, ohne sie zu schlagen!“ rief sie im höchsten Erstaunen.

„Die Zucht ist danach,“ dachte Emmy, und laut fügte sie hinzu: „Wie haben Sie es aber gemacht, um den Gehorsam zu erzwingen, wenn die Kinder eigensinnig wurden?“

„Erzwungen habe ich ihn überhaupt nie,“ erwiderte er. „Wenn der Zornanfall vorüber ist, sehen die Kinder die Zweckmäßigkeit des Befohlenen selbst ein und handeln danach.“

„Na, ich danke!“ rief nun Linchen entrüstet. „Da müssen Sie manchmal nette Tage durchleben, bis die verschiedenen Zornanfälle vorüber sind! Lieber Himmel, da ist es doch kürzer, den Kindern, die noch keine Vernunft, nur einen unbändigen Willen haben, den Standpunkt etwas klarer zu machen und sie in den ersten Jahren wie kleine Thierchett mit Schlägen an Folgsamkeit zu gewöhnen. Einem Zweijährigen entwickelt man ja doch die schönsten Gründe umsonst!“

„Das ist der alte verbrauchte Grundsatz,“ sagte überlegen der Medizinalrath und streifte die Asche von der Cigarre. „Die heutige Zeit stellt andere Aufgaben an die Jugend als die des sklavischen Gehorsams.“

„Aber doch keine größere,“ nahm nun Hugo das Wort, „als die der Achtung vor dem Gesetz, das über uns allen ist. Das Bewußtsein davon sollte auch in dem Kinde früh geweckt werden, denn man will einen künftigen Staatsbürger aus ihm erziehen. Als sichtbares Gesetz stehen seine Eltern da; ihrer Vernunft muß es so lange gehorchen, in Güte oder mit Zwang, bis die seinige entwickelt ist. Und da das Parlamentieren mit einem thörichten Kinderkopf eine unfruchtbare Sache ist, so bin ich auch dafür, auf die endlosen: ‚Warum?‘ einfach zu antworten: ‚Weil ich es Dir befohlen habe‘. Dabei muß er sich beruhigen.“

„Das ist immer wieder der patriarchalische Zustand, dem unser ganzes öffentliches Leben vollständig entwächst. Er ist auch im Hause nicht mehr aufrecht zu erhalten!“

„Erlauben Sie! Für Unmündige ist der aufgeklärte Despotismus die beste Regierungsform. Den erwachsenen Kindern kann man dann die parlamentarische Verhandlung zugestehen, gerade wie den mündig gewordenen Völkern.“

Die Malerin sah während dieser letzten Reden der Männer hinaus in den spielenden Kinderschwarm und bedauerte ordentlich die blassen Hoffmanns-Söhne wegen der vielen Schläge, die sie nicht gekriegt hatten und die ihnen unzweifelhaft ein viel frischeres Aussehen verliehen haben würden.

Derweil sagte Emmy nachdenklich:

„Ein neuer Rousseau sollte einmal einen modernen ‚Emile‘ schreiben, einen Wegweiser für die Erziehung unserer Zeit.“

„Ja,“ lachte Linchen, „darin möchte ich auch ein Kapitel übernehmen, und dieses müßte heißen: ‚Der Elternwahn!‘ Vor Ihnen darf man davon reden, denn wenn auch der Herr Medizinalrath seine Söhne aus Grundsatz nicht prügelt, so gehört er im übrigen doch nicht zu den entzückten Vätern!“

„Leider nein, ich sehe ihre Schattenseiten deutlicher, als mir lieb ist.“

„Nun, und diese beiden hier sind ebenfalls vernünftig. Aber sehen Sie sich weiter um: lauter entzückte Eltern, lauter merkwürdige Kinder, stetes Erzählen vor diesen, was sie gestern und heute wieder für denkwürdige Aussprüche gethan haben, damit sie doch ja in kürzester Frist gezierte, verlogene Krabben werden. Die alte Klugheitsregel, daß man seine schwarze Wäsche nicht auf offenem Markt waschen soll, wird neuerdings dahin verstanden, daß man alles Ungünstige an seinen Sprößlingen verschweigt und ihre Vorzüge hell ausposaunt, ohne zu bedenken, wie man dadurch die Kinder zur Unwahrheit erzieht und obenein den Respekt von ihrer Seite völlig einbüßt. O, was war dieser altmodische Respekt für eine gute Sache! Bei uns zu Hause wurden berechtigte Eigenthümlichkeiten, Nerven und Scenen einfach nicht in Ansatz gebracht. Warf eines die Thüre zu, so mußte es auf der Stelle wieder herein und sie vor aller Angesicht sachte zumachen. Erschien man mit verweinten Augen bei Tisch, so hieß es ruhig: ‚Du scheinst krank zu sein, lege Dich zu Bett!‘ Und man munterte sich sofort auf, um diesem Schicksal zu entgehen. Was hat sich nicht unsere gute Mutter erspart durch die Verfügung: Gesichter werden vor der Thür gemacht, und Launen giebt es hier im Hause nicht! Wie strenge wurden die kleinen Rücksichtslosigkeiten und Pflichtvergessenheiten geahndet, die heute den Kindern ohne weiteres hingehen! Soll das eine falsche Erziehungsweise gewesen sein, welche einfache Pflichttreue, Bescheidenheit und jene tiefe Dankbarkeit gegen die Eltern erzeugte, die der Gewährung folgt, eben weil man weiß, daß die Bitte auch versagt werden kann.“

„Ja, ja,“ versetzte der Medizinalrath, „das letztere ist nicht ohne. Man giebt den Rangen mehr, als sie eigentlich haben sollten.“

„Und alles übertriebener, als ihnen gut ist.“

[90] „Auch das. Und sie fühlen sich nicht einmal besonders glücklich darüber.“

„Ist das ein Wunder? Es liegt doch in der menschlichen Natur, stets irgend etwas anzustreben und sich glücklich zu fühlen, wenn es erreicht ist. Wer seine Kinder ein leicht Erreichbares, ein Stück Kuchen, einen Ausflug ins Grüne, erst eine Zeitlang wünschen läßt, der hat es stets in der Hand, sie glücklich zu machen, während der, welcher alles Erreichbare als selbstverständlich giebt, nur erlebt, daß sie dann ihre Wünsche an das Unerreichbare heften – und sich unzufrieden fühlen, weil man ihnen das nicht mehr verschaffen kann!“

„Sie hat eine Zunge wie ein Schlachtschwert,“ sagte Hoffmann anerkennend, „aber manchmal hat sie recht. Na, es hilft also nichts, ich gehöre zur Klasse der schwachen Väter.“

„Trösten Sie sich, Sie haben viele Genossen in Stadt und Land,“ rief sie lachend. „Der Elternwahn beherrscht ja nicht nur die gebildeten Stände, er ist mit andern sozialen Uebeln bereits zu Arbeitern und Bauern gelangt. Auch diese züchtigen ihre Kinder nicht mehr: wenn der Schulmeister einem ungezogenen Jungen eine Tracht Prügel aufmißt, so läuft der Vater, beim Schulzen zu klagen, und die Mutter jammert im Dorf herum. Ich selbst habe diesen Sommer gesehen, wie eine Bäuerin sich von ihrem zornigen Kinde ins Gesicht schlagen ließ, ohne eine Hand dagegen zu erheben, und ich würde diese ‚edle Menschlichkeit‘ in der Erziehung bewunderungswürdig finden, wenn nur nicht so viel freche meisterlose Buben und arbeitsscheue leichtsinnige Mädels von Dienst zu Dienst liefen, um schließlich noch die Anklagebank zu zieren. Und derartige Erscheinungen, zusammengehalten mit der Unbescheidenheit und Blasiertheit unserer eigenen heutigen Jugend, bringen mich immer wieder zu dem Schluß, daß wir aus lauter Menschlichkeit schwachherzig geworden sind. Zucht, ganz ordentliche und tüchtige Zucht sollten wir anwenden, damit aus den merkwürdigen Kindern wieder folgsame und erfreuliche würden. An der geistigen Begabung des Einzelnen ist nichts zu ändern, darin haben Sie recht, allein Pflichtgefühl, Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit und Gehorsam – kurz alles das, was die moralische Reinlichkeit ausmacht, das müßte mit derselben Beharrlichkeit ohne alle Rücksicht auf Individualität anerzogen werden, wie man heutzutage die Körperpflege der Kinder überwacht – um daneben ihre Seelen verwildern zu lassen!“

In diesem Augenblick gab es drinnen im großen Zimmer Lärm, und Emmy eilte hinein. An der Thür traf sie mit der eben eintretenden Vilma zusammen, die sich liebenswürdig lächelnd entschuldigte, so herein zu schneien. Ihr Mädchen könne heute abend nicht abkommen, so habe sie selbst die Pferdebahn genommen, um Hedy abzuholen. Emmy begrüßte sie nur flüchtig, denn ihr Mutterohr vernahm aus dem streitenden Kinderknäuel Töne, welche ihr eine eben erfolgende Niederlage ihres Sohnes Moritz mit Sicherheit verkündigten. Eine Partei der Entrüsteten, Hedy an der Spitze, drang nach rückwärts, über ihren Köpfen aber erschienen Armbewegungen, die man bei minder gebildeten Kindern aus eine Prügelei gedeutet hätte.

Dem mütterlichen Ansehen gelang die Trennung der Streitenden, Moritz und Oskar, und die Aufhellung des Thatbestandes, der so bedauerliche Ausschreitungen veranlaßt hatte. Durch zwanzigfaches Zeugniß wurde festgestellt, daß gerade vorher die „Großen“ eine äußerst gelungene Dramatisierung von „Des Sängers Fluch“ aufgeführt hatten. Hedy thronte als rosenwerfende Königin an des wiederversöhnten Oskar Seite, der junge Sänger, eine niedliche Kleine, spielte statt der Harfe die Zuckerschneidmaschine, und den Alten stellte Fritz im weißen Flachsbart mit äußerster Würde vor. Zwar brach das Roß, als er den Sterbenden darauf lud, unter dem Tischtuch entzwei, aber, es schloß sich sofort wieder zusammen, und die im höchsten Pathos heruntergedonnerten Fluchworte fanden stürmischen Beifall. Dadurch war bei Moritz der Ehrgeiz erregt worden. Er fühlte seine Altersklasse überhaupt schon den ganzen Nachmittag von den Großen unterdrückt, gedachte also einen Hauptschlag zu thnn und Schiller zu dramatisieren. Schnell traf er seine Vorbereitungen, zog ein kleines dickes Mädchen, seine besondere Freundin, herbei, hängte ihr und sich die noch daliegenden Tischteppiche um und bestieg mit ihr das Pfeilerschränkchen. Die gewünschte Stille entstand, und der Tyrann Polykrates erklärte mit leidlicher Festigkeit, hier von seines Daches Zinnen mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hinzuschauen. Aber ach! als sein erhabener Gastfreund antworten sollte, da ergab es sich, daß „Aegyptens König“ den Schiller nicht kannte, also außerstande war, auf die Wandelbarkeit menschlichen Glückes in dichterischer Form hinzuweisen!

Ein Gelächter erhob sich, das dicke Lottchen brach in Thränen aus, und so nahm die Vorstellung ein ruhmloses Ende. Moritz war wüthend, er stieß die weinende Gefährtin seiner Schmach von sich, da traf ihn ein Hohnwort Oskars, das hinzunehmen keine Gastfreundschaft der Welt gebieten konnte. Der Erwiderung „Schafskopf!“ folgte das Handgreifliche mit einer Kraft und Schnelligkeit, die man dem prügellos erzogenen Sohn Hoffmanns gar nicht hätte zutrauen sollen. Moritz hieb blind dagegen, und so standen die Sachen, als Emmy dazwischen trat und ihrem Söhnlein mit Flammenworten das Erniedrigende seiner Handlungsweise gegen den Gast klarmachte.

Es bedurfte trotzdem noch geraumer Zeit und der Einmischung beider Väter, um die Geister soweit zu beruhigen, daß ein friedliches „Wie lieben Sie’s?“ in Gang kommen konnte. Draußen ertönten indessen bereits einzelne Züge an der Klingel, das wirkte zauberhaft auf die Wiederherstellung der guten Stimmung, denn bekanntlich ist es unmittelbar vor dem Abholen immer am schönsten.

Vilma hatte während des Streites die kleine Sigrid, welche vereinsamt und unbehaglich dastand, mit sich nach dem Ecksofa genommen. Dorthin stürzte sich auch der junge Amerikaner, der nur in Hoffnung auf ihr endliches Erscheinen bisher ausgehalten hatte. Nun pflanzte er sich an ihre Seite mit der naiven Selbstverständlichkeit, die überhaupt sein Auftreten kennzeichnete. Francis Weston war ein langer schlanker Junge, stets tadellos gekleidet und mit einem Ausdruck harmloser Lustigkeit in seinem gutmüthigen Gesicht, der rasch für ihn einnahm. Mit der Unergründlichkeit der deutschen Satzverbindung stand er in bitterer Feindschaft, es gelang ihm aber nichtsdestoweniger, sich verständlich zu machen, und mehr begehrte Mister Weston nicht, besonders einem so reizenden Mädchen gegenüber. Heiter und liebenswürdig antwortete Vilma auf seine lebhaften Bewunderungsreden und auf Sigrids zwischendurchfahrende Fragen. Und zugleich prüfte sie innerlich mit ganz kalter Betrachtung die Schattenseite ihres Unternehmens. Ein unangenehmes Kind! Verzogen und unbequem, von gewöhnlichen Gesichtszügen – wohl der Mutter ähnlich, die er natürlich weiter vergötterte … Alles in allem, eine sehr lästige Zugabe! – Vilma streichelte, während sie das dachte, der anschmiegenden Kleinen die Haare aus der Stirn und beantwortete ihre dringende Frage, ob sie auch einmal zu ihr kommen dürfe, mit dem verlockenden Hinweis auf eine Kindergesellschaft, die nächstens bei Hedy stattfinden werde. Sigrid jubelte und Vilma empfand eine lebhafte Genugthuung. So waren die Fäden gelegt, ganz wie sie es sich vorher ansgedacht hatte; es mußte gelingen. Die Hand dieses Mannes bedeutete Reichthum, Ansehen, Befreiung von der bisherigen Armseligkeit – sie würde ihn zu gewinnen wissen, durch das Kind den Vater und den Mann durch ihre eigene Anziehungskraft. Vilma schätzte die Stärke derselben aus vielfacher Erfahrung ganz richtig; was ihr bisher noch nicht geglückt war, nämlich das Festhalten, das gedachte sie diesmal mit der vorsichtigsten Klugheit zu erreichen.

Aufstehend schob sie Sigrids Arm in den ihren und führte sie dem Kinderkreis zu neuem Spiele zu. Während sie sich anmuthig niederbeugte, um die Kleine auf einem Sessel zurechtzurücken, fiel ein Blick unter ihren gesenkten Lidern seitwärts und nahm den Gegenstand ihrer Gedanken wahr, der im Gespräch mit dem Hausherrn auf der Schwelle stand. Augenblicklich wandte sie den Rücken nach dieser Richtung und begann ein heiteres Gespräch mit Emmy, deren geheime Abneigung unter dem Eindruck von Vilmas einfacher Liebenswürdigkeit zu schmelzen anfing. Vielleicht hatte sie dem Mädchen doch Unrecht gethan!

„Da sehen, Sie, wie vergnügt Sigrid ist,“ sagte mittlerweile Linchen zu Thormann und schob ihn lebhaft über die Schwelle herein. Er ließ sich’s gern gefallen, denn so schwer er sich im ganzen zum Hierherkommen entschlossen hatte, so behaglich umfing ihn jetzt die gemüthliche Wärme in diesen Zimmern. Als nun vollends Sigrid den Kinderkreis durchbrach und sich mit einem jubelnden „Papa, Papa!“ an seinen Hals hing, [91] als gleichzeitig Emmy herankam und ihm die Hand gab und das Mädchen ihr zur Seite das schöne Haupt zum Gruß neigte, da hatte Lars Thormann zu thun, um die Vielfältigkeit dieser Eindrücke zu bewältigen und ein paar unvollkommene Dankesworte für die Freundlichkeit gegen sein Kind herauszubringen.

Emmy lobte dessen nettes Betragen, und Sigrid, um diesem Ausspruch Ehre zu machen, sprang mit immer neuen Tigersätzen gegen den Papa an, ihm Arme und Beine umklammernd. Er machte sich sanft von ihr los.

„Sie ist wirklich unbändig, ich verziehe sie,“ sagte er mit hilfesuchendem Blick, indem er ihr sachte über den Kopf strich. „Das wirft mir Fräulein Wiesner immer vor. Aber wie abhelfen? Ich hoffe nur, sie wird selbst vernünftig, wenn sie einmal erwachsen ist! Geh’ jetzt, mein Herz, und spiele noch mit den andern! Du mußt Dich bald genug verabschieden.“

Doch davon wollte Emmy nichts hören. „Nein, nein, Sie sehen sich das Spiel noch ein Weilchen an. Setzen Sie sich dorthin – Vilma, Sie unterhalten mir Herrn Thormann, ich muß nur einmal drinnen nach den übrigen sehen!“

Und sie unterhielten sich; der menschenscheue Künstler vergaß ganz seinen Widerwillen gegen elegante Damen, während er mit dieser sprach. Es überraschte sie wohl, daß er mit keiner Silbe des Weihnachtsengels gedachte, sondern anfing, seine Freundin Karoline zu preisen, sie stimmte aber sofort lebhaft zu und versicherte mit soviel Wärme, wie sie sich stets in deren Nähe gehoben und veredelt fühle, daß der wahrhaftige Mann an ihrer Seite sie freundlich ansah.

„Sie leben wohl sehr in der großen Welt?“ fragte er etwas zweifelhaft.

„Die große Welt ist schließlich immer eine recht kleine,“ gab sie lächelnd zur Antwort. „Es ist stets derselbe Menschenkreis, in dem man sich bewegt. Und oft fühlt man deutlich genug, daß man Besseres thun könnte. Allein es liegt bei uns soviel in den Verhältnissen ... Mama ist eine sehr gesellige Natur, und ich habe nicht die Willenskraft meiner älteren Schwester, die gar nicht ausgehen will.“

„Sie haben noch eine Schwester?“

„Eine sehr gelehrte sogar, die viel mehr werth ist als ich unwissendes Menschenkind!“ Sie hob voll Schelmerei die Augen zu ihm empor, aber er sah nachdenklich vor sich hin und das erwartete Kompliment blieb aus ... Ein schwerfälliger Mensch! Schwieriger zu behandeln als die Herren der Gesellschaft, bei denen dies der rechte Ton war! Indessen verfolgte er die durch ihren Anblick erweckten Erinnerungen von neulich und sagte plötzlich ganz unvermittelt:

„Können Sie mir vielleicht sagen, Fräulein, wer damals die Briefe für die Bazarpost geschrieben hat?“

Sie schaute ihn ohne Wimpernzucken an. „Nein, davon weiß ich nichts, ich hatte nur für den Christbaum zu sorgen, und sie thaten sehr geheimnißvoll mit ihrer Postexpedition. Hat man Ihnen auch einen schlechten Witz geschrieben?“

„Das nicht gerade,“ erwiderte er langsam in ruhigem Tone. Sie wartete auf mehr, es kam jedoch nichts nach; dieser ungelenke Mensch besaß die Kunst des Schweigens offenbar als Naturgabe. Aus dem Nebenzimmer erschienen nun die andern, Hoffmann richtete die dritte eindringliche Mahnung zum Gehen an seine Söhne, ohne mehr Beachtung zu finden als mit den beiden ersten. Aber zu seinem Glück wurde jetzt das Aufbrechen allgemein, man lief hin und her, Emmy stand umdrängt von frohen, dankbaren Kindergesichtern, die Abgehenden machten noch nach Kräften Lärm bis zum Vorplatz hinaus.

Sigrid stürzte herbei. „Papa, Fräulein Vilma hat mich eingeladen, sie hat einen Chinesen, der die Zunge herausstreckt, und Hedy ist auch so lieb mit mir, nicht wahr, ich darf hingehen? Bitte, bitte, Papa!“

„Nun ja ... versteht sich ...,“ kam es in einiger Verlegenheit von seinen Lippen. „Es ist sehr freundlich von Ihnen,“ wandte er sich an Vilma, die nebenan im Gespräch mit dem jungen Amerikaner stand. Dieser blickte wüthend auf: war denn der Grauhaarige wieder da, den er schon vorhin so dringend zum Teufel gewünscht hatte? Doch ohne seinen Zornesblick zu bemerken, fuhr Thormann fort: „Natürlich werde ich Sigrid schicken, sie sollte schon lange mehr unter Kinder ... aber dann erlauben Sie mir wohl auch ... meine Aufwartung ...“ Das weitere erstarb unter dem Schatten des graublonden Bartgestrüpps.

„Mama wird sich sehr freuen,“ erwiderte Vilma liebenswürdig. „Sie empfängt jeden Donnerstag Abend von fünf Uhr an.“

Ein freundliches Nicken noch, ein Kuß auf Sigrids Stirn, und hinaus war sie, begleitet von Francis, der ungestüm nach ihrem Mantel stürzte und ihn mit unbeschreiblichem Hochgefühl ihr um die feinen Schultern legte.

„Darf ich Sie auch machen meine Aufwartung?“ flüsterte er dabei nahe ihrem Ohr.

„Versteht sich –“ lachte sie, „und wäre es auch nur, um ein besseres Deutsch sprechen zu lernen! Komm, Hedy! Gute Nacht, Mister Weston!“

Er öffnete die Gangthür und im Abgehen traf ihn ein über die Schulter zurückgesandter Blick, der unsern Francis als den seligsten der Menschen zurückließ.




6.

Es war Donnerstag nach Weihnachten. Frau von Düring erwartete Gesellschaft, und ihr Salon schwamm in dem für zweifelhafte Einrichtungen so wohlthätigen Licht rosiger Lampenschirme. Um ihn zu erreichen, mußte man einen nassen Thorweg und sehr schlechte Treppen passieren; die Damen wohnten in einem Hinterhaus, dessen Lage zwischen ein paar kleinen Gärten übrigens die Möglichkeit gewährte, eine solche Wahl mit großer Vorliebe für Natur zu erklären. Und die Gesellschaft, welche gern die Armuth ihrer Mitglieder anständig umkleidet sieht, nahm die Erklärung an. Es wurde nicht einmal hinter dem Rücken der Witwe darüber gelästert, man kannte den Betrag ihrer kleinen Pension und fand es aller Ehren werth, wie sie mit ihren Mädchen durchzukommen verstand und noch alles Mögliche mitmachte.

Den Verhältnissen entsprach die Einrichtung. Was geschickte Hände zuwege bringen können mit alten Behängen und Teppichen, selbstgetrockneten Makartsträußen und selbstgemachten Papierblumen, das war hier geschehen. Kein Stückchen Möbel ohne schadhafte Stellen, aber alles so geschickt vertheilt, die fadenscheinigen Divans und Sessel in einem klugen Halblicht so zwanglos elegant herumgestellt, daß die Gesammtwirkung eine entschieden günstige war. Selbst die künstlerische Seite fehlte nicht: aus der großen Fundgrube Tirol hatte Frau von Düring letztes Jahr allerhand Dinge mit heimgebracht, die sie in den Sakristeien entlegener Dorfkirchlein aufgetrieben und welche, von kundiger Hand vertheilt, dem Salon jenen leisen Museumscharakter verliehen, die feinste Blüthe moderner Wohnungseleganz. Da standen rechts und links von einem eisenbeschlagenen Kasten, der den Christbaum trug, wie Wächter zwei lebensgroße holzgeschnitzte und buntbemalte Posaunenengel; aus einer altersschwarzen Chorbank waren verschiedene, ebenso merkwürdige als unbequeme Sitzgelegenheiten gemacht und mit bunten Decken behangen worden. Allerhand verschwärzte Krusten von Heiligenbildern konnten der spanischen Schule angehören, jedenfalls erfüllten sie ihre Aufgabe, große Stücke der schlechten Tapete zuzudecken, ganz ausgezeichnet. Das Bewußtsein, wie „schick und originell“ ihr Salon sei, hob Frau von Düring über seine sämmtlichen Mängel hinweg, Vilma in ihrem starken Gefühl für das wirklich Elegante zuckte heimlich die Achseln darüber, und der ernsthaften Paula war er einfach ein Greuel.

Die beiden Schwestern saßen, nach beendigten Vorbereitungen, in Erwartung der Gäste schweigend da. Vilma machte für die Familie überhaupt niemals Aufwand an Liebenswürdigkeit, und Paula hoffte, noch schnell einen Posten lateinischer Fürwörter zu erledigen, da ihr die eigentliche Arbeitszeit heute genommen war. Ihr über das Buch geneigtes Gesicht hatte nicht entfernt den Liebreiz von Vilmas sonnigen Zügen, jedoch eine klare Ruhe lag auf dieser festen, von braunem Haar schlicht umrahmten Stirn. Wenn sich die dunkelgrauen Augen hoben, so war ihr Blick sicher und prüfend, wohl geeignet, das männliche Verdammungsurtheil hervorzurufen: „Hier herrscht der Verstand über das Gefühl!“ Paula kümmerte sich darum nicht, ihre ganze Seele strebte unverwandt einem Ziele zu, und dies hatte mit Gefallenwollen nichts zu schaffen. Sie trug dunkle Farben, während [92] Vilmas schlanke Figur in einem einfachen aber tadellos sitzenden weißen Wollkleid sich sehr vortheilhaft ausnahm. Dieses wie die gesammte Toilette von Mutter und Schwestern war das Werk ihrer geschickten und fleißigen Hände, allein sie verbarg das gleich einer Schande, und niemand kam in das Hinterstübchen, wo sie sich an der Nähmaschine abmühte, während das Mädchen vorn den Besuchenden „Fräulein ausgegangen“ meldete.

Quis, qui – quid, quod – aliquis, aliqua, aliquid –“ murmelte jetzt Paula vernehmlich vor sich hin.

Vilma brach in helles Lachen aus. „Ich würde an Deiner Stelle fortlernen, auch wenn die Leute da sind!“

Paula sah auf. „Das würde ich am allerliebsten thun, statt die Zeit damit zu verlieren, die nichtigen heuchlerischen Reden dieser Menschen anzuhören.“

„Oho, nur nicht so von oben herunter! Du bist doch recht froh über die gesellige Stellung, die wir uns und Dir bei diesen Menschen erhalten.“

„Unsere Stellung!“ Paula lachte bitter auf. „Ich bitte Dich, Vilma, nenne mir das Wort nicht! Mitleidige Duldung, das trifft eher zu ... Ich sehe ja ein, daß es so weiter gehen muß, um Dir vielleicht eine wirkliche ‚Stellung‘ zu erringen. Was die meinige betrifft, so will ich sie mir künftig selbst verdanken, will selbständig mein Brot erwerben und nur diejenigen ‚Freunde‘ nennen, welche diesen Namen verdienen.“

Vilma beugte sich über eine blühende Jardinière, die Francis Weston zu Weihnachten geschickt hatte, und sog den Duft ein. „Sehr edel!“ sagte sie in demselben ironischen Ton wie vorher. „Nun, da kannst Du gleich heute abend eine vorläufige Auswahl treffen. Es kommen ja verschiedene von Deiner Art; Mama hat Bedürfniß nach Erweiterung ihres Kreises – wir gehen jetzt zu Litteratur und Kunst über.“

Paula unterdrückte einen Seufzer – sie kannte das regelmäßig wiederkehrende Symptom „Neue Menschen!“ und sie wußte so genau, was stets hinterher folgte – aber ihre Miene hellte sich doch etwas auf, als Vilma jetzt die Erwarteten herzählte: Thormann und Fräulein Wiesner, das Ehepaar Walter, die man sämmtlich noch einmal bestimmt auf heute eingeladen hatte, um ihres Erscheinens sicher zu sein.

„Und Doktor Seiler,“ fügte sie noch hinzu, „Du weißt doch, der gefeierte Kritiker vom Tageblatt, welcher neulich eine so reizende Schilderung über den Christengel in seinem Bazarbericht brachte.“

„Hat er denn hier Besuch gemacht?“

„Natürlich!“

„Ohne daß Ihr ihn aufgefordert habt? ... O Vilma, Vilma!“ brach sie aus, als jene einen Augenblick zögernd schwieg, „hast Du denn gar kein Gefühl für das Entwürdigende eines solchen Lebens? Meinst Du, die andern sehen dieses ewige Haschen und Angeln nicht und verachten es nicht nach Gebühr? Ich möchte vor Scham in die Erde sinken, wenn ich daran denke!“

„Du bist eine lächerliche Pedantin!“ rief Vilma zornig. „Was verstehst Du vom geselligen Verkehr –“

„Streitet Ihr schon wieder?“ tönte jetzt von der Thür her die Stimme der Mutter, die noch athemlos von der eilig vollendeten Toilette hereinkam. Neben ihren hochgewachsenen Töchtern sah sie auffallend klein und dick aus; ihre starken Formen waren in ein schwarzes Seidenkleid gepreßt, auf dem dünngewordenen Scheitel saß ein kleines Häubchen. Die Gesichtszüge mochten einst hübsch gewesen sein, jetzt waren sie roth und aufgequollen – die ganze Persönlichkeit machte den unerfreulichen Eindruck des Alterns ohne Würde.

„Nein, es ist doch schrecklich,“ fuhr sie jammernd fort, „daß Ihr auch nie Frieden halten könnt, Du hast sie gewiß wieder gereizt, Paula, mit Deinen überspannten Redensarten, Du fängst ja allemal an. Ich kann wohl sagen, Du bist der Kummer meines Lebens –“

Paula senkte die Augen und hörte ohne ein Wort der Erwiderung den weiterrauschenden Redestrom an. Plötzlich ging draußen die Klingel, die Vorwürfe verstummten jäh und lächelnde Freundlichkeit legte sich wie Oel auf die Wogen der mütterlichen Aufregung.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 4, S. 116–123

[116] Eine Stunde später war der „Donnerstag“ auf seiner Höhe angekommen, der Salon wollte die Menge der Gäste nicht fassen, man mußte das Nebenzimmer öffnen. Frau von Düring strahlte förmlich, sie überblickte, nachdem alle vorgestellt, untergebracht und mit Thee versorgt waren, voll Genugthuung das Ganze und sagte zu ihrer Nachbarin auf dem Sofa:

„Sehen Sie, liebe Excellenz, das ist doch ein ungeheurer Vorzug dieser Kunststadt, daß man so leicht interessante Menschen um sich haben kann. Zu uns drängen sie sich ja auch förmlich, besonders seit Vilma neulich auf dem Bazar solches Aufsehen gemacht hat. Es wird dem Kinde überhaupt in einer Weise gehuldigt … ganz merkwürdig, sage ich Ihnen …“

Die kleine gelbe Excellenz wußte genau, was nun weiter folgen würde, sie hörte also gar nicht hin, sondern schaute aus zusammengekniffenen Augen zu der Stelle hinüber, wo Vilma im lebhaften Gespräch mit Thormann etwas abgesondert von den übrigen stand.

„Ach so – eine neue Aussicht,“ dachte sie. „Also deshalb ist die gute Düring so aufgeregt. Hm, eine vornehme Erscheinung ist er gerade nicht, dieser Herr Maler, aber Vilma muß ja für jede gute Partie dankbar sein; wollen abwarten, ob sie ihn wirklich fängt …“

Zwischen den Gästen durch lief Hedy, um auf japanischen Schalen dünne Kuchenschnittchen und Brötchen, mit billiger Wurst belegt, anzubieten. Ihre schwarzbestrumpften Beine sahen etwas storchartig unter dem kurzen Röckchen hervor, aber Frau von Düring hielt darauf, bei ihrer Jüngsten den kindlichen Anstrich noch für einige Zeit aufrecht zu erhatten. –

Die „Interessanten“ hatten sich mittlerweile, einem gewissen Ahnungsvermögen folgend, aus der aristokratischen Region weg an den Mitteltisch verzogen, wo Paula den Thee eingoß, und waren bald in lebhafter Unterhaltung begriffen. Hier saß, in der Erwartung, daß Thormann auch dazu komme, Karoline Wiesner, dann Emmy, die für die ernste Paula eine große Vorliebe hatte, neben ihr der Medizinalrath, auch Doktor Seiler, der Journalist, war dabei. Vor ihm empfand Emmy eigentlich eine gewisse Scheu, denn er galt für eine böse Zunge, weil er gewöhnlich das sagte, was die anderen dachten. Sie blickte nach Hugo aus, er saß fest am Tisch der Excellenzen und entwickelte dort die untadelhafte Liebenswürdigkeit, welche der Stolz seiner Gattin war und sie für manches abgekürzte Verfahren in der eigenen Häuslichkeit tröstete. –

Die Erzählungen über das, was man in letzter Zeit „mitgemacht“ hatte, wurden ausgetauscht; Doktor Seiler erklärte es für ein traumhaftes Ideal, einmal wieder um elf Uhr nach dem Genuß einer guten Cigarre ruhig zu Bett gehen zu können.

„Dieses Glück genieße ich jeden Abend,“ sagte lächelnd Thormann, der nun auch seinen Sitzplatz einnahm, während Vilma sich für eine Zeitlang nach dem Zimmer der Jugend wandte. „Ich glaube aber nicht, daß Sie es lange aushalten würden, Herr Doktor!“

Dieser schlug nur schwärmerisch die Augen nach der Decke auf.

„Nun, wie war’s denn gestern bei Wenkheims?“ fragte ihn zu gleicher Zeit Emmy. „Haben Sie sich gut unterhalten, war es hübsch?“

„Unterhalten, meine Gnädige –“ er rückte den Kneifer höher und betrachtete sie erstaunt – „wie kommen Sie zu dieser seltsamen Frage? Unterhält man sich hier irgendwo bei einem Souper? Dann bitte, geben Sie mir die Adresse, daß ich schleunigst dort Besuch mache, ich möchte das gerne auch einmal erleben.“

„Sie können doch das Uebertreiben nicht lassen,“ sagte nun Linchen. „so schlimm kann es nicht gewesen sein!“

„Nicht schlimmer als gewöhnlich, aber doch sehr schlimm! Es ist ja immer dasselbe Elend: erst ein unangenehmes Herumstehen in einer Stube, die nur für halb so viele Platz hat, als drin sind, die Damen natürlich in einer Reihe auf dem Sofa und den Stühlen sitzend. Daß nicht eine jemals auf den Gedanken kommt, mit ihrer Theetasse aufzustehen und in das Gebiet der schwarzen Fräcke überzureten –“

„Das möchte ihr schön bekommen,“ lachte Emmy.

„Dann das Souper, der Haupt- und Glanzpunkt! Ein langer Tisch voller Leute, die ihre Ellbogen nicht rühren können; man macht krampfhaft Unterhaltung, eingekeilt zwischen zwei ältlichen –“

„Vorsicht!“ rief der Medizinatrath.

„Na ja, ich sage nichts weiter. – So geht es also fort bis zu Käse und Butter, ein paar schlechte Trinksprüche müssen auch noch angehört werden, und das heißen gebildete Menschen ein Vergnügen! Wenn man sich nicht hinterher im Rauchzimmer etwas davon erholen könnte, wäre es nicht auszuhalten.“

„So!" rief nun Emmy, zu erbost, um noch Furcht zu empfinden, „so, da kommen Sie mir gerade auf das rechte Gebiet, Herr Doktor! Dieses Ihr geliebtes Rauchzimmer ist eine ganz abscheuliche Einrichtung, daß Sie es nur wissen! Sonst fing nach dem Souper eine hübsche Unterhaltung an –“

„Die Töchter des Hauses musizierten!“ warf er sarkastisch dazwischen.

„– und die Herren machten wenigstens den Versuch, liebenswürdig zu sein! Heute aber – wie unhöflich! – rennen sie ins Rauchzimmer, um zu Geschäftsgesprächen zusammen zu hocken und die Frauen im Nebenzimmer gänzlich unbeachtet zu lassen.“

„Ei, diese können sich ja ebenfalls untereinander vortrefflich unterhalten!“ lachte er heimtückisch.

[118] „Das thun sie auch, natürlich! ... Aber es ist doch wahrhaft komisch, sie mit ihren Männern einzuladen und dann abgesondert in ein Zimmer zu setzen. Wissen Sie, was die Männer ihnen mit einer solchen Gewohnheit stillschweigend sagen: um des Essens willen sind wir gekommen, das ist nun vorüber. Solange ihr jung und schön waret, thaten wir dergleichen, uns mit euch zu unterhalten. Nun an euch nichts mehr zu sehen ist, haben mir euch auch nichts mehr zu sagen, denn interessante Gespräche kann man mit Frauen nicht führen.“

„Ich glaube, Du thust den Männern Unrecht,“ sagte Linchen seelenruhig. „Sie sind meistens nach Tisch viel zu faul, um interessante Gespräche führen zu können!“

„Das war ein tiefes Wort, liebe Freundin,“ versetzte der Medizinalrath. „Aber außerdem erlauben Sie mir in aller Bescheidenheit noch hinzuzufügen, daß man solche Gespräche nicht gern vor Frauen führt, weil sie dieselben nicht verstehen. Sie sind völlig undiscipliniert für eine bedeutendere gesellige Unterhaltung. Ereignet sich der seltene Fall, daß einer anfängt, sachlich zu reden, so kann man darauf schwören, daß sofort zwei bis drei Damen ein Privatgespräch mit ihren Nachbarn beginnen. Thut man ihnen dann wirklich so Unrecht mit der Vermuthung, daß das Interessante sie nicht interessiere?“

„Jawohl thut man das,“ rief die Vorkämpferin ihres Geschlechts, „denn das Sachliche sind gewöhnlich Geschäfts- oder Dienstgespräche, die ohne Rücksicht auf uns geführt werden. Gerade umgekehrt verhält es sich, als wie Sie sagen! Die Männer haben keinen Sinn mehr für das allgemein Interessante, sie stecken in ihrem besonderen Fach, lesen nur ihre Zeitung, kümmern sich nichts um Kunst und Litteratur – ich behaupte geradezu, sie sind schuld an dem Niedergang der Geselligkeit!“

„Und den Hauptschuldigen vergessen Sie alle beide,“ fiel Thormann ein, der dem Streite bisher still belustigt zugehört hatte.

„Noch einer!“ rief der Doktor, „heraus mit ihm, damit er als Prügelknabe für beide Geschlechter diene! Wer ist es?“

„Nun, ich denke, die Gesellschaft selbst, die sich so sonderbar entwickelt hat. Warum müssen die Leute so oft auf diese Weise zusammenkommen, wenn sie nichts miteinander zu reden haben? Ich behaupte, ein denkender und arbeitender Mensch braucht nur ein sehr bescheidenes Maß von Gesellschaft, das heißt: von solcher Art. Einfaches Zusammenkommen, ein Gespräch unter ein paar guten Freunden, das ist eine andere Sache, das ist, was ich Geselligkeit nenne!“

Er sah, während er dies sagte, ruhig vor sich hin und konnte deshalb den glänzenden Blick nicht bemerken, der aus Paulas Augen auf ihn herüberfiel. Wie oft hatte sie inmitten ihrer öden Welt hier sehnsuchtsvoll das Gleiche gedacht, nun sprach es jemand offen aus! Sie mußte an sich halten, um jetzt nicht in lebhafte Zustimmung auszubrechen, aber ein einziger Gedanke, wieviel Zuvorkommenheit den Männern gegenüber in diesem Salon bereits ausgeübt werde, gab ihr die kühle Haltung wieder. Von ihr wenigstens sollte das niemand sagen!

„Mein Verehrtester,“ erwiderte indessen der Doktor, „Sie sprechen von einem zu hohen Standpunkt aus. Der schwache Mensch hat nun einmal das Bedürfniß, zu gewissen Zeiten mit seinesgleichen essend und trinkend zusammenzusitzen; von der Bauernhochzeit an bis zu unseren Unterhaltungsgesellschaften ist dieser Grund immer der gleiche!“

Da Thormann nur schweigend mit den Achseln zuckte, sagte Linchen: „Gut, dann soll unsere vielgepriesene Bildung diesen Grund wenigstens etwas besser verhüllen. Von allen Seiten stopft man die Leute voll mit Wissenschaft und Kunst, sie erleben die merkwürdigsten politischen und sozialen Veränderungen, sehen in einem Jahr mehr als unsere Vorfahren in zwanzig und können trotzdem, wenn sie beisammen sind, nur vom Theater oder vom Wetter reden. Mir kommt es immer zu sonderbar vor, wenn ich ihre Klagen über gesellige Langeweile höre.“

„Nun freilich,“ meinte der Medizinalrath. „Am lautesten schreien immer die, welche am wenigsten zur Unterhaltung beitragen, und die sind überall in der Mehrzahl. Wo es anders war, in jeder durch ihre Geselligkeit berühmten Zeit, da gaben eben eine handvoll geistreicher Leute den Ton an und beherrschten die anderen. Sind jene fort oder tot, so ist’s wieder aus; bei dem gewohntichen Menschen setzt sich Bildung nicht in Gedanken um.“

Doktor Seiler stimmte lebhaft zu. Beiden entgegnete Emmy mit gerötheten Wangen:

„Sie werden mich für sehr verwegen halten, wenn ich jetzt nochmals für uns Heutige spreche. Ich habe ein starkes Gefühl dafür, daß wir unserer Zeit verpflichtet sind und daß unsere Gleichgültigkeit ihre Uebel vermehrt. Die Gesellschaft, über die wir klagen, sind wir alle selbst, uns trifft die Verantwortung für ihre Langeweile, wir könnten sie sehr vermindern, wenn wir etwas mehr Rücksicht und freundliches Wohlwollen unter uns erwecken würden. Geistreiche Leute sind selten, gewiß, daraus folgt aber noch nicht, das der mittelmäßig Begabte das Gleichgültigste, Zufälligste, das ihm gerade einfällt, an seine Mitmenschen hinreden darf. Man macht körperlich Toilette für Gesellschaften, sollte man sie nicht auch geistig machen, nicht das in der Unterhaltung vermeiden können, was völlig verbraucht und selbstverständlich ist? Soll man sich nicht erinnern, das der Gastgeber für die Freundlichkeit der Einladung wohl die Gegenleistung einer thätigen Theilnahme an der Unterhaltung beanspruchen kann? Wenn die Gäste dessen eingedenk wären und die Wirthe von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen wollten, das Gespräch ein wenig zu führen und auf bedeutendere Dinge zu lenken – dann käme doch wohl auch für mittlere Menschen eine schöne erfreuliche Geselligkeit heraus, die das Essen und Trinken nicht als Hauptsache ansehen würde und das Rauchzimmer entbehren könnte.“

„Das wuSte ich,“ sagte der Medizinalrath lachend, „daß schließlich noch der ‚besagte Hammel‘ seinen Tritt bekommen würde. Gut denn – Sie sollen recht behalten„ schreiten wir zur Besserung! Natürlich müssen die Damen dann die Cigarren bei sich im Zimmer dulden –“

„Als ob die deutschen Frauen daran nicht schon längst gewöhnt wären, Sie Heuchler!“

„Dann hängen wir eine Tafel über das Sofa: ‚Kinder-, Toiletten- und Magdgespräche sind verboten‘.“

„Und an die Wand gegenüber: ‚Börsen-, Fakultäts- und Dienstgespräche ebenso‘.“

„Hierauf erinnere sich die gebildete Hausfrau ihrer geselligen Aufgabe: möglichst vorzüglich zu kochen, ein hübsches Gespräch auf die Beine zu bringen und dann – bescheiden zu schweigen, wenn ‚kluge Männer‘ reden!“

„Er ist unverbesserlich!“ rief belustigt die Malerin, aber ehe sie noch etwas hinzufügen konnte, erklang vom Jugendzimmer her eine scharfe hohe Sopranstimme, begleitet von den Tönen eines altersschwachen Flügels.

„O Gott!“ seufzte Doktor Seiler halblaut; Emmy und Linchen suchten um Paulas willen harmlos erfreute Mienen zu machen, und die erstere fragte: „Wer singt denn drinnen?“

„Frida Gersdorff, wie es scheint,“ erwiderte Paula frostig, dann stand sie rasch auf und wandte sich zu der Gruppe von jungen Mädchen, die nun in lichten Kleidern über die Schwelle hereindrängten, um ohne Verletzung der Schicklichkeit weiter plaudern und lachen zu können.

„Ja,“ sagte Linchen, während drinnen der „Mo–ho–hondesglanz“ in einem gis, welches halb g war, „hereinschien“ – „das ist die Frucht der theuer erkauften Stunden. Ich habe bis jetzt lauter Erfolge gesehen, bei deren Anhören man lieber aus dem Zimmer ging. Muß das Unglückswurm auch noch singen, es wäre an ihren übrigen Eigenschaften schon vollständig genug!“

Auf der Schwelle erschien jetzt Mister Francis und spähte nach Vilma aus, die ihm entschlüpft war, um Paulas verlassenen Platz am Tische dort einzunehmen. Bisher hatte er drinnen seine heißen Flammen an ihrem berückenden Lächeln und Blick genährt, das gedachte er fortzusetzen und trat hinter ihren Stuhl. Welch ein langweiliges Gespräch sie da führten! Und das entzückende Mädchen machte dabei gegen „den Alten“ ein verehrungsvolles Gesicht, welches Francis durchaus mißfiel. Er fühlte das Bedürfniß, mit etwas ordentlich Greifbarem diese Unterhaltung zu durchkreuzen, und sobald eine Pause von zwei Athemzügen Länge eintrat, beugte er sich vor und fragte ohne Umstände, ob Vilma morgen mit ihm Schlittschuh laufen wolle. Thormann betrachtete den kecken Burschen von der Seite, Vilma aber sagte: „Die Bahn ist ja noch gar nicht offen.“

„O doch, ich habe heute gelaufen schon.“

„Aber es ist ja polizeilich verboten!“ rief Emmy.

„O ja, Polizei verboten, dennoch es war ein sehr gutes skating. Polizei nicht konnte laufen als schnell als ich ...“

[119] Alle lachten, Francis blieb dabei, die Bahn werde morgen eröffnet, allein Vilma belehrte ihn mit soviel sittiger Würde, daß sie als junges Mädchen nicht mit einem jungen Herrn ohne Begleitung aufs Eis gehen möchte, und nickte ihm dabei so kurz verabschiedend zu, daß der verliebte Heißsporn nothgedrungen seinen Rückzug nehmen mußte. Thormanns helle Augen strahlten freundlich warm zu ihr hinüber. Das war endlich einmal wieder nach seinem Sinn, im übrigen behagte ihm die Atmosphäre dieses Salons sehr wenig und vor allem nicht die Herrin desselben, deren übertriebene Zuvorkommenheit ihn geradezu anwiderte.

„Sie ist Deine, sie ist Dein!“ klang inzwischen die tröstliche Schlußversicherung von drinnen her; ungemessenes Bravo aller derer folgte, welche den Gesang jämmerlich gefunden hatten. Man erhob sich allerseits, viele drängten ins Musikzimmer und bestanden heldenmüthig auf Fortsetzung der Qual. Aber es fehlte an weiteren Ausübenden: das eine Fräulein „genierte sich“, das andere hatte keine Noten da, Vilma selbst war nicht musikalisch. Plötzlich ertönte der Ruf: „Paula! Paula soll Violine spielen!“ Man stürzte sich auf das blasse Mädchen, das mit scharf zusammengezogenen Brauen in fast feindlicher Haltung dastand und auf alles Drängen nur mit kurzer Verneinung antwortete.

„Was für ein seltsam herbes Geschöpf,“ sagte leise Thormann zu dem Medizinalrath, „man sollte sie wahrhaftig nicht für die Schwester dieser reizenden Vilma halten.“

„Sie ist ein vollkommener Blaustrumpf,“ entgegnete dieser ebenso. „Will Medizin studieren, allein die Alte leidet’s nicht, ist so schon unglücklich genug über dieses Kuckucksei in ihrem Neste!“

„Aber Fräulein Paula, warum wollen Sie sich denn durchaus nicht hören lassen?“ bat jetzt einer der jungen Leute.

„Weil ich es nicht liebe, mich lächerlich zu machen,“ erwiderte sie schroff. „Das thut jeder, der seine ungenügende Fertigkeit zur Schau stellt. Lassen Sie mich, ich spiele sicher nicht!“

„Nun sehen Sie, so ist sie wieder,“ klagte voll Entrüstung die gleichfalls herbeigekommene Mama. „Statt es unseren lieben Gästen angenehm zu machen, gerade jetzt, wo alles so munter ist, diese unfreundliche Weigerung! Das ist wirklich häßlich von Dir, Paula!“

„Mama,“ flehte diese mit todbleichen Wangen, „ich bitte Dich!“ – und die Mutter, welche dieses Sprühen der Augen bei ihr kennen mochte, verzichtete verdrießlich auf weiteres. In demselben Augenblick flüsterte ihr Hedy ins Ohr: „Vilma kann ja tanzen!“ und Frau von Düring fuhr elektrisiert herum. „Ja, Du hast recht, mein Goldkind – Vilma, höre – meine Herrschaften, eine kleine Weile Geduld, dann sollen Sie eine Wiederholung des Schleiertanzes sehen, der neulich in der Pantomime auf dem Adlersbergschen Ball solches Aufsehen machte.“

„Aber Mama,“ rief Vilma in den allseitigen Beifall hinein, „wie kannst Du nur daran denken? Hier, allein ohne die anderen Mitwirkenden, ohne alle Stimmung dafür –“

„O, die Stimmung ist vorhanden,“ rief begeistert Francis und ihm nach ein halbes Dutzend junger Herren.

„Du tanzest Dein Solo!“ entschied die Mama. „Geh, drapiere Dich ein bißchen und komm schnell zurück! Frida kann dazu spielen, dort liegen ja noch die Noten!“

Thormann wartete auf eine entschiedene Ablehnung und fühlte sich unangenehm berührt, als Vilma mit einem der jungen Mädchen zu flüstern begann und dann, diese nachziehend, leichtfüßig aus dem Zimmer eilte.

Aber seine Stimmung hielt nicht an, als nach einer von der Jugend mit Gesellschaftsspiel ausgefüllten Viertelstunde draußen Tamburingerassel ertönte, Frida ans Klavier eilte und unter einem rauschenden Balletsatz Vilma ins Zimmer schwebte. Welch entzückendes Geschöpf! Feine schmiegsame Gewänder, goldgegürtet, zeigten ihren edlen Wuchs, goldene Ringe klirrten an ihren feinen Knöcheln und umspannten die bloßen Arme; ein duftiger Schleier, durchsichtig wie Spinnweb, umhüllte reizend Kopf und Gesicht und fiel bis zu den Füßen nieder. Die Hand mit dem Tamburin hing lässig zur Seite, nun erhob sie dieselbe und begann im Takt der Musik langsam hin und herzuschreiten. Aber bald wurden die Bewegungen schneller, sie warf das Tamburin zur Seite, zog den Schleier ganz allmählich vom Haupt und begann nun, sich neigend und beugend, ihn faltend und schwingend, ein so wundervolles Spiel, daß jedes Auge gebannt an dem Wechsel dieser Linien hing, und zuletzt, als sie nach leidenschaftlichster Bewegung plötzlich regungslos dastand, die herrlichen Arme mit dem Schleier hoch erhoben, das ganze vollendete Ebenmaß ihrer Gestalt zeigend, da brach ein Beifallssturm los, an dem auch der Künstler sich begeistert betheiligte. Mit der Hand an Stirn und Herzen grüßte die holde Tänzerin dankend und war dann entschwunden.

„Na,“ sagte der Landgerichtsrath, der es im Klatschen allen zuvor gethan hatte, indem er sich zu Thormann wandte, „das war einmal ein Anblick! Sind Sie nicht auch ganz bezaubert, Sie kühler Nordlandsrecke?“

Dieser fuhr wie aus einem Traum auf. „Bezaubert, ja, das ist der richtige Ausdruck. Aber ich glaube, es wird Zeit, den Zauberpalast zu verlassen, acht Uhr ist längst vorüber; ich habe meiner Kleinen versprochen, um diese Zeit zurück zu sein.“

„Wie? Sie wollen die Wiederkehr der schönen Vilma nicht abwarten, um Ihre Huldigung ihr zu Füßen zu legen? – Welch ein Bär!“ setzte er im stillen hinzu.

„Ich bin ganz ungeschickt, irgend wem Lobeserhebungen ins Gesicht zu sagen,“ versetzte der Maler ehrlich. „Uebernehmen Sie es für mich, Herr Rath, Sie besitzen darin viel mehr Uebung!“

Die Nothwendigkeit, sich bei der Frau des Hauses zu verabschieden, sah Thormann gleichwohl ein, allein diese war so umringt von begeisterten Gästen, daß er eine Zeit lang an dem Tische warten mußte, wo vorhin die Jugend ihre Schreibspiele gemacht hatte. Ein Berg von verkritzelten Blättern lag darauf, sein Blick streifte gleichgültig darüber weg, plötzlich aber sah er schärfer hin, ergriff eines der Papiere, betrachtete es genau und steckte es in seine Brusttasche. Dann verbeugte er sich vor Frau von Düring, beantwortete ihr eindringliches Angeln nach Lobeserhebungen mit einem gemurmelten: „O ja, gewiß, außerordentlich!“ und steuerte mit einem sonderbar gemischten Gefühle dem Ausgange zu. Halb zog es ihn zurück, und doch war er wieder froh, gegangen zu sein.

Zwei Stunden später, als alle Lampen gelöscht, Mutter und Schwestern im Bett waren, schritt Vilma noch in dem kaltgewordenen Salon hin und her. Er war entzückt gewesen, gewiß – das hatte sein Blick während ihres Tanzes deutlich genug ausgesprochen. Aber warum fand sie ihn nicht mehr, als sie zurückkam? Wie bei allen ausschließlich mit sich beschäftigten Leuten war Vilmas Menschenkenntniß sehr mangelhafter Natur, sie kam also endlich zu dem Schluß, daß eben eine starke innere Aufregung der Grund seiner schleunigen Entfernung gewesen sein müsse. Etwas ähnliches hatte ja auch aus den Worten des Landgerichtsraths geklungen, deren feurige Betonung sich auf der letzten, einem Ehemann gesteckten Grenze bewegte. Sie lächelte. So sollte jener sein, dann wäre seine Eroberung ein Kinderspiel! Indessen – es mußte auch so gelingen, sie hatte heute wieder ihre Macht gefühlt, sie würde triumphieren! –

Zur gleichen Stunde saß Thormann in seinem Arbeitszimmer, nachdem er die tausend Neugierfragen seines Töchterleins beantwortet und sie selbft endlich zu Bett geschickt hatte. Vor ihm lag der Zettel von heute abend und jenes Gedicht der Bazarpost. „Die Handschrift ist dieselbe,“ murmelte er vor sich hin, „hier flüchtig mit Bleistift, dort sorgfältig mit Tinte. Also doch aus diesem Kreis! Aber – von ihr kann es nicht kommen, denn sie zog sich ja eben während dieses Spieles an! – Pah!“ er griff nach der Zeitung, „es ist nicht der Mühe werth, darüber nachzudenken. Ich werde das Zeug in den Ofen werfen!“

Jedoch am andern Morgen lag das Zeug nicht im Ofen, sondern in einer Schreibtischlade zwischen Rechnungen, Briefschaften, Notizblättern und Banknoten, welche Herr Lars Thormann dort in anspruchslosem Durcheinander verwahrte, stets mit dem Vorsatze, „nächstens einmal“ aufzuräumen und gründlich Ordnung zu schaffen.




7.

„Der Sonntagnachmittag in der großen Stadt hat doch etwas seltsam Trübseliges,“ sagte Thormann zu sich selbst, als er in scharfer Januarluft seinen gewohnten Spaziergang durch die langen stillen Straßen lenkte. „Es ist die völlige Naturlosigkeit, die einen so widerlich anschaut, man wundert sich, daß der blaue Himmel in diese gemauerten Gänge hereinscheinen mag, wo er nichts zu sehen bekommt als heruntergelassene eiserne Rollläden und verschlossene Hausthore. Selbst die Stille, die in der Natur [120] so köstlich ist, wirkt niederdrückend, man fühlt in jedem Augenblick, daß hier alles tot ist, wenn der Kramladen schließt ... Ich könnte es nicht lange mehr in diesen Straßen aushalten!“

Und während er über die dünne trockene Schneedecke weiter schritt, den Blick geradeaus gerichtet, versanken ihm die nüchternen Häuserreihen und sein inneres Auge wandte sich weit in die Vergangenheit zurück, zu den Sonntagnachmittagen seiner Jugend in der nordischen Heimath. Er sah sich wieder auf den grünen moosbewachsenen Felsblöcken am Ufer des Fjords. Die Frühlingssonne lag warm auf dem Rasen, drüben auf der Anhöhe stand das Kirchlein von Bergsöe, zu dem sie alle am Morgen im Nachen herübergekommen waren. Er hatte dann im Pfarrhause zu Mittag bleiben dürfen, und nachmittags machte er mit Hilde, dem blonden Pfarrtöchterlein, weite Kletterpartien über die Felsen, sie suchten nach den ersten Blumen, legten sich in den warmen Sonnenschein und genossen recht von Herzen das unermeßliche Lebensgefühl der Kindheit. Das waren goldene Zeiten! Dann kamen schwere: der Kampf um die Kunst mit seinem bäuerlichen Vater, die Jahre des Arbeitens und Strebens im fernen Lande, während ihm Hilde daheim in wandelloser Treue anhing, und endlich die kurzen Glückszeiten, wo sie sich angehören durften. Vier Jahre – das letzte getrübt durch ihr schweres Leiden – dann war sie ihm entrissen, die einfache Frau mit dem warmen Herzen. die in ihm ihr Alles auf Erden umfaßt hatte ... Sein nach innen gekehrter Blick sah deutlich ihr Bild – die stattliche Figur, das schlichte aschblonde Haar um das ruhige Gesicht, die anspruchslose Kleidung ... Heute wäre sie vierzig wie er selbst ... sonderbar, er hatte früher nie daran gedacht, daß sie eigentlich alt für ihn war! Und ganz allmählich tauchte hinter dem blassen Bilde der Verstorbenen ein rosiges Köpfchen auf mit lichtblonden Haaren und schaute ihn aus tiefen Augen fragend an.

Seine Schritte beschleunigten sich. „Unsinn, Unsinn!“ murmelte er hastig vor sich hin – wie ihm der Gedanke gerade bei solchen Erinnerungen kam! „Laß Sigrids zweite Mutter nur gut sein!“ hatte sein sterbendes Weib gebeten und, als er im tiefsten Schmerze ein verzweifeltes: „Nie, nie!“ stammelte, sanft hinzugefügt: „Denk’ an dies Wort – nur gut!“ ... Und jetzt mußte er daran denken.

War jenes Mädchen gut? Konnte sie die Nachfolgerin seiner reinen edlen Gattin werden, eine Gefährtin seiner einsam gewordenen Seele, eine Mutter für Sigrid? Das letztere wohl am ehesten, das Kind schien ja ganz entzückt von ihr – aber auf die übrigen Fragen fand der zweifelnde Mann keine Antwort. Widerlich war ihm eigentlich alles dort im Hause gewesen, die schäbige Eleganz und erheuchelte Vornehmheit, die entsetzliche Mutter mit ihrem Kreise von Intimen, der unangenehme Blaustrumpf Paula, alles – bis auf die schlanke Gestalt im weißen Kleide, deren unaussprechlicher Reiz, erquickend für das Künstlerauge, immer und immer wieder in seiner Erinnerung lebendig ward ... Seltsam! Nun hatte er lange Jahre ruhig im gewohnten Geleise gelebt, und beim ersten Male, wo er sich hervorlocken ließ, fing gleich die Unruhe an. Karoline Wiesner war eigentlich an der ganzen Sache schuld mit ihren wohlmeinenden Bestrebungen für Sigrid. Oder hatte sie tiefere Absichten? Gestern noch sagte sie scheinbar ganz unbefangen, als von Vilma die Rede war: „Das Mädchen ist vortrefflich angelegt, sie hat die geistige Anmuth, die bei uns so selten ist, und viel gute Eigenschaften. Aber aus ihrer Umgebung müßte man sie bald herausnehmen.“ Galt das ihm? Thormann fühlte sich unbehaglich bei solch mißtrauischem Nachsinnen. Seine gerade Natur war dafür nicht gemacht, er vertraute gerne rückhaltlos; nur wünschte er nicht, von fremdem Willen geleitet zu werden, und konnte sehr schroff sein, wo er derartiges merkte. Freilich, was berechtigte ihn denn bis jetzt, an einen Plan der offenen und ruhigen Freundin zu glauben? Er selbst war nicht unbefangen, das war das Ganze!

So in tiefe Gedanken verloren, durchkreuzte er allmählich die Altstadt und gelangte, ohne es zu merken, in die Vorstadtviertel gegen den Fluß zu, wo verwahrloste alte Häuschen neben hohen Miethkasernen stehen und am Straßenende die verkrüppelten Weiden der Uferböschung sichtbar werden. Die ungewohnte Umgebung weckte ihn doch allmählich aus seinem Sinnen auf, er musterte im Vorbeischreiten den Kleinhandel der Straße, der durch die Sonntagsfeier nicht beschränkt wird, und las gedankenlos die Firmenschilder der meist aus der innern Stadt hierher verzogenen technischen Betriebe. Plötzlich fiel ihm eines unter den Schildern auf, das die Inschrift „Lehrlingshort“ trug, und zugleich vernahm er Musik und singende Stimmen aus einem Raume zu ebener Erde. Neugierig, einen Blick in die Anstalt zu thun, für die er alljährlich seinen Beitrag zahlte, ohne sie jemals gesehen zu haben, trat er ans Fenster und überblickte von da einen ziemlich großen Saal, den einige Dutzend Knaben in sauberen Sonntagskleidern erfüllten. An Tischen sitzend oder stehend, sangen sie zur Violinbegleitung das Lied vom „guten Kameraden“. Die Violine aber ruhte am Halse einer schlanken dunkelgekleideten Mädchengestalt, welche am obern Saalende stand. Und – Thormann fühlte ein grenzenloses Erstaunen in seinem Innern aufsteigen – dieses Mädchen war keine andere als Paula von Düring, der unangenehme Blaustrumpf, der sich neulich beim Empfangsabend der Mutter so schroff und abweisend gezeigt hatte. Hier stand sie als eine ganz andere, mit anmuthig geneigtem Kopf, freundlich lächelnd, und strich so recht nachdrücklich, daß alle mitkommen konnten, die einfache Weise herunter.

„Mein – guter – Kamerad!“ erscholl es zum Schluß klar aus fünfzig jungen Kehlen; Paula nahm die Violine unter den Arm und klatschte der Kunstleistung Beifall. Dasselbe thaten einige Herren, die jetzt aus dem Hintergrund hervorkamen, und ein junges, sehr einfach gekleidetes Mädchen, das sich Paula näherte. Die beiden gaben sich den Arm und schritten nun auf und ab, bald hier bald dort an den Tischen stehen bleibend, wo die jungen Burschen mit Spielen und Lesen angelegentlich und, wie es schien, sehr vergnügt beschäftigt waren. Der stille Beobachter fühlte sich lebhaft angezogen. Sollte er eintreten? Als Mitglied des Vereins konnte er es. Aber dem großen Manne klebte stets eine gewisse Schüchternheit an, er stand also in unschlüssiger Ueberlegung – da sah er sich von innen bemerkt, und nun galt kein Zögern mehr, er klopfte an und trat ein.

Zwischen den aufstehenden Jungen durch kam der Vorstand des Lehrlingshorts freundlich auf Thormann zu, auch die beiden Mädchen hielten im Gehen inne und Paula erwiderte seinen Gruß mit ruhiger Unbefangenheit. Thormann erklärte etwas stockend seinen Wunsch, die Anstalt zu besichtigen, darauf wurde ihm mit großer Zuvorkommenheit alles gezeigt, die Spiele und Bücher, die Musikinstrumente, welche die armen Jungen mit Leidenschaft zu [121] beherrschen suchten, er sah ihre kunstreichen kleinen Arbeiten, hörte mit steigendem Antheil aus der Erzählung des Vorstandes, welch’ entscheidenden Einfluß auf den künftigen Arbeiter die hier erworbene Gewöhnung an gute Sitte, Sparsamkeit und Genügsamkeit habe, und betrachtete mit Hochachtung die Männer, die hier freiwillig ihren Sonntag opferten, um eine Anzahl junger Seelen dem frühen Verderben in der Großstadt zu entreißen. Er vergaß gänzlich, daß nur flüchtige Neugier ihn hereingezogen habe, es wurde ihm warm ums Herz unter dem Walten dieser echten Menschenliebe.

„Und hierher muß man also kommen, mein Fräulein,“ wandte er sich, nachdem alles betrachtet war, mit seinem gutmüthigen Lächeln an Paula, „um Sie spielen zu hören?“

„Diesen Zuhörern genügt es,“ erwiderte sie heiter, „also ist es hier am rechten Platze.“

„Und – halten Sie mich nicht für unbescheiden, aber es interessiert mich wirklich sehr: wie kommen Sie aus Ihren eleganten Kreisen gerade hierher?“

„Durch meinen Lehrer,“ entgegnete sie, das Wort „Latein“ unterdrückend, und bezeichnete mit den Augen einen jungen hübschen Mann, der vom andern Saalende angelegentlich herübersah. „Er widmet sich diesem Werke trotz seiner vielen Berufsstunden mit der edelsten Ausdauer, er erzählte mir davon, und so war es natürlich, daß ich ihm meine Hilfe dabei anbot.“

„Natürlich!“ dachte Thormann, „denn ein Einverständniß der beiden jungen Seelen wird hier wohl vorauszusetzen sein! – Und,“ fügte er laut hinzu. „was sagt Ihre Gesellschaft dazu?“

„Nichts, denn sie kümmert sich nicht um mich. Ich passe auch nicht hinein.“

Ihre Züge überschatteten sich mit dem Ausdruck, den er schon früher an ihr bemerkt hatte. Er fühlte seinen Mißgriff und sagte, bestrebt, den peinlichen Eindruck zu verwischen:

„Es ist sehr anerkennenswert, Fräulein von Düring, daß Sie in solch menschenfreundlicher Weise thätig sind ...“

Der wohlgemeinte Ton klang etwas schulmeisterlich, Paula warf den Kopf zurück und versetzte trocken: „Es macht mir Vergnügen, das ist alles!“

Dann trat sie einen Schritt zurück, gesellte sich wieder zum Töchterlein des Vorstands und ging mit ihr zu dem kleinen Hans, den sein „Großer“ mitbringen durfte, weil die Eltern das Kind allein ließen, um ins Wirthshaus zu laufen. Die Mädchen setzten sich zu ihm und halfen bei dem Kartenhaus, welches der kleine Mann gerade baute.

„Sonderbares Geschöpf!“ dachte Thormann, als er sich verabschiedet hatte und nun durch die öden Straßen heimwärts schritt. „Die ist doch gründlich aus der Art geschlagen. Wie sie sich überhaupt nur so entwickeln konnte?“

Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Emmy darüber zu fragen, er hatte ein Zutrauen zu deren tüchtiger und wahrhafter Natur und war ihr sehr dankbar, weil sie sein mutterloses Kind schon öfters zu den ihrigen hatte kommen lassen und es ebenso in Güte und Strenge hielt wie die eigenen.

Die verwöhnte Sigrid zitterte vor Verlangen, wenn sie zu dem einfachen Vieruhrbrot der Walterschen Kinder durfte, das vorlaute eigensinnige Mädchen wurde still und fügsam, sobald Emmys freundliche Augen den Kinderkreis beberrschten, und sie stellte neuerdings viel öfter, als dem Papa geheuer war, Gedanken an über das Glück, eine Mama zu haben. Auch Emmy selbst hatte neulich, als sie ihn in Linchens Atelier traf, eine Bemerkung so verloren hingeworfen; sie theilte die allgemeine weibliche Mißbilligung gegenüber vermögenden gutmüthigen und unverheiratheten Männern. Aber in Linchens ungemessenes Entzücken über den herrlichen Schleiertanz hatte sie damals nicht eingestimmt, sondern beharrlich geschwiegen. Das war Thormann aufgefallen. – Während dieser Ueberlegungen war er allmählich wieder in die innere Stadt gekommen und sah jetzt, an einer Kreuzung aufblickend, den Landgerichtsrath Walter vor einer Anschlagsäule stehen. Er schien aufmerksam die Plakate zu studieren, bemerkte aber zwischendurch doch den Herankommenden und sagte, dessen Gruß lebhaft erwidernd:

„Sehen Sie einmal dahin, wie das ‚stilvoll‘ ist – derlei muß doch einem Künstlerauge wohlthun!“ Lachend deutete er dabei auf ein Plakat, das einen neu erfundenen Bügelofen anpries. Vor dem Ofen stand in verzückter Betrachtung eine reich gekleidete Patrizierin des sechzehnten Jahrhunderts, zu ihren Füßen spielteu ein paar rosige Liebesgötter in dringender Gefahr, mit ihren kleinen Rückseiten ein Opfer des glühenden Ungethüms zu werden, das im übrigen mit liebevoller Genauigkeit bis zum letzten Riegel und Knopf naturgetreu abgebildet war.

[122] „Ja,“ sagte der Maler, „das ist echt, das wäre noch für ganz andere Dinge als für den Bügelofen ein gutes Aushängeschild. So weit hat man es mit der allgemeinen Erweckung des Stilgefühls gebracht. Unglückliche Renaissance – einst Blüthe des Erlesensten, heute ein trauriger Gemeinplatz, von der Mode befohlen, falsch angewendet, Schablone, Schablone wie so vieles andere! Es wäre wahrhaftig besser, wenn die große Menge, die es doch niemals zu einem personlichen Stilbegriff bringt, auch das Wort nicht als neues Bedürfniß aufgeschnappt hätte. Die wenigsten ahnen, wie grausam sie von ihrer Einrichtung totgeschlagen werden. Ich traf neulich einen, der seine traurigen Artikel schmierte an einem Arbeitstisch, dessen sich der große Lorenzo Medici nicht zu schämen gehabt hätte. Und er fühlte nichts von dem Gegensatz, er kam sich nur ungemein stilvoll vor.“

„Nun,“ lachte der Rath, „der ‚Stil‘ ist eben heutzutage nicht mehr der Mensch, sondern der Tapezier. Aber wo soll es schließlich hinaus? In drei Jahrzehnten haben wir glücklich die drei letzten Jahrhunderte verbraucht, Renaissance, Barock und Zopfzeit, jetzt stehen wir wieder beim Empire. Was weiter? Kommt am Ende ein Zukunftsstil, in welchem jeder Mensch seine Möbel frei wählt und so stellt, wie es seine Verhältnisse, seine Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten erfordern?“

„Das wäre dann wirklich Stil,“ sagte Thormann nachdenklich. „Nein, ich glaube nicht, daß die Mehrzahl so vernünftig wird. – Uebrigens, in meinem künftigen Hause werden Sie diesen Stil angewandt sehen.“

Das Gespräch nahm hiermit eine persönliche Wendung, und im weiteren Verlaufe erzählte Thormann dem Landgerichtsrath seine seltsame Begegnung von vorhin.

„Das sieht ihr wieder ganz gleich,“ fuhr Walter lebhaft heraus, „sie ist doch ein ganz absonderliches Geschöps!“

„Aber edel angelegt, wie es scheint?“

„Freilich, freilich, nur zu überspannt und weltfremd. Stellen Sie sich vor, daß sie vergangenen Sommer geradezu einen Volksauflauf veranlaßte, indem sie ein altes Weib, das von dem betrunkenen Sohne mißhandelt und in den Schmutz gestoßen wurde, nicht nur aufhob und tröstete, sondern auch noch an ihrem eigenen Arme nach Hause geleitete – wohlgemerkt, nachdem sie den rohen Bengel vorher tüchtig heruntergeputzt hatte.“

„Das war aber doch schön und muthig von ihr!“

„Gewiß! Allein denken Sie sich nur den Aufzug, das alte schmutzige, heulende Weib an dem Arme dieser jungen Minerva, sämmtliche Gassenbuben hinterdrein – es war wohl begreiflich, daß Frau von Düring bei der Kunde davon eine Ohnmachtsanwandlung bekam.“

„Was ist das eigentlich für eine Frau?“ forschte Thormann.

Walter sah ihn einen Augenblick an und pfiff leise durch die Zähne. Er theilte die Ansicht seiner Frau über unnöthiges Ledigbleiben bei Witwern, er befand sich jedoch im Gegensatz zu ihr hinsichtlich der Personalfrage, die hier möglicherweise in Betracht kommen konnte. Ihm mißfiel für diesen Zweck die hübsche Vilma nicht – ganz im Gegentheil! Einen vermögenden Mann mußte das anmuthige Luxusgeschöpfchen doch haben, also warum diesen hier abschrecken?

„Nun,“ versetzte er deshalb in etwas gedehntem Tone, „Frau von Düring ist gerade keine angenehme Persönlichkeit, aber gewiß nicht weniger werth als viele aus ihren Kreisen –“ das juristische Gewissen beglückwünschte sich zu diesem schönen Satze, dem noch der Schluß nachfolgte: „Ich habe nie eine wirklich nachtheilige Thatsache über sie vernommen. Daß sie arm ist, sehen Sie selbst, allein das ist nur ein Unglück, keine Schande.“

„Was war ihr Mann?“

„Offizier; ist schon lange tot.“

„Und Paula,“ fragte Thormann weiter, „warum steht sie in so scharfem Gegensatz zu Mutter und Schwestern?“

„Ja, mein Gott,“ erwiderte der andere, „das ist doch kein Wunder! Das Mädchen hat eine unbequeme Pedantennatur, sie gehört zu denen, welche für Männer keinen Reiz haben – absolut keinen. Und Mama Düring möchte die Töchter verheirathen, das kann ihr kein Mensch verdenken. Mit Vilma wird es keine Schwierigkeiten haben, aber Paula – nein, die halte ich für unanbringlich.“

„Ich denke, sie will studieren?“

Ja, und das ist der zweite heftige Streitpunkt zwischen ihr und der Mutter, die in solchem Entschluß geradezu eine Familienschande erblickt. Paula könnte auch nicht daran denken ohne die moralische und materielle Unterstützung des alten Professors Mayer, eines Verwandten ihres Vaters, der viel Geld für philanthropische Zwecke ausgiebt und dieses Studium mit auf das große Konto übernehmen will. Aber bis jetzt wehrt sich die Alte mit zäher Beharrlichkeit. Wie sie es fertig bringt, die Wohlthaten des alten Herrn anzunehmen und ihm zugleich die stärksten Grobheiten zu sagen – das ist ihr Geheimniß. Thatsächlich geschieht beides, und er hält aus um Paulas willen, für welche er eine schwer begreifliche Zärtlichkeit gefaßt hat.“

„Er kennt sie vielleicht von Seiten, die das erklärlich machen,“ erwiderte Thormann einfach. „Aber hier sind wir ja schon bei Ihrem Hause angelangt.“

„Kommen Sie mit hinauf?“

„Nein, ich danke, ich muß heute abend noch allerhand erledigen.“

Und die beiden trennten sich. Der Landgerichtsrath kam sehr aufgeräumt bei seiner Frau an und ließ in seinem allerdings etwas freien Bericht über die gepflogene Unterhaltung nicht undeutlich merken, daß Thormann „Symptome für Vilma“ zu haben scheine. Daß sie sofort auf den Köder biß, freute ihn sehr, er hüllte sich ihren dringenden Fragen gegenüber in vielsagendes Schweigen und zuckte nur zweideutig die Achseln, als sie die entschiedene Hoffnung aussprach, daß Thormann klug genug sein werde, sich nicht in den plumpen Schlingen dieser gewissenlosen Kokette zu fangen.




8.

„Er kommt wirklich nicht ...“ Wieder einmal, wie schon öfter diesen Abend, streiften Vilmas Blicke über die bunten Gruppen des Ballsaals und den Kreis ihrer Verehrer nach dem Eingang hin, und sie fühlte allmählich eine solche Enttäuschung in sich aufsteigen, daß es ihr schwer wurde, die gewohnte sieghafte Heiterkeit noch weiter über die Jünglinge hinzustrahlen. Sie war so schön diesen Abend, so weit über das gewöhnliche Geputztsein der anderen hinausgehoben durch ihre herrliche Gestalt und die überlegen einfache Besonderheit ihrer Toilette – so wollte sie von Thormann gesehen werden, begehrenswerth vor vielen, um endlich einmal das Begehren in ihm ernsthaft zu schüren. Und es sollte außerdem eine Machtprobe sein. Gelang es, ihn aus seiner stillen Schwerfälligkeit heraus und hierher zu ziehen, dann war endlich die Sicherheit gewonnen, die sich ihrem spähenden Blicke bis jetzt noch nirgends zeigen wollte.

Die Beziehungen waren ja gewachsen. Thormann erschien öfter bei den Sitzungen im Atelier Linchens und schien lebhaften Antheil an dem Porträt zu nehmen, außerdem bot Sigrids stürmische Liebe zu Vilma manche Gelegenheit, sich dem Vater in günstigem Lichte zu zeigen, und so war allmählich der Grad von näherer Bekanntschaft erreicht worden, wo das Entscheidende in Sicht kommt. Bis hierher kannte Vilma den Weg von früher her genau, weiter aber war sie niemals gelangt, und nun schlug ihr das Herz beim Gedenken an den ungeliebten Mann. Um ihn zu gewinnen, that sie sich vielfach Gewalt an, entwickelte ganz neue Gemüthsseiten und Lebensansichten – allein kein Mensch kann auf die Dauer gegen seine Natur leben, und Vilma folgte den Gesetzen der ihrigen, als sie erst im Scherze, dann dringender den ernsthaften Mann zu überreden suchte, auf ein Stündchen hierher zu kommen. Ein Souper im Nebenzimmer mit Walters, ein bißchen in den Saal hineingucken – was war denn daran so Großes? Mit Bitten und Lächeln und allerliebstem Schmollen hatte sie ihm ihre gänzliche Ungnade verheißen für den Fall, daß er ausbliebe, und jetzt war es beinahe elf Uhr, die Souperpause fing an, und er – blieb aus!

Sie zerrte heimlich an den Bändern des Prachtbuketts, das ihr Francis Weston geschickt hatte, und bedachte die in längeren Zwischenräumen aufsteigenden Gedankenblasen dieses harmlosen Jungen mit so scharfen Vernichtungshieben, daß er erstaunt aufsah und die plötzliche Veränderung ihres Humors ebenso wenig ergründen konnte als sie selbst die Ursache von Thormanns Wegbleiben.

Diese aber bestand ganz einfach in einem gewöhnlichen Blatte Papier. Sigrid hatte es von Dürings mitgebracht, weil ein paar [123] sehr schöne Balldamen von Hedys verständnißvoller Hand darauf gezeichnet waren. Es schien aus einem gewöhnlichen Schulheft herausgerissen zu sein, denn oben stand: „Aufgabe: Worin stimmen Afrika und Südamerika überein und in welchen Stücken sind sie verschieden?“ Und der Papa, dem sie das Blatt zeigte, er kannte die Schrift. Nachdenklich sah er lange darauf hin. „Klug ausgedacht – und doch nicht klug genug!“ murmelte er. Freilich, die Mahnung war ja nur eine ganz zarte – konnte es nicht denkbar sein, daß Vilma sich schon länger im stillen für ihn interessierte? Die männliche Eitelkeit machte einen langen Halt vor diesem Gedanken ... Aber wenn auch, der Schritt blieb unweiblich, widerstrebte seinem Gefühl. Und es kam noch etwas dazu. Gestern, als er auf seinem gewohnten Spaziergang aus nicht näher ersichtlichen Gründen zum Schlittschuhteich im Stadtpark gekommen war, hatte er, gedeckt durch einen großen Baum, Vilma doch mit dem jungen Amerikaner laufen sehen und dabei dasselbe berückende Lächeln, denselben vielsagenden Augenaufschlag, dieselbe Lebhaftigkeit der Rede bemerkt, die sie sonst ihm gegenüber entfaltete. Das hatte ihm zu denken gegeben auf dem Heimweg, den er auffallend schnell wieder antrat, und die Folge seiner Betrachtungen war, daß er dem Balle fern blieb ...

Dort ging mittlerweile das Vergnügen seinen bekannten Gang; das Souper war vorüber, der bedeutsame Tischwalzer wurde von den Töchtern hingebungsvoll getanzt, von den Müttern mit Argusaugen beobachtet, in den Nebenzimmern blieben nur kleine Tischgesellschaften zurück, welchen ein behagliches Gespräch zum Nachtisch mehr Genuß gewährte als die Drehbewegung draußen im vollen Saale.

„Dafür sind die Mütter da,“ sagte der Medizinalrath Hoffmann wohlwollend. „Geh’ nur, Malchen, und unterhalte Dich gut drinnen, ich bleibe hier noch ein wenig sitzen!“

Die Gattin, eine von den schüchternen Frauen, die immer wie vom Gewicht ihrer Häuslichkeit erdrückt scheinen, legte dem blonden blassen Töchterlein, das hier zum ersten Male in die Welt trat, die Hülle um, und beide steuerten mit verlegenen Mienen der Saalthür zu. Vor ihnen rauschte Vilma hinaus, umgeben von fünf sehr jungen Kavalieren. Francis trug das Bukett, er hatte sich beim Souper alle Rechte des ersten Verehrers zurückerobert und wich nicht mehr von ihrer Seite. Frau von Düring in einem Kleide von abgeblaßter lila Seide, einen altersgelben Hermelinkragen auf den runden Schultern kam hinterdrein. Sie warf im Abgehen einen Siegesblick nach dem Tische, wo Walters, Hoffmann, Doktor Seiler und eine Schriftstellerin seiner Bekanntschaft, Fräulein Alwine Neube, saßen.

„Wenn’s nur bald einmal etwas nützt,“ sagte Hoffmann halblaut zu Emmy. „Sie bezieht den Markt nun schon seit einer hübschen Reihe von Jahren.“

„Das ist nicht übel,“ lachte diese, „Sie als Ballvater so sprechen zu hören!“

„Ach so – Sie meinen wegen der Kleinen? Na, das hat gute Wege, die blüht einstweilen im Verborgenen hier. Sie hatte gewaltige Angst, herzukommen, ich rieth ihr, ruhig wegzubleiben, allein das bringen sie doch alle nicht fertig.“

„Einige immerhin! Vilmas eigene Schwester würde keinen Fuß hierher setzen.“

„Die freilich nicht. Aber das ist doch auch ein ganz überspanntes Geschöpf, kein normales Mädchen. Sie will ja im vollen Ernste Medizin studieren!“

„Und was, wenn ich fragen darf, erscheint Ihnen hieran so verächtlich?“ rief jetzt die Schriftstellerin und erhob kampfesmuthig das Haupt. Es war mit braunen Haaren bedeckt, die im Rücken zu einem Kinderzöpfchen vereinigt und mit einer rothen Schleife geschmückt waren. Vorn aber fielen sie in dichten langen Strähnen bis zu den Augenbrauen herab und verhinderten so jede indiskrete Nachforschung über die faltenlose Glätte der Stirn. Die lange Nase, der große Mund und die hervorquellenden Augen allerdings standen in einem gewissen Gegensatz zu der kindlichen Haartracht, ihr Gesammtausdruck ließ auf ein hochgradiges Selbstbewußtsein und verschiedentliche Lebenserfahrungen schließen. Alwine Neube hatte wenig Freunde, das heißt, sie hatte immer neue, und einer von diesen war Doktor Seiler, der heute die Ehre genoß, sie auf diesen Ball zu begleiten. Sie hielt darauf, noch junges Mädchen zu sein, wenn sie auch eine weibliche Begleitung als überflüssig erachtete.

Der Medizinalrath ließ einen kühlen Blick über ihre die Forderungen der Mode mit dem Ideal nicht ganz glücklich vereinigende Toilette gleiten und erwiderte trocken:

„Verächtlich finde ich das Frauenstudium nicht, nur sehr überflüssig, schon deswegen, weil es gänzlich aussichtslos ist.“

Fräulein Neube war nicht die Person, sich bei Abfertigungen von oben herunter zu beruhigen.

„Und warum ist es das?“ rief sie mit blitzenden Augen, „warum ist in Deutschland allein aussichtslos, was in der ganzen Welt, in England, Amerika, Frankreich, Italien, in Skandinavien und der Schweiz, ja sogar in Rußland bereits besteht? Sind die deutschen Frauen dümmer oder die deutschen Männer brutaler als die anderer Völker? Eins davon muß nothwendig der Fall sein!“

„Vielleicht beides!“ sagte Hoffmann philosophisch.

„Nein,“ erwiderte Walter, gegen das Fräulein gewendet, „keins von beiden. Die deutschen Männer wollen der Frau die Stelle erhalten, welche ihr Natur und Weiblichkeit anweisen, die Stelle am häuslichen Herde.“

„Die Natur!“ lachte sie auf. „Das Wort hat für mich, so angewandt, einen wahrhaft belustigenden Klang. Wissen Sie, warum die Naturvölker keine Frauenfrage haben? Weil sie ihre überschüssigen weiblichen Neugeborenen einfach umbringen. Eine wahre Barmherzigkeit gegen unsere deutsche Sitte, sie erst hygieinisch groß zu ziehen, um ihnen dann zu sagen: ‚So, nun sorgt für euch selbst! Ihr seid um eine Million in der Mehrzahl, zweiundvierzig Prozent von euch werden nicht geheirathet, also ernährt euch, nur beileibe nicht durch das, wozu ihr Lust und Begabung habt oder was viel Geld einträgt; das dürfen nur wir Männer thun. Trockenes Brot sollt ihr verdienen, Austern und Champagner aber behalten wir uns vor!‘“

Schön, dachte der Medizinalrath, da kann man ja auch offen reden! „Mit vollem Recht geschieht das,“ sagte er laut. „So lange noch die männliche Leistung der weiblichen in allen geistigen und den meisten körperlichen Dingen überlegen ist, so lange dürfen die Männer einen höheren Lohn für sich beandpruchen.“

„So sprechen die Unterdrücker! Erst knechtet man die Frauen durch Tausende von Jahren, dann wirft man ihnen vor, daß sie es nicht weiter gebracht haben. Wie sollen sie denn vorwärts kommen bei der baren Unmöglichkeit, ihre Fähigkeiten auszubilden und zu verwerthen? Sehen Sie doch die anderen, vom Vorurtheil der Jahrhunderte gedrückten Klassen an, die Juden, die Leibeigenen, die Neger! Ist nicht überall der Emanzipation unmittelbar ein ungeheurer Fortschritt gefolgt?“

„Die Frauen sind keine ‚Klasse‘,“ sagte Walter kopfschüttelnd, „sie standen von alters her auf derselben Stufe mit ihren Vätern und Männern. Hätte die Natur ihnen zwingende geistige Fähigkeiten verliehen, so wäre es für sie viel leichter gewesen, damit durchzudringen, als es heute für einen begabten Arbeiter oder Bauernjungen ist. Und doch setzt es dieser durch und kommt oben auf.“

„Sie vergessen“ fiel Fräulein Neube hastig ein, „daß in der Renaissancezeit, wo man die Frauen in Griechisch und Lateinisch unterrichtete, sofort eine Reihe davon als Gelehrte glänzte.“

„Und ihre Töchter sind ihnen nicht nachgefolgt, sind freiwillig wieder zum gewohnten Frauenleben zurückgekehrt, statt die kostbare Errungenschaft festzuhalten und weiterzubilden. Das spricht doch deutlich genug! Nein, die Natur will die Frau nicht im männlichen Berufe. Hervorragendes in Wissenschaft und Kunst leisten sie nicht, obwohl Tausende von ihnen die Mittel zur Ausbildung besitzen.“

„Und George Sand!“ fuhr das Fräulein auf. „Und Rosa Bonheur, George Eliot, die italienischen Naturforscherinnen, die tüchtigen Schriftstellerinnen unseres eigenen Volkes –“

„Ausnahmen, welche die Regel bestätigen,“ versetzte Hoffmann unerschütterlich. „Nennen Sie mir einmal die Dichterin eines großen gewaltigen Dramas, die Komponistin einer klassischen Oper, die Malerin eines bedeutenden Geschichtsbildes oder die Verfasserin eines bahnbrechenden wissenschaftlichen Werkes – püh, da hat es gleich Luft, meine Verehrte!“

„Sie verlangen sehr ungerechter Weise die Früchte des Studiums, um das wir erst kämpfen müssen. In hundert Jahren wird man Ihnen die Namen nennen!“



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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 5, S. 154–160

[154] „Ich will Ihnen den Beruf nennen, der eine sehr schlagende Illustration zu unserm Streite liefert,“ rief der Medizinalrath. „Warum giebt es beim Theater keine ‚Frauenfrage‘? Einfach deshalb, weil hier allein die Fähigkeiten und Leistungen ganz gleich sind. Die Primadonnen bekommen dieselben riesigen Gagen, feiern dieselben Triumphe, und keine Kritik der Welt könnte dem Publikum einreden, daß sie ihren männlichen Kollegen nachstehen,“

„Und doch haben sie sich auch dieses Feld erst vor zwei Jahrhunderten erobert.“

„Um sofort ihre Gleichbefähigung siegreich darzuthun. Das sollen die heutigen Damen nur nachmachen, dann kann man ihnen die geistigen Berufsarten dauernd nicht verschließen.“

„Ich denke besser von ihrer Befähigung als Sie stachliger Frauenfeind,“ brach nun Doktor Seiler sein bisheriges Schweigen, „ich glaube, daß sie in der That eine Anzahl von Berufen erobern werden, aber,“ dämpfte er sofort die aufleuchtende Augensprache seiner Freundin, „ich möchte eines dazu bemerken, was die Streiterinnen für Emanzipation stets außer Augen lassen: wir erfüllen allein die Wehrpflicht und haben ein Recht, für diese größere Last größere Begünstigung zu verlangen. Wenn die Frau auf jedem Felde mit uns wetteifern will, dann muß sie nothwendig ebenfalls Waffendienst oder eine gleichwerthige anstrengende Leistung zum Nutzen der Allgemeinheit übernehmen.“

„Wir lassen Ihnen ja dafür die Wahlfreiheit,“ sagte Emma lächelnd.

„Im Gegentheil, Ihr bestreitet sie uns, wo Ihr könnt,“ fiel ihr Gatte ein.

„Nein,“ erwiderte Fräulein Neube mit unendlicher Herablassung, „nein, ich bestreite sie nicht, weil es ja doch nichts hilft. Aber ich fühle mich nie mehr von der Ueberlegenheit des männlichen Geistes durchdrungen, als wenn ich am Wahltag meinen betrunkenen glotzäugigen Hausmeister, der für gewöhnlich in unverständlichen Lauten grunzt, zur Wahlurne ausrücken sehe. Ich sage mir dann: siehe da den geborenen Vertreter der Intelligenz! Du aber und deinesgleichen geht hin und kocht bis an euer Ende!“

Dies war dem Medizinalrath, der ohnedies einen bedeutenden Abscheu vor dem „geistreichen Frauenzimmer“ im allgemeinen hatte, zu viel. „Erlauben Sie, mein Fräulein,“ sprach er nachdrücklich, „das Kochen, ich meine das gute Kochen, ist eine der edelsten menschlichen Beschäftigungen; ich kann deren Herabsetzung durchaus nicht dulden. Freilich glänzen darin auch bloß die Männer, keine weibliche Leistung reicht an die der berühmten Köche hinan, Aber alle Ehre, tiefe Hochachtung den Frauen, die sich ernsthaft eines guten Kochens befleißigen! Sie thun größeres, als wenn sie Bände voll mittelmäßiger Novellen schrieben, Säle voll schlechter Bilder malten – von der Klavierqual ganz zu schweigen.“

Fräulein Neube war sonst um Erwiderungen nicht verlegen, allein ein so unmittelbarer Angriff auf die Reihe ihrer eigenen Novellenbände, welche dieser unverschämte Mensch zu den mittelmäßigen zu rechnen schien, machte sie sprachlos. Sie suchte noch nach einem möglichst vernichtenden Brandgeschoß, als Emmy, die bis dahin mit lebhaftem Antheil zugehört hatte, ihr zuvorkam.

„Lieber Freund,“ sägte sie mit dem ihr eigenen warmen Tone, „die meisten Mädchen würden glücklich sein, an ihrem eigenen Herde zu kochen. Ich habe noch nie eine gekannt, die das nicht selbstverständlich fand. Aber Sie hören es ja, viele Tausende müssen nothgedrungen andere Beschäftigungen suchen, sie genießen nicht den Schutz des Mannes, sollen als Mündige selbst für sich sorgen und werden fortwährend als unmündig und unfähig zurückgestoßen. Darin liegt ein so großer, trauriger Widerspruch, daß es kein Wunder ist, wenn die Begabten unter ihnen laut nach Gerechtigkeit, nach freier Bahn für ihre Kraft und Begabung verlangen. Es ist einfach grausam, sie alle, die keinen häuslichen Herd finden können, immer wieder auf denselben zu verweisen!“

„Also Sie sind auch für weibliche Aerzte, Richter, Prediger und Advokaten? Da machen wir ja ganz neue Entdeckungen, Walter!“

Aber dieser betrachtete vergnügt seine schöne, vor Erregung erröthende Frau und nickte ihr beifällig zu: „Nur los, Emmy, zeige einmal, was Du als Advokat leisten kannst!“

„Ich werde mich hüten,“ entgegnete sie lächelnd, „diesem schlimmen Feinde in die Fußangeln zu gehen. Ich vertrete nichts, was mir für unweiblich gilt, weder die Richterin noch die Parlamentsrednerin noch sonstige öffentliche Aemter der Frauen. Aber aus voller Ueberzeugung stimme ich denen bei, welche für unser Geschlecht die unserer Anlage entsprechenden Berufsarten verlangen, also neben den bisher üblichen den ärztlichen und den Lehrberuf in vollem Umfang. Ich habe eine Eingabe an den Reichstag mit unterschrieben, worin die Forderung ernsten Studiums, strenger Prüfungen, dann aber Ueberweisung des gesammten niederen und höheren weiblichen Unterrichts, an akademisch gebildete Lehrerinnen begründet wird. Kein Mensch kann begabten Mädchen die Fähigkeit bestreiten, nach mehreren Jahren ernster Arbeit zu ganz tüchtigen Geschichts-, Geographie- und Litteraturlehrerinnen zu werden, ganz abgesehen von ihren erzieherischen Eigenschaften. Also soll man auch den Frauen den Unterricht ihres eigenen Geschlechtes voll übertragen und damit zugleich das größere Gehalt, das bisher nur die Männer bekamen.“

„Sehr ungerechtfertigter Weise,“ schaltete Fräulein Neube ein.

„Gut, das will ich Ihnen zugestehen,“ sagte Hoffmann zu Emmy. „Für Töchterschulen mag’s reichen. Außerdem fiele dann auch die Anbetung der Oberklasse für den Litteraturlehrer weg, das wäre immerhin etwas. Aber gehen Sie mir mit dem ärztlichen Beruf! Wir brauchen nicht noch mehr unbedeutende Praktiker, als wir heute schon haben, und däs wäre alles, was man im besten Falle von den Frauen zu erwarten hätte!“

„Auf diesen Einwand giebt ein Buch Antwort, das mir neulich in die Hände fiel, und dem ich, ehrlich gestanden, meine neue Begeisterung für die Sache verdanke. Es heißt ‚Frauenbildung‘ von Helene Lange. Lesen Sie es einmal, Herr Medizinalrath, Sie werden über die sehr guten Gründe der Verfasserin erstaunen. Dort heißt es, wenn man die Grenze für den gelehrten Beruf da ziehen wolle, wo die selbständige Schöpferkraft aufhört, so wären mindestens neunzig Prozent aller Männer zugleich mit den Frauen ausgeschlossen – –“

„Neunundneunzig!“ warf Doktor Seiler dazwischen.

„Während die Frauen gerade durch ihre besonderen Fähigkeiten des Verständnisses, der Geduld und Hingabe vorzügliche Praktiker werden könnten, ja es heute in anderen Ländern schon vielfach seien. Ihnen dies bei uns hartnäckig verweigern, heißt doch den Verdacht erwecken, daß der Beweggrund viel weniger die Sorge für das Wohl der Frau als die Furcht vor ihrem Wettbewerb ist.“

„Nun natürlich!“ rief Fräulein Neube. „Die dummen faulen Jungen, die mit Nachhilfslehrern durch alle Gymnasialklassen gedrückt werden müssen, sie dürfen nicht durch fähige, leicht lernende Mädchen benachtheiligt werden. Denn wenn diese im Schlußexamen siegen würden, so müßte man ihnen ja das Studium erlauben und dadurch die Dummköpfe unter den Jungen zur Handarbeit verweisen. Also nur immer Einsprache erhoben im Namen der Weiblichkeit! Das klingt gut und hat außerdem noch die sämmtlichen beschränkten Frauen hinter sich!“

Emmy ärgerte sich im stillen über die unerwünschte Bundesgenossin, sie sagte daher kühl:

„Schon deshalb sollte das Frauenstudium durchgehen, damit endlich einmal die Ausnahmsansprüche der damit Beschäftigten aufhörten. Was ist’s denn so Großes? Wer Neigung und Talent hat, lernt ebenso selbstverständlich weiter, als eine andere ihren Haushalt führt. Das Verdienst ist in beiden Fällen sicherlich gleich, die [155] Weiblichkeit aber kann im einen sowohl als im andern gewahrt bleiben.“

„Das bestreite ich,“ rief Hoffmann lebhaft, „das medizinische Studium mit Männern zusammen schließt die Weiblichkeit unbedingt aus.“

„Es kann und soll auf eigenen Frauenuniversitäten betrieben werden,“ entgegnete Emmy. „Die großen englischen Anstalten, von welchen man hier so wenig weiß, beruhen alle auf diesem Grundsatz. Und im übrigen: was für eine Zumuthung für die Weiblichkeit von unzähligen Frauen ist es doch, sich mit einem männlichen Arzte über Dinge besprechen zu müssen, die zu hören für die Studentinnen als unweiblich gilt! Viele von uns können sich in der That nicht dazu entschließen und verfallen so dem Siechthum und frühen Tode. Aus diesem Grunde schon müßte hier das weibliche Ohr, die weibliche Hand gefordert werden – können Sie das leugnen? Ein berühmter Frauenarzt, Geheimrath Winckel in München, hat dasselbe einmal öffentlich ausgesprochen.“

Bedeutende Kollegennamen thun stets ihre Wirkung. Emmy benutzte das augenblickliche Schweigen ihres Widersachers, um hinzuzufügen: „Weiblichkeit! Wie wechselnd und vieldeutig ist dieses Wortes Sinn! Was heute für Mädchen als unverfänglich gilt: schlittschuhlaufen, schwimmen, allein reisen, tanzend in den Armen eines Mannes sich drehen, das hätte vor hundert Jahren die größte Empörung erregt. Und beachten Sie nur das Widerspruchsvolle in unserem eigenen Verhalten: dort im Saale legt jeder den Arm um die Taille Ihres Töchterleins und Sie sehen ruhig zu; wagt einer dasselbe morgen in Ihrem Hause, so werfen Sie ihn sofort hinaus. Das ist nur ein Beispiel für unser konventionelles Denken in Betreff der Weiblichkeit. Was aber entspricht echter, wahrer Weiblichkeit mehr: mit freier Seele ruhig den schweren Kampf des Lebens auf sich nehmen oder auf dem großen Markte da drinnen mit Heucheln einen ungeliebten Mann erobern, wie es in hundert Fällen täglich geschieht? Ich würde für meine Tochter das erstere wählen, und tausend andere Mütter denken ebenso!“

„Das bezweifle ich noch,“ sagte der Medizinalrath, „aber gut, ich will Ihnen zugeben, daß man die Frauen in allerhand geschäftliche Berufe soll eintreten lassen, ich will sogar annehmen, daß einzelne besonders Begabte zu Frauenärzten tauglich wären, allein es graut mir, wenn ich an den Schwarm von leichtsinnigen sensationslüsternen Damen denke, die sich auf die geöffneten Universitätspforten stürzen werden, wenn das Studium einmal Mode wird.“

„Nun, da ließe sich wohl vorbeugen,“ sagte Doktor Seiler. „Eine strenge Maturitätsprüfung zur Annahme, strenge Examina hinterher würden die Leichtsinnigen schon abschrecken, und der Umstand, daß die ganze Fachbildung in völligen Frauenanstalten zu erwerben wäre, müßte von vorn herein die Möglichkeit eines unziemlichen Treibens mit männlichen Studenten ausschließen. Frau Walter bemerkte vorhin ganz richtig, daß wir in Deutschland zu wenig beachten, was auswärts schon geschehen ist. In England geben die mit weiblichen Lehrkräften besetzten ‚High schools‘, tüchtige gründliche Lehranstalten, den Mädchen gute Kenntnisse fürs Leben und zugleich die Vorbildung für das höhere Studium. Einsichtige Männer haben an der Gründung mitgeholfen, Frauen aber leiten das Ganze und genießen das größte Ansehen, weil sie dasselbe leisten wie gute männliche Lehrer. Die Zulassung zur Universität kostete einen harten Kampf, allein eine entschlossene Dame, Miß Emily Davies, führte ihn mit solcher Ausdauer, daß sie schon im Jahre 1869 das erste College eröffnen konnte; die kleine Schülerinnenzahl hat sich rasch gesteigert, gegenwärtig blühen zwei große Frauenanstalten bei Cambridge, deren Schülerinnen mit den Studenten zusammen unter gleichen Bedingungen geprüft werden und oft genug die erste Note davontragen. Die Universität London verleiht ihnen den Doktortitel ebenfalls, und thatsächlich praktiziert in England eine große Anzahl weiblicher Aerzte, selbst als Vorsteherinnen an Hospitälern. Es ist also nicht einzusehen, warum das, was dort vollständig eingeführt ist, nicht auch bei uns versucht werden könnte. Wir haben uns lange genug besonnen – von den großen europäischen Völkern sind im Rückstand nur noch Türken, Ungarn und – Deutsche. Alle anderen haben das Frauenstudinm erlaubt.“

„Und die Anstrengnngen dabei, den Ruin der Nerven und Organe für die, welche es nicht aushalten, die rechnen Sie nicht? Der weibliche Körper ist doch nicht dazu gemacht, zwischen dem sechzehnten und vierundzwanzigsten Jahre von morgens bis abends zu lernen!“

„Und die vielen nervösen leidenden Frauen,“ fuhr Fräulein Neube dazwischen, „die von der Vergnügungsjagd abgematteten Seelen, die gar keiner Arbeit mehr fähig sind, die haben ja das ‚naturgemäße‘ Leben geführt und sind doch kaput! Wie kommt das? Lassen Sie die anderen nur ihres Weges gehen – je mehr durch das Studium geschädigt werden, desto angenehmer kann es den Gegnern sein. Aber ich fürchte, diese erleben das Vergnügen nicht.“

„Nein,“ versetzte Emmy, „in dem Langeschen Buche wird genau geschildert, wie man es im Girton College macht, um den jungen Mädchen neben den geistigen Anstrengungen Gesundheit, frohe Laune und körperliche Frische zu erhalten. Das wollte ich Ihnen vorhin alles erzählen, allein mit Euch deutschen Männern muß man ja immer erst über die Grundlagen der Berechtigung streiten und kommt zu keiner sachlichen Ausführung. Morgen schicke ich Ihnen das Buch und ein anderes dazu: ‚Aerztinnen‘, von Mathilde Weber, das lesen Sie einmal durch, Sie werden überraschende Thatsachen finden, und dann sagen Sie mir, ob Sie noch das Herz haben, den Worten dieser klugen gemäßigten und durchaus weiblichen Frauen ein starres ‚Niemals!‘ entgegenzustellen.“

„Der Stein ist im Rollen,“ seufzte Hoffmann. „Worte helfen da nichts mehr. Aber wenn ich künftig mit weiblichen Kollegen zu einer Berathung zusammentreten muß, dann werde ich mich sehnsuchtsvoll erinnern an die guten hilfreichen Bäschen und Tanten, die man früher holen konnte, wenn es Kranke in der Familie gab –“

„Und die man wieder als verspottete alte Jungfern in den Winkel stellte, wenn man sie nicht mehr brauchte,“ rief Fräulein Neube. „Nein, Herr Geheimrath, immer wird sich das weibliche Geschlecht nicht auf dem Altar der männlichen Selbstsucht opfern lassen!“

„Wir werden pflegen und helfen und uns stets erinnern, daß dies der erste Frauenberuf ist,“ klang Emmys freundliche Stimme dazwischen. „Jedoch die Armen unter uns müssen bessern Lohn finden und die vielen unthätigen, in ihrer Familie entbehrlichen Mädchen, die mit dem größten Wunsche nach Thätigkeit im täglichen Kleinleben verkümmern und verbittern, sie sollen zur Arbeit und dadurch zum befriedigenden Menschendasein emanzipiert werden.“

Während dieser letzten Reden begann es von draußen her lebhaft hereinzuströmen – die Musik war verstummt, Mütter eilten durchs Zimmer, die verlorengegangenen Familienhäupter aufzusuchen, Töchter erschienen unter den Thüren, die Hände voller Bukette. Man hatte vom Kotillon verständnißvoll nur die einzige Sträußchen- und Ordentour getanzt, nun war für viele kein Grund mehr, weiter zu bleiben. Alles erhob sich. Doktor Seiler lief schleunigst, um noch ein paar Blumen für Fräulein Neube aufzutreiben, es fiel ihm zu spät ein, daß er den Tischwalzer völlig vergessen hatte. Der Medizinalrath ging seinen Damen entgegen; Frau Malchen sah erzürnt drein und das Töchterlein hielt trübselig ein einziges Sträußchen zwischen den Fingern.

„Komm,“ sagte die erstere halblaut zu ihrem Manne, „ich habe jetzt völlig genug. Wir hätten nicht hergehen sollen, das Kind hat sich gelangweilt. Freilich, wo solche Geschöpfe den Ton angeben –“ sie warf einen giftigen Blick auf Vilma, die drinnen unweit der Thür stand, vom Lichtglanz umflossen, und lachend und scherzend die Last der Blumen, die sie nicht alle selbst tragen konnte, ihren Verehrern zum Aufheben übergab.

Der Medizinalrath fühlte ein ganz neues Unbehagen in sich aufsteigen. Er sah auf sein blasses Töchterchen und bemerkte zum ersten Male, wie ausdruckslos ihre Augen über der kurzen Stumpfnase und den aufgeworfenen Lippen standen. Auch die Gestalt machte sich nicht besonders. „Hm!“ dachte er, „hübsch müßte ein Mädchen freilich sein, was soll man sonst mit ihm anfangen!“ Und laut sagte er zu der gleichfalls im Aufbruch begriffenen Emmy: „Sie haben ganz recht, es ist doch ein zweifelhaftes Vergnügen, so ein Ball; über unserem Gespräch habe ich [156] freilich nicht bemerkt, wie die Zeit vergeht, aber meine Frau – sie ist das lange Ausbleiben nicht mehr gewohnt – ich denke, wir gehen, liebes Kind.“

„Haben Sie sich gut unterhalten, Helenchen?“ fragte Emmy.

„O ja,“ versicherte diese lebhaft. „Es war wirklich ganz reizend.“

Und die Mutter nickte zufrieden ihrem Töchterlein zu, welches die Hauptkunst im Frauenleben so schnell und richtig begriffen hatte.




9.

Die Märzsonne schien hell in das gemüthlich warme Eßzimmer herein und gerade auf die lange Weißbrotschnitte, welche Francis Weston langsam und ausgiebig mit Butter bestrich. Er war ein grundsätzlicher Feind des Frühaufstehens und erschien erst im Frühstückszimmer, wenn die Walterschen Kinder längst in der Schule saßen und deren Mutter auch schon den anstrengendsten Theil ihrer Morgenpflichten hinter sich hatte. Dann war ihr eine kleine Ruhepause ganz willkommen, sie setzte sich als Zuschauerin zu seinem umständlichen Theetrinken; Klein-Maja kam auch herbei, freilich nicht zum bloßen Zugucken. Francis hatte sie bereits tüchtig verzogen, wie Emmy regelmäßig bemerkte, aber sie hatte doch ihr Vergnügen an der lustigen Fütterung, hörte und antwortete zwischendurch auf alles, was der ehrliche Junge in seiner überseeischen Offenheit an Gedanken und Erlebnissen vor ihr auskramte, und hatte dadurch bald sein ganzes Herz gewonnen. Er selbst war weit entfernt, zu ahnen, in welchem Maß seine Gegenwart das Leben im Walterschen Hause erleichtert und verbessert hatte. Emmy jedoch vergaß das niemals, sie hatte sich gelobt, ihm dafür zu geben, was durch Geld nicht bezahlt werden kann: Geduld, Liebe und mütterliche Sorge. So fühlte sich denn der junge Mann bald gründlich wohl; wie gleichgültig er dem Hausherrn war, merkte er in seiner Unbefangenheit nicht, er hielt sich hauptsächlich an Emmy und die Kinder, die ihn zärtlich liebten und als unermüdlichen Spender außerordentlicher Freuden in Gestalt von Theatern und Cirkusbilleten verehrten. Besonders Fritz sah in ihm ein unbedingtes Vorbild – er hatte schon mehrmals versucht, seinem umgeschlagenen Hemdkragen eine stramme Richtung nach aufwärts zu geben, sowie einen Mittelscheitel durch sein struppiges Haar zu erzwingen. Da er aber in beiden Fällen als einzige Wirkung ein Hohngelächter von Moritz erzielte, in welches sogar die gutmüthige Elisabeth mit einstimmte, so lief er wüthend hinaus und ergab sich ferner mit stummer Entrüstung in die auch schon von Francis mehrfach hervorgehobene Thatsache, daß man in Deutschland die jungen Leute allzu lange als Kinder behandle. Rauchen aber hatte er im stillen bei dem Freunde gelernt, das war wenigstens ein Trost!

Francis Weston also war eben damit beschäftigt, sein Weißbrot mit Butter schmackhafter zu machen. Jetzt hatte er die sorgsame Beschäftigung beendet und goß sich die große Tasse voll Thee, schlug das Ei auf, reichte der kleinen Maja das erste eingetunkte Schnittchen, warf dem Schinkenteller einen liebevollen Blick zu und sagte dann zu Emmy gewandt, in Fortsetzung des begonnenen Gespräches:

„Es ist wohl wahr, ich mache Fortschritten in Deutsch, aber es ist doch eine sehr schwere Sache. Sie haben so viele Hauptworte, die man nicht kann finden in Dictionary.“

„Warum nicht gar, lieber Francis! Jedes Hauptwort muß im Wörterbuch stehen.“

„O ja, aber man kann nichts machen damit. Ich lese neulich irgendwo ‚Siebenkäs‘. Ich suche ‚sieben‘, ich suche ‚Käs‘ und weiß doch nicht, was heißt beides zusammen.“

„Das war eben ein Eigenname,“ lachte Emmy, „der hat ja auch keinen Artikel.“

„O, bitte, es giebt auch solche mit Artikel, die nicht Sinn haben. Was ist zum Beispiel ein ‚Klopstock‘?“

„Das ist der Name eines deutschen Dichters.“

„Nein, es kann nicht sein, es steht dort mit dem Artikel.“

„Dann bedeutet es einen Stock zum Ausklopfen.“

„Nein, auch nicht, es ist ein Vers und heißt:

‚Wer wird nicht einen Klopstock loben,
Doch wird ihn jeder lesen? Nein –‘

Was ist also ein Klopstock?“

Ein Amerikaner kann mehr fragen, als zehn deutsche Frauen zu beantworten wissen, das merkte Emmy jetzt auf einmal. Sie hätte ihrer schnell herausgesprochenen Antwort: „Das ist nur poetische Ausdrucksweise!“ eine gute grammatikalische Begründung gewünscht, war indessen außer stande, eine solche aufzufinden, und mußte es dulden, daß jetzt Francis mit betrübtem Kopfschütteln sagte:

„O, es ist sehr schwer, sehr schwer – das Deutsche. Und es fehlt Logik darin. Warum sagt man: der Muth, die Wehmuth, der Hochmuth?“

Die schmerzliche Antworte „Ich weiß es nicht!“ blieb Emmy erspart, denn in demselben Augenblick erschien das Mädchen, um sie abzurufen, es sei Besuch im Salon. Drüben fand sie die kleine Frau Hoffmann, die sich tausendmal entschuldigte, so früh lästig zu fallen, aber sie habe in einer sehr wichtigen Angelegenheit Frau Walter durchaus zu Hause treffen wollen. Nämlich ihre neueste Köchin – hier that Emmy einen tiefen Athemzug und lehnte sich ergebungsvoll ins Sofa zurück, denn nun war alles weitere für die nächste halbe Stunde selbstverständlich.

Wer Frau Malchen ein beschränktes Haushuhn nannte – und es gab leider viele, welche diese Auffassung hatten – that ihr doch großes Unrecht. Auch sie strebte nach dem Höheren – sie suchte zeitlebens nach dem Ideal einer Köchin und hatte dabei, wie es den Idealisten zu gehen pflegt, die grausamsten Enttäuschungen zu überwinden.

„Du hast gehofft, Dein Lohn ist abgetragen“ ... schien ihr ein unerbittliches Schicksal jedesmal zuzurufen, wenn sie nach den besten Anfangsaussichten eben doch wieder „Symptome“ merkte, welche ihr Gemahl mehr fürchtete als die seiner schwersten Patienten, besonders wenn die betreffende gut kochte. Aber – er war zwanzig Jahre verheirathet und kannte Malchens Eigenthümlichkeiten. Sie war ja sonst eine vorzügliche Frau, die es fertig brachte, mit drei Dienstboten und vielem Gelde das Hauswesen so zu führen, daß das Essen jeden Tag rechtzeitig auf den Tisch kam und alle zur entsprechenden Jahreszeit ihre gehörigen Kleider hatten. Mehr von einem weiblichen Gehirn zu verlangen, etwa den Einfluß auf Charakter und Bildung ihrer Kinder, das wäre nach Hoffmanns Ueberzeugungen unbillig gewesen, und er war nicht der Mann, sich eine Unbilligkeit zu schulden kommen zu lassen. So hätte es Frau Malchen sehr gut haben können, wäre eben nur das besagte Streben nach dem Ideal nicht gewesen.

Heute stellte sich der Fall in ungewöhnlich düsterem Lichte dar. Frau Walter selbst hatte ihr damals das Mädchen als treu und zuverlässig empfohlen und nun waren nach anfänglicher großer Zufriedenheit wieder sehr verdächtige „Symptome“ an Zucker und Butter zum Vorschein gekommen, „gerade wie bei jener hübschen Marie, Sie erinnern sich doch?“

Emmy erinnerte sich nicht; sie hörte ergeben dem Redestrom zu, sah zwischendurch nach dem vorrückendem Zeiger der Uhr, suchte zu begütigen, machte dadurch das Uebel ärger und konnte schließlich nichts thun, als Verwahrung gegen mögliche künftige Veränderungen der von ihr Empfohlenen einlegen.

Frau Hoffmann sah sie enttäuscht an, sie schien auf bessere Trostgründe gehofft zu haben. Außerdem ärgerte sie Emmys kaum verhüllte Gleichgültigkeit, sie ging also mit dem Ahnungsvermögen, das auch weniger begabte Frauen besitzen, auf einen andern Gegenstand über und fragte mit theilnehmendem Ausdruck:

„Wie sind Sie denn jetzt mit Fritz zufrieden?“

„Ganz gut,“ erwiderte Emmy etwas erstaunt. „Warum fragen Sie?“

„O, ich dachte nur, er halte sich vielleicht jetzt doppelt daran, um doch noch mitzukommen. Freilich, nach seinem letzten Zeugniß sollte man an der Möglichkeit zweifeln.“

Emmy war es gewohnt, Frau Hoffmann stets erstaunlich genau uber ihre häuslichen Verhältnisse unterrichtet zu finden, hier stutzte sie aber doch:

„Welches Zeugniß meinen Sie?“

„Nun, das von Weihnachten. Da hatte er ja nur ein paar ‚Mittelmäßig‘ und sonst lauter ‚Schlecht‘, sollten Sie das wirklich nicht wissen, liebste Frau?“ Die runden Käferaugen bohrten sich funkelnd vor Neugier in Emmys Gesicht fest. „Unser Hermann brachte es gleich mit heim. Ja wir bedauerten damals beide Ihre gestörte Festfreude, aber mein Mann sagte doch auch: ‚Das [157] kommt davon, daß Walter hartnäckig keinen Nachhilfslehrer nehmen will. Die Jungen sind zu überbürdet, sie können es allein nicht leisten.‘ Also hat Ihnen der Herr Gemahl gar nichts gesagt? Nun vielleicht hat er Fritz gehörig vorgenommen und es wird auf Ostern anders, wir wollen das Beste hoffen!“

Und die kleine runde Frau trippelte hinaus mit einem schönen Gefühl von Befriedigung im Herzen.

Emmy stand sprachlos. Eine ahnungsvolle Beklemmung preßte ihr das Herz zusammen, sie suchte und suchte nach einer Erinnerung, allein es wollte keine kommen. Nein – sie hatte zu Weihnachten kein Zeugniß gesehen – und sollte Hugo ihr eine Unannehmlichkeit verschwiegen haben? Es wäre das erste Mal! Viel näher lag, daß der unglückliche Junge das Zeugniß unterschlagen hatte.

Ja, nun erinnerte sie sich ... er hatte am Heiligen Abend gesagt, die Zeugnisse würden diesmal erst nach Neujahr ausgegeben, und später, unter den verschiedenen Vergnügungen und Zerstreuungen des Winters, war die erneute Nachfrage vergessen worden! Aber – ununterschrieben durfte er es ja gar nicht ins Gymnasium zurückbringen! ...

Der Gedanke fiel ihr plötzlich wie ein Hammer aufs Herz und schlug sie völlig nieder. Ach – nur das nicht, nur nicht ihr Kind ein Lügner und Betrüger! Er war doch immer ein so guter kleiner Junge gewesen ... nein, es konnte nicht so sein, es mußte sich anderweitig aufklären!

Allein die Bangigkeit wollte trotzdem nicht weichen, und die Zeit bis zu seiner Heimkehr am Mittag schien der armen Mutter endlos lang. Endlich ertönte die Klingel, aber nicht Fritz, sondern ihr Gatte erschien diesmal zuerst. Er war sichtlich guter Dinge, ging mit seinem hübschen elastischen Gang auf sie zu und sagte sehr lebhaft:

„Wie wäre es, Schatz, wenn wir während der Ostertage einmal ausspannten, um uns Nürnberg anzusehen? Es war ja schon lange unser Wunsch, nun könnten wir’s einmal ausführen.“

„Wie kommst Du eigentlich darauf?“ fragte sie erstaunt.

„Es trifft allerhand zusammen,“ versetzte er vergnügt. „Ein paar von meinen Bekannten gehen hin, auch Linchen Wiesner hätte Lust dazu; es giebt zudem einen billigen Sonderzug zu den Feiertagen – den Francis könnten wir ja auch mitnehmen – nun, und der Gedanke, wieder einmal herauszukommen aus dem täglichen Einerlei, ist ebenfalls so übel nicht. Und der Finanzminister erlaubt es, das ist die Hauptsache! Also ich denke, wir entschließen uns.“

„Ach Hugo –“ sie wußte nicht, wie sie es am besten angreifen sollte, und zögerte – „ich meine, wir dürfen nicht so viel an uns denken. Die Kinder –“

„Nun, die sind wahrhaftig groß genug, um einmal drei Tage allein zu bleiben. Die kleinen hütet Gustel, und Fritz kann einen Ausflug mit Kameraden machen!“

„Ach, Hugo, gerade für Fritz wäre eine größere Ueberwachung nothwendig –“

Sein Gesicht verfinsterte sich. „So, und was giebt es denn wieder mit ihm?“ fragte er scharf.

Stockend und zögernd brachte Emmy, was sie von Frau Hoffmann gehört, in möglichst milder Form heraus, aber ein fürchterlicher Ausbruch erfolgte doch unmittelbar. Hugo wüthete über den ungerathenen heuchlerischen Jungen, von dem man nur Aerger und Schade erleben werde. Natürlich mußte er die Unterschrift gefälscht haben – „her mit ihm, auf der Stelle her, zur Verantwortung!“

„Laß noch das Mittagessen vorübergehen,“ flehte Emmy, „Francis braucht davon nichts zu wissen; hernach wollen wir mit Fritz reden.“

Da es schon nahe an ein Uhr war, fügte sich der Gatte. Aber heiter war dieses Mittagessen nicht. Fritz sah furchtsam auf die wolkenumzogene väterliche Stirn, Emmy blieb schweigsam, sie lachte nicht einmal mit, als Francis seinen Vorsatz aussprach, sich zu dem bevorstehenden Ausflug einen kleinen „männlichen“ Koffer anzuschaffen und bemerkte kaum Majas warme Schmeichelhände, die ihr das Gesicht streichelten: „Nit bös sein, Mamale, dleich freundliches D’sichterl machen!“

Endlich, endlich war das Essen vorbei, ein scharfer Ruf des Vaters wies Fritz hinüber in den Salon, und dort stand er nun vor seinem Richter.

Das böse Gewissen sprach aus seinen unruhig hin und her fahrenden Blicken, doch versuchte er den Unbefangenen zu spielen, konnte sich erst gar nicht erinnern, das Zeugniß nicht gebracht zu haben, versuchte dann mit weltmännischer Leichtigkeit zu sagen: „Ach, das habe ich dann eben ganz vergessen!“ verstrickte sich, während des Vaters Stimme immer drohender klang, in einfältiges Leugnen, und erst, als ihm dieser seine Begleitung für heute ankündigte, um bei dem Direktor jene Unterschrift nachzusehen, da brach seine Keckheit zusammen. Heftig weinend gestand er, aus Furcht vor dem Papa die Unterschrift selbst gemacht zu haben, „denn es hilft ja doch nichts,“ fuhr er heulend fort, „ich kann nicht mit den anderen vorwärts kommen, die haben alle Nachhilfslehrer und ich nicht!“

Außer sich vor Wuth hob Walter den Arm, Emmy aber, die in bitterem Mutterschmerz seither still dabei gestanden hatte, griff nach seiner Hand und zog sie nieder. „Hugo, ich bitte Dich!“

Die flehende Stimme blieb nicht ohne Wirkung.

„Gut denn,“ sagte er mit gerunzelten Brauen und einem verachtungsvollen Blicke auf den vernichtet Dastehenden, „er soll nicht geschlagen werden, der ehrlose Fälscher. Allein strafen will ich ihn, daß er es spüren soll! Kein Vergnügen mehr das ganze Vierteljahr bis zum Schulschluß – hörst Du? – nur noch Arbeit von morgens bis abends. Wenn die anderen spazieren gehen, machst Du Dich hinter die Bücher, um das Versäumte nachzuholen, und am Sonntag bleibst Du daheim, und wehe Dir, wenn Du die Schlußprüfung nicht bestehst!“

Wieder fühlte er den sanften Druck auf seinem Arme, er hielt also mit weiteren Androhungen vorerst inne, betrachtete voll verbissenen Grimms die energielos hängenden Mundwinkel und rothgeschwollenen Augen des armen Sünders und setzte endlich hinzu: „Mein Sohn wirst Du erst wieder sein, wenn ich Reue [158] und Besserung bemerke. Nimm Dich zusammen, ich rathe Dir’s! Bei dem ersten Anstoß setzt es fürchterliche Hiebe. Nachhilfestunden bekommst Du nicht; wenn Du zu dumm zum Studium bist, dann kannst Du Steine klopfen!“

Ein neues Verzweiflungsgeheul war die Antwort. Emmy, selbst in Thränen, flüsterte Fritz zu: „Bitte den Papa um Verzeihung!“

Er bog den Arm vor das Gesicht und schluchzte weiter.

„Schick’ ihn hinaus,“ sagte Walter rauh, „ich mag ihn heute nicht mehr vor Augen haben!“

„Du trägst die Hauptschuld,“ fuhr er auf, als sich die Thür kaum hinter Fritz geschlossen hatte, „mit Deiner ewigen Nachsicht und Schwachheit gegen den Buben! Da hast Du’s nun! Ein elender Lapps ist er geworden, ein Dämel, der nicht einmal den Muth seiner Schlechtigkeit hat. Aber ich will ihm kommen, ich will ihn –“

Emmy sah den wüthend Auf– und Abrennenden mit entgeisterten Augen an. „Ich, Hugo? Aber um Gotteswillen, ich kann doch seine Ausgaben nicht mehr überwachen! Viel eher“ – ihr Muth wuchs über dem ungerechten Angriff – „viel eher solltest Du Dir selbst Vorwürfe machen, denn Du kümmerst Dich nicht darum, ob er seine Arbeiten richtig macht oder nicht. Die anderen haben ihre Nachhilfe –“

„Nenne mir das Wort nicht!“ rief er, zornig mit dem Fuße stampfend. „Ein tüchtiger Junge braucht keine Nachhilfe, die Klassenaufgaben sind nicht zu groß; die unserigen waren ganz ebenso, und wir haben sie gemacht. Wer überhaupt denken kann, der kann auch Regeln lernen und sie anwenden. Aber, der Bursche ist ja so zerstreut, daß er nicht hört und sieht –“

„Und das stört Dich erst, wenn wie heute eine schlimme Folge daraus entsteht! Ein Vater müßte sich mehr um seinen Sohn kümmern, als Du es thust, Hugo! Was weißt Du denn von seinem innern Leben, von seinen Neigungen und Interessen? Nichts! Du läßt ihn so neben Dir hergehen, bis ein Anlaß zum Strafen kommt, dann merkt er, daß er einen Vater hat. Und das ist dasselbe Kind,“ fuhr sie nach einer Pause ergriffen fort, „dessen erste Schrittchen wir mit Entzücken überwachten, für dessen geistiges Wohl in den ersten Jahren aufs ängstlichste gesorgt wurde! Sollen wir nun, wo er eine moralische Stütze braucht, nicht die Sorge und Liebe verdoppeln, hätten wir nicht nach jenem Zeugniß noch einmal fragen müssen? Ich kann mir nicht helfen, Hugo – der Fehler muß an uns ebenso liegen wie an dem Jungen. Pflichtgefühl ist eine Frucht der Erziehung, wir sind offenbar noch keine hinlänglich guten Erzieher.“

„Warum nicht gar!“ fuhr er auf. „Glaubst Du, daß meine Eltern, die ganz vorzügliche Erzieher waren, uns den ganzen Tag beobachtet und beaufsichtigt hätten? Fiel ihnen gar nicht ein! Aber wir waren tüchtige Burschen und brachten unsere Sachen allein fertig.“

Emmy ergriff seine Hand und sah ihn bittend an. „Bedenke doch einen Augenblick, Hugo, wie verschieden Euer Leben in der kleinen Landstadt war von dem heutigen hier. Ein Schultag verlief Euch wie der andere, Eure Aufgabenzeit blieb ungestört, Vergnügen hieß Euch Baden im Sommer, Schneeballenwerfen im Winter, Euer Lebenskreis, wie der Eurer Eltern, war ein eng umgrenzter, auch für sie war, ob sie es Euch zeigten oder nicht, das vornehmste Interesse der Gang Eurer Entwicklung. Und nun vergleiche unser Heute! Mit Deiner Bewilligung hat Fritz diesen Winter verschiedene Theater, eine Anzahl von Kindergesellschaften besucht, er läuft an den freien Nachmittagen den weiten Weg aufs Eis, liest leidenschaftlich Bücher, die ihn zerstreuen, durch Francis’ Gegenwart im Hause wird ihm eine Menge von Dingen zugänglich, an die ein Junge in seinem Alter nicht denken sollte – heißt es da nicht Charakter und Pflichtgefühl eines Erwachsenen voraussetzen, wenn man bei alledem ohne besondere Mahnung und Beaufsichtigung tadellose Arbeit von ihm verlangt? Warum sind denn jetzt die Klagen über das schlechte Lernen so allgemein? Sicher deshalb, weil eine allgemeine Ursache zu Grunde liegt!“

Hugo dachte ein Weilchen nach. „Es ist etwas dran,“ sagte er dann gemäßigter. „Aber wir stehen nun einmal in diesen Verhältnissen. Was thun, um da abzuhelfen?“

„Ich habe schon oft darüber nachgedacht: es giebt nur zwei Wege, entweder mit Gesellschaft, Vergnügen und Zerstreuung brechen und um der Kinder willen ein ganz zurückgezogenes Familienleben führen -“

„Oder? –“

„Oder thun wie die anderen und den Nachhilfslehrer nehmen, der den zerstreuten Kopf zu bestimmten Stunden wieder zusammenfaßt und die Leistungen erzielt, die nun einmal zum Vorwärtskommen gefordert werden.“

„Nein und abermals nein – dazu entschließe ich mich nicht. Und es ist auch nicht nöthig. Mindestens zwei Drittel der Klasse haben keinen Hilfslehrer und kommen doch vorwärts.“

„Die sind dann gescheiter oder fleißiger als Fritz! Erinnere Dich, was der alte Rektor Müller sagte: ‚Wer nicht besonders begabt, aber tüchtig fleißig ist, kommt durch. Wer begabt und faul ist, kommt ebenfalls durch. Nur wer sowohl unbegabt als faul ist, bleibt sitzen, und dem geschieht sein Recht!‘“

Hugo dachte nach. „Gut!“ sagte er endlich, „man muß den Burschen offenbar besser unter Aufsicht halten. Ich werde mich von jetzt an um seine Aufgaben kümmern.“

„Aber nicht gleich so heftig werden, Hugo, wenn er etwas versehen hat!“

„Dafür laß mich sorgen! Und die Vergnügungen – na, die werden wir ihm kurz beschneiden, dafür will ich gut stehen!“

Gerade wollte ihm Emmy zu bedenken geben, daß ein reines Arbeitsleben ohne Abwechslung und Erholung doch für ein Kind von zwölf Jahren eine strenge Sache sei, da ertönten draußen rasche Schritte und einen Augenblick später streckte Karoline Wiesner den Kopf zur Thür herein.

„Seid Ihr noch sichtbar vor dem Mittagschläfchen? Schön! Ich wollte nur sagen, daß ich mitgehe, will einmal wieder leichtsinnig sein. Und der Thormann ist auch dabei.“

„Wobei?“ fragte Emmy erstaunt.

„Nun, bei dem Nürnberger Ausflug – redet Ihr denn nicht gerade auch davon? Dein Mann ist ja der Urheber der Geschichte.“

„Freilich, ich sagte es Emmy vorhin,“ versetzte Walter etwas verlegen, „aber sie will die Kinder nicht so lange allein lassen.“

„Na, höre einmal!“ rief die Malerin eifrig, „das geht über das Maß! Solche Püppchen sind sie nicht mehr! Das würde ja den ganzen Spaß verderben. Allein kann ich doch nicht mit dem Thormann in die Welt fahren – hahaha!“ lachte sie belustigt, „da müßt Ihr schon als Ehrenwache mit!“

„Mein Mann begleitet Euch,“ erwiderte Emmy schnell. „Ich kann wirklich in der nächsten Woche nicht fort, Linchen, aber er hat in letzter Zeit soviel Arbeit und Aerger gehabt, ihm wird es recht gut thun. Nicht wahr, Hugo?“

„Immer Opferlamm!“ dachte Linchen mit stillem Aerger. „Und mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Hausgötze seinen Kultus annimmt. Ich sage es ja immer, die Ehe wirkt verderblich auf den Charakter!“

Der Götze hatte inzwischen doch ein paar kleine Gewissensbisse und hob an: „Nein, wenn Du nicht mitgehst, Emmy“ – allein sie ließ ihn nicht ausreden, bewies ihm mit den besten Gründen, daß es Pflicht der Selbsterhaltung für ihn sei, manchmal auch an sein Vergnügen zu denken, und bewog ihn denn nach kurzer Zeit schon, dies Opfer für seine Familie zu bringen.

„Ja – und Thormann?“ fragte sie zuletzt, indem sie der Freundin bedeutungsvoll in die Augen sah. „Ich wartete die ganze Zeit her auf eine ganz andere Neuigkeit. Und jetzt reist er so ohne weiteres?“

„Er reist – ich denke jedoch, er kommt wieder. Das ist ein unbegreiflicher Mensch; rein unmöglich, etwas von seinen Vorsätzen aus ihm herauszubringen.“

„Linchen, Linchen,“ drohte der Gerichtsrath, „mir scheint, Sie haben sich mit strafbarem Eifer der Leidenschaft des Heirathstiftens ergeben.“

„Hat sich was! Das wären die rechten Leute dazu! Vilma ist ja auch ein ganz undurchdringliches Geschöpf, heute voll Antheil und morgen wieder hundert Stunden davon entfernt. Vor ein paar Wochen, ja, da glaubte ich auch, die Geschichte sei im Gange, da kam er viel in mein Atelier, ersichtlich um ihretwillen, ließ sogar die Cigarre draußen, was für ihn sehr viel ist, und sah, wenn er mit ihr sprach, ordentlich hübsch und jung aus.“

„Und sie?“ fragte Emmy.

„Na, weißt Du, sie kann ja rein bezaubernd sein, wenn sie lebhaft wird, sie hat eine Anmuth in Blick und Lächeln, daß man [159] darüber verrückt werden möchte. Ich würde es ganz gut begreifen, wenn ihretwegen fortwährend Mord und Totschlag unter den jungen Leuten wäre.“

„Davon hört man bis jetzt nichts,“ lachte Emmy, „nicht einmal von Verlobung, was immerhin mit weniger Lebensgefahr verknüpft wäre!“

„Ja, ’s ist unbegreiflich. Manchmal ist sie plötzlich ganz verwandelt, und ich habe nur eine Erklärung dafür. Vilma kann sich offenbar nicht wirklich für einen erwärmen, sie ist eine so seltsame Natur, ihrer ungeheuren Anziehungskraft gar nicht bewußt; wenn sie dann ernsthafte Absichten merkt, schreckt sie zurück.“

Emmy lachte laut. „O Linchen, Linchen! Die schöne Vilma erwärmt sich für zu viele, da steckt der Haken, glaube mir! Diese räthselhafte Natur ist eine ganz gewöhnliche Kokette, die nach einer möglichst guten Partie fischt. Unser Francis zappelt auch bereits an der Angel, ich kann aus genauer Beobachtung reden.“

„Der grüne Bursche!“ fuhr Linchen entrüstet auf. „Was kann Vilma dafür, wenn er sich in sie vernarrt! Der kann ja doch wahrhaftig als Partie nicht in Betracht kommen! Da siehst Du, wie ungerecht Du bist!“

„Nun,“ meinte Walter, „als Reserve ist er doch nicht zu verachten! Es haben Jüngere geheirathet, und seine Eltern sind sehr reich.“

„Jetzt fangen Sie auch noch an!“ rief die Malerin bitterböse. „Schämen Sie sich, so Ihrer Frau nachzureden! Früher sahen Sie doch Vilma mit günstigen Augen an!“

„O, das thut er noch!“ versetzte Emmy. „Sogar sehr!“

„Versteht sich,“ ergänzte er. „Sie ist ein reizendes Geschöpf. Wissen Sie was, Linchen? Bereden Sie Vilma, mit uns zu gehen, dann bringen wir in Nürnberg die Partie zustande und kehren triumphierend mit dem Brautpaar heim.“

„Sie sind mir ein schöner Diplomat! Thormann und beeinflussen – der würde uns auf dem Bahnhof umkehren, wenn er so was merkte! Nein, da ist nichts zu machen, das muß man rein gehen lassen und abwarten was daraus wird.“

„Trösten Sie sich, Verehrteste, das machen Größere als wir ebenso, und das nennt man dann die feinste Kunst der Diplomatie,“ sagte Walter gutgelaunt. Emmy war glücklich, ihn wieder so heiter zu sehen, sie hatte ja immer das Bestreben, ihm Aerger zu ersparen. So wandte sie denn jetzt auch nichts ein, als er darauf bestand, sie müsse als kleine Entschädigung für Nürnberg heute mit ihm ins Theater, die neue Schauspielerin sehen, welche die ganze Stadt entzückte.

Von Fritz war an diesem Nachmittag nicht weiter die Rede.




10.

Ostern war vorüber, auch die am längsten hinausgeschobenen Bälle waren abgetanzt. Die stille Saison, wo fleißige Hausmütter aufräumen, Töchter verdrießlich über die Leere des Lebens nachdenken und die Hausväter schweigend damit beschäftigt sind, die Karnevalsbilanz zu verwinden, diese für Stadtmenschen so uninteressante Zeit war auf ihrem Höhepunkt angelangt. Draußen indessen blaute der Himmel mit jedem Tage lachender, die milde Luft wehte über junges Saatengrün und allmählich brach ein Frühling herein so golden und herzerfreuend, als wolle er den Menschen zurufen: „Kommt heraus, werft euren Kram und Sorgenpack hinter euch und athmet einmal wieder meine Luft!“

Emmy glaubte eines Morgens, als das Himmelsblau so verlockend über den Dächern stand, den Ruf deutlich zu hören, und eine große Sehnsucht nach jungem Grün und selbstgepflückten Blumen erfaßte sie. Sie sprach also mit ihrem Manne, lief zu Linchen Wiesner und schickte dann in der Bekanntschaft herum, einen großen Ausflug nach Eschenlohe auf den folgenden Morgen anzusagen. Großes Entzücken der jungen Damen belohnte diese That, freilich etwas getrübt durch die Ueberlegung, daß die neuen Frühlingstoiletten allerseits noch nicht fertig waren. Aber das Vergnügen überwog, trotz der vorjährigen Kleider, und so stand denn am Sonntag Morgen ein stattliches Häuflein von Müttern, Töchtern und begleitenden Jünglingen erwartungsvoll am Endpunkt der Pferdebahn. Väter waren nicht zu sehen, das Frühlingsgrün schien für sie wenig Verlockendes zu bieten, selbst der Medizinalrath hatte die Theilnahme mit einer schnöden Bemerkung über das Eschenloher Bier abgelehnt.

Um so größer stand Walter da, der zweifellose Damenfreund, er erntete auch soviel Lobeserhebungen von älteren und jüngeren Lippen, daß er sich bald mit dem Gedanken aussöhnte, als Anführer dieser versammelten Weiblichkeit voranschreiten zu müssen. Und als nun vollends dem eben heranrollenden Wagen der Pferdebahn noch Thormann entstieg, da hatte Walter augenblicklich sein ganzes Gleichgewicht wieder und gab vergnügt das Zeichen zum Abmarsch. Auf jenem hübschen Nürnberger Ausflug vor einigen Wochen hatten sich die beiden ungleichartigen Männer merkwürdig gefunden: auf den stets etwas anerkennungsbedürftigen Walter machte Thormanns gelassenes In-sich-beruhen großen Eindruck, dieser dagegen sah voll Wohlgefallen die lebhafte noch jugendliche Art des andern und sein hübsches Gesicht. Daß Walter ein paar Jahre mehr zählte als er selbst, machte die Empfindung nur angenehmer. Man war also mit Vierzig doch noch nicht so alt, wie er sich selbst manchmal vorkam!

Nachdem die Vorstellung und ein allseitiges Händeschütteln vorüber war, wanderte die Gesellschaft, in kleine Trupps getheilt, an dem Flußufer einen Wiesenpfad entlang, der bald in den Wald einmündete. Emmy ging mit Elisabeth und Moritz voran, ihr hatte sich Paula von Düring angeschlossen, dann kam die Hauptgruppe. Vilma in einem allerliebsten röthlich gefütterten Sommerhut, der ihr Gesichtchen wie mit einem Glorienschein umrahmte, in reizender heller Toilette, umgeben von dem Schwarme ihrer Getreuen und ein paar jungen Mädchen, welche es rathsam fanden, sich stets der Gefeierten nahe zu halten. Hinter ihnen, auf Hörweite, gingen Walter und Thormann.

Vilma fühlte eine lebhafte Erregung. Also doch noch, trotz der Kühle der letzten Wochen zog es ihn wieder in ihre Nähe! Nun, der heutige Tag sollte nicht verloren gehen ... Es war wohl ein Fehler gewesen, auf jenem Ball zu bestehen sie sah das hinterher ein, vermuthlich hielt er sie für allzu vergnügungssüchtig, der schwerfällige Pedant! Er war ja seitdem wie verwandelt, fremd und wortkarg, und ließ sich wochenlang nicht mehr blicken; sie hatte ihre Ungnade nicht einmal anbringen können. Allein jetzt, da er doch wieder kam, fühlte sie neue Zuversicht. Heute, hier in der Waldstimmung, im Zusammensein für einen ganzen Tag, heute mußte es glücken. Er sollte nur anfangs sehen, daß andere sich um sie bemühten: ein wenig Eifersucht ist solch einem schwierigen Herrn sehr gesund. Dann aber – – Vilma öffnete die großen Augen weit und spann den Gedankenfaden im stillen fort. Sie hörte nur mit halbem Ohr auf das Geplauder ihrer Umgebung und den enthusiastischen Ruf von Francis: „O sehen Sie doch, wie wundervoll diese grüne Färberei auf den Wald und die Wiesen!“

Weiter rückwärts wandelte eine Gruppe der Unzufriedenen: Frida Gersdorff, Helene Hoffmann nebst ein paar anderen, unter fühlbarem Mangel an Kavalieren. Die erstere ärgerte sich wieder einmal namenlos über Vilma, aber sie hielt sich einstweilen in gesetztem Gespräch zu Karoline Wiesner; im stillen hoffte sie, der wechselnde Weg werde bald eine andere Vertheilung und den Künstler, für den sie schwärmte, an ihre Seite bringen.

Als Nachhut kamen dann noch verschiedene Mütter, unter ihnen Frau von Düring und Frau Hoffmann, deren hoffnungsvolle Söhne sich um Hedy und einige andere Backfischchen scharten. Auch Fritz bewegte sich hier in großer Unbefangenheit. Der Zorn seines Papas war freilich angesichts des elenden Osterzeugnisses noch einmal hoch aufgeflammt und hatte eine Aera großer Strenge erzeugt, in welcher die abendliche Nachhilfe meistens mit Ohrfeigen und Geheul zu endigen pflegte. Dann kamen ein paar Gelegenheiten, wo der Vater, ohne sich lächerlich zu machen, nicht am Stammtisch fehlen konnte, und siehe da! gerade an diesen stillen Abenden arbeitete Fritz sehr gut. Nun war es klar: er konnte, wenn er wollte, der leichtsinnige Bengel! Man mußte ihn also nur in der Furcht des Herrn erhalten und das besorgte die väterliche Gewissenhaftigkeit mit reichlichen Drohungen bei jedem Anlaß. Im übrigen kehrte allmählich alles ins frühere Geleise zurück. Gegen die beschämenden Freiheitsstrafen hatte das besorgte Mutterherz, als gegen eine Schädigung von Fritzens [160] Ehrgefühl, Verwahrung eingelegt; sie waren zwar nicht ausdrücklich zurückgenommen, aber stillschweigend beiseite gesetzt worden. Infolgedessen spazierte der junge Herr heute sehr vergnügt im junggrünen Buchenwald an der Seite seines Freundes Oskar und erwiderte dessen Aufschneidereien mit wahrheitsgetreuen Berichten über die Großartigkeit amerikanischen Lebens. Denn darin war er diesem blasierten, absprechenden Oskar doch endlich einmal gründlich über: er hatte einen Amerikaner und jener hatte keinen!

Bei dem Vortrab war mittlerweile die von Frida ersehnte Auflösung der Gruppen eingetreten. Eine Waldwiese, bunt von tausend Blumen, that sich auf, und im Nu eilten die Mädchen zum Pflücken, die jungen Herren, eifrig zur Unterstützung hinterher. Vilma bemühte sich nicht viel selbst, sie bezeichnete ihren Verehrern das Wünschenswerthe und entsandte den hartnäckigsten, Francis, an den entfernten Waldrand nach goldgelben Ranunkeln. Dann beugte sie sich über einige Federnelken am Wege und richtete sich eben wieder vom Pflücken auf, als Walter und Thormann herankamen.

„Nun, Fräulein Vilma,“ sagte der Landgerichtsrath scherzend, „warum widmen Sie sich heute so ausschließlich jenen grünen Jünglingen? Dürfen andere Leute nicht auch einmal das Glück Ihrer Gegenwart genießen?“

„Andere Leute scheinen wenig Bedürfniß danach zu haben,“ erwiderte sie leichthin im Weitergehen, „da sie sich durch politische Gespräche von der übrigen Menschheit absondern. Guten Morgen, Herr Thormann!“ Sie bog sich vor und sandte ihm unter dem Hute hervor einen schalkhaft lächelnden Blick zu. „Ich dachte, Sie seien mit der Studienmappe längst über alle Berge!“

Dieser Ton völliger Unbefangenheit nach der Spannung,, die in der letzten Zeit zwischen ihnen geherrscht hatte, war ihm sehr erfreulich. So hatte sie also verstanden und – überstanden, wenn je etwas zu überstehen war!

„Nein, ich bin immer noch da,“ entgegnete er heiter. „Uebrigens suchte ich vor einer halben Stunde bereits meinen Gruß anzubringen, gnädiges Fräulein; Sie waren aber so in Anspruch genommen, daß sie es nicht bemerkten.“

Ausgezeichnet - er war eifersüchtig! Vilma fühlte eine Anwandlung, sich vor Vergnügen auf dem Absatz herumzudrehen. „Ach,“ sagte sie unschuldig mit einem verhaltenen Lächeln, „Sie meinen Mister Weston –“

„Ihren glühenden Verehrer!“ schaltete Walter ein.

„Er ist ein so drolliger Junge,“ lachte sie jetzt unbefangen, „und er spricht ein so wundervolles Deutsch. Ich bemühe mich stets, ihm ein besseres beizubringen. Da haben Sie das ganze Geheimniß unserer Beziehungen, Herr Rath! Uebrigens – wandte sie sich nun an Thormann, „wo ist denn Sigrid? Warum haben Sie das Kind nicht mitgebracht?“

„Sie ist weite Wege noch nicht gewohnt, ich fürchtete, sie könnte lästig fallen.“

„O – die süße Kleine! Wie mögen Sie nur so etwas sagen? Schicken Sie sie mir morgen, ich will sie ein wenig über ihren grausamen Papa trösten. O – danke!“ Das galt Francis, der mit langen Sätzen, einen Busch Ranunkeln in der Hand, über die Wiese kam. „Nun auch noch von jenen rothen dort, bitte!“

„Er apportiert wirklich ausgezeichnet,“ sagte Thormann sarkastisch, dem aufs neue Enteilenden nachblickend, „Sie verstehen Ihre Leute zu ziehen, Fräulein Vilma.“

„Warum lassen sie sich’s gefallen! Man behandelt jeden so, wie er selbst es haben will.“

„Aber man übt doch nicht ungern das angeborene Herrschtalent an fügsamen Unterthanen!“

„Da sind Sie stark im Irrthum,“ sagte sie mit einem eigenthümlich leuchtenden Blicke. „Ich möchte sehr gern einmal jemand finden, der es verstände, mich zu beherrschen, aber das ist mir allerdings bis jetzt nicht gelungen …“

Bei dieser Wendung des Gesprächs hielt es Walter für angezeigt, etwas zurückzubleiben, um den rückkehrenden Francis rechtzeitig abzufassen. Die beiden vor ihm gingen schweigend ein Stückchen weiter; Thormann überlegte noch eine harmlose Antwort auf das eben Gehörte, als sie plötzlich, um eine Waldecke biegend, die ganze vorangegangene Gesellschaft vor einem Hinderniß versammelt fanden. Man war an der verhängnißvollen Stelle angekommen, wo die Quellenwasser der Schutthalde, zum Bächlein vereinigt, mit ländlicher Unbefangenheit über den Weg strömten. Ein Bauernstiefel kam leicht hindurch, deswegen war bisher niemand in der Umgegend darauf verfallen, ein Brett zu legen. Deuteten ja doch ein paar hineingeworfene große Steine zu allem Ueberfluß klärlich die Richtung des Durchganges an!

Der leichtfüßigste Theil der Gesellschaft, die Jungen und Backfische, setzten bereits, mit großen Sprüngen über; die anderen standen da und betrachteten, je nach der Verfassung ihres Temperaments und Schuhwerks, mit Lachen oder Entrüstung das ansehnliche Wasserband. Nun kamen auch die Mütter heran, und es folgte eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung und nervösen Aufschreiens, bis die Damen, von rettenden Männerhänden unterstützt, die gefährliche Untiefe passiert hatten. Am schlimmsten stellte sich Frau von Düring an, sie hatte schon vorher durchaus umkehren wollen, nun stand sie, hinaufgehißt, hilflos auf dem ersten Steine und erklärte, „positiv“ nicht weiter zu können. Auch Vilmas scharfer Zuruf: „Mach’ Dich doch nicht lächerlich, Mama!“ erhöhte ihre Zuversicht nicht, sie schwankte, griff in die Luft und trat mit einem lauten Schrei mitten ins Wasser. Thormann eilte herbei, doch schon war Paula, die sich rasch über die Steine hinühergeschwungen hatte, bei ihr, half ihr heraus und zog sie hinüber aufs Trockene.

„Es ist empörend,“ rief die erhitzte, dicke Frau, „uns solch einen Weg zu führen. Das ist gar kein Weg, das ist ein Skandal! Ich habe mir den Tod geholt, positiv den Tod!“

Paula nahm sie tröstend abseits, rieb den nassen Stiefel mit Laub und Gras und versicherte ihr, daß der Fuß im Gehen bald genug trocknen werde.

Derweil stand Vilma immer noch am jenseitigem Ufer und wies jede dargebotene Hand mit einem unmuthigen: „Erst alle anderen!“ ab. Endlich bat sie Thormann, vorauszugehen und ihr nur drüben zum Emporschwingen die Hand zu reichen. Dann faßte sie geschickt ihr Kleid zusammen und balancierte mit Leichtigkeit von einem Steine zum andern. Aber fast drüben angelangt, schien sie einen Fehltritt zu thun, sie schwankte, streckte beide Hände gegen Thormann aus und er, rasch zugreifend, hob sie mit einem starken Ruck den kleinen Abhang herauf; für einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, bis sie wieder Fuß fassen konnte. Wie in rathloser Verlegenheit wandte sich Vilma rasch ab, den anderen Mädchen zu, während er, langsam folgend, noch den blitzschnell vorübergegangenen Eindruck der weichen jungen Glieder in seltsamer Verwirrung nachempfand …

„Es ist das Blut –“ murmelte er durch die Zähne leise vor sich hin, „das Blut! Hüte dich!“

Und er schritt, der jungen Gesellschaft ausweichend, längere Zeit einsam dahin, bis endlich der Kirchthurm von Eschenlohe in Sicht kam. Ein Stück weiter rückwärts folgte Paula, geduldig ihre ächzende, des Gehens ungewohnte Mutter führend. Sie war, mit dieser aus dem Gebüsch tretend, Zeugin der kleinen Scene am Wasser geworden, und das Herz schwoll ihr vor Scham und Entrüstung, denn sie wußte, wie unfehlbar sicher Vilma ihrer Sprunggelenke war, wenn sie wollte. O, nur fort, nur bald fort, um alles dies nicht mehr sehen zu müssen! –

Umblickend gewahrte Thormann die beiden Nachzüglerinnen und blieb stehen, sie zu erwarten. Er wäre längst gerne einmal mit dieser seltsamen Paula ins Gespräch gekommen, die im Salon ihrer Mutter niemals zu finden war, aber er merkte bald, daß die Gegenwart der Frau von Düring das unmöglich machte. Die Dame nahm ihn ganz in Beschlag, strömte über von Liebenswürdigkeiten, pries ihn und sein Kind, das ja auch Vilma so zärtlich liebte, ihre einzige Vilma, dieses Kleinod mit der engelsguten Seele … Dsnn fragte sie umständlich nach seinem neuen Haus und spielte recht deutlich auf eine künftige Hausfrau an, kurz, sie that alles, um das Mädchen an ihrer Seite in bittere Qualen zu stürzen und dem wortkargen Manne einen sehr übeln Eindruck zu machen. Paula wagte nicht, ihn anzusehen. „Er verachtet uns,“ dachte sie, „und mit Recht!“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 6, S. 188–194

[188] Der Empfang in Eschenlohe entsprach den landesüblichen Verhältnissen. Trotz des schönen, Gäste verheißenden Sonntags hatte sich die Wirthin auf solche nicht eingerichtet und schoß nun, da sie in hellen Haufen einrückten, voll rathloser Verzweiflung in ihrer Küche herum. „Jesses, Jesses, wo kommen nur all’ die Leut’ her! Wann’s mer nur draußen blieben, i hab ja nix z’essen dersür!“ –

Emmy fand sich in Anbetracht dieser Verhältnisse veranlaßt, eine Schürze umzubinden und sofort in Thätigkeit zu treten. Ihrer geschäftigen Diplomatie gelang es denn auch in kurzer Zeit, die gänzlich Niedergeschlagene wiederaufzurichten und ein Mittagessen anzubahnen, das so ungefähr den Namen verdiente. Die jungen Mädchen kommandierte sie zur Unterstützung in die Küche, die jungen Herren mußten Bänke und Tische in den Grasgarten schleppen, und alles das ging unter großem Geschrei und Gelächter vor sich. Man stellte das Rechenexempel an, wie achtzehn Gabeln unter fünfundzwanzig Personen so zu vertheilen seien, daß jede eine bekomme; Frida bedeckte, schalkhaft den Tisch umhüpfend, jeden alten Sauceflecken des gebrauchten Tuches mit ein paar Blüthen, und solchen Anfängen entsprechend, ging dann das Mahl selbst vor sich. Der Braten, einem unbekannten Thiere entstammend, wie Frau von Düring seufzte, war zäh, auch das Salatöl sehr betrübend, allein der Berg goldgelber Pfannkuchen, von Emmys Meisterhänden bereitet, wurde mit Begeisterung aufgenommen, und das Eschenloher Bier erwies sich als bedeutend besser denn sein Ruf. Das Beste von allem aber war der Sitz auf dem Rasen unter dem Blüthengitter der Obstbäume in der herrlichen Luft, mit dem Ausblick auf den nahen Bergstrom und den junggrünen Wald. Eine steigende Heiterkeit bemächtigte sich der Gesellschaft, und am unteren Tischende ließ bereits ein unternehmender Fähnrich die Damen leben!

Frida wurde groß in gewagten Behauptungen, sogar das schüchterne Helenchen Hoffmann fing an, Schulerinnerungen zu erzählen, die anderen thaten ebenfalls das Ihrige zur Unterhaltung. Nur Paula saß still, die Augen niedergeschlagen oder über den Strom hinweg verloren ins Weite gerichtet. Thormann beobachtete längere Zeit diese eigenthümlich ernsten braunen Augen, er versuchte auch, über den Tisch hinüber ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen; sie gab eine ganz freundliche, aber kurze Antwort, so daß sich keine Fortsetzung finden wollte.

Das sah Vilma, die ihm gerade gegenüber saß, und das Teufelchen in ihr fing sofort an, sich zu rühren. Eigentlich hatte sie gedacht, heute die Stille und Sinnige zu spielen; wenn er sie zu Tische führte, wollte sie sich ganz ihm allein widmen. Da hatte er, obgleich sie im rechten Augenblick dicht bei ihm stand, der alten Malerin den Arm geboten, und nun brachte sie es, mit Francis ihm gegenüber sitzend, nicht fertig, ruhig ihre Zeit zu erwarten. Sie wurde aufgeregt lustig, suchte mit allerhand Paradoxen seine Aufmerksamkeit zu fesseln, blickte ihn dazwischen mit dem eigenthümlich fragenden, beziehungsreichen Augenaufschlag an, der zu ihren wirksamsten Mitteln gehörte, und suchte, wenn er mit Linchen sprach, durch fleißiges Kokettieren mit dem liebesseligen Francis seine Eifersucht zu reizen. Lachend und flüsternd bog sie sich zu diesem hin, dann bekam er einmal einen Fächerstreich auf die allzu kühn nach ihren Blumen greifenden Finger, und alles das stets mit dem fragenden Blicke nach dem Maler. Siehst du wohl? – und er sah! . . .

Aber auch andere waren nicht blind.

„Ist das ein empörendes Geschöpf!“ flüsterte Frau Hoffmann sehr vernehmlich Emmy beim Aufstehen zu. „So etwas von schamlosem Augenmachen habe ich doch noch nicht gesehen. Wie kommen Sie nur zu der Familie, beste Frau? Das ist doch kein Umgang für unsere Töchter!“

Paula, die hinter ihrem Rücken stand wurde blaß bis in die Lippen. Sie wandte sich schnell seitwärts, von der in Gruppen plaudernden Gesellschaft weg, einem nach dem Walde ansteigenden Wege zu, und war bald zwischen den Bäumen verschwunden. Bitter, bitter bereute sie ihr Mitgehen heute. Die Sehnsucht nach der Natur, nach dem Walde, den sie so lange nicht mehr gesehen, hatte sie verlockt, einmal ihrer Gewohnheit des Zurückbleibens untreu zu werden. Dafür war ihr das ganze gewohnte Elend nachgefolgt . . . Sie konnte es drunten nicht länger aushalten – dort oben winkten die stillen Wipfel; eine Stunde wenigstens wollte sie in ihrem Frieden allein sein, vermißt wurde sie ja wohl von niemand.

Und das war richtig; die Spiele, welche nach Tisch begannen, während die Mütter Siesta hielten, nahmen die einzelnen vollauf in Anspruch. Walter und Thormann saßen rauchend und zusehend in der schattigen Kegelbahn, bei ihnen Linchen, die das Laster des Mittagschlafs nicht kannte.

Auch Vilma kam heran; sie hatte sich nun hinlänglich als graziöse Läuferin gezeigt und wollte doch nicht allzu oft von Francis’ offenen Armen aufgefangen werden, sondern Thormann wieder in den Kreis ziehen. So unterstützte sie nach Kräften Fridas lebhafte Bitte, die Herrschaften möchten sich jetzt an einem hübschen „sitzenden“ Ratespiel betheiligen, und Linchen entgegnete resigniert:

„Thun wir ihnen den Gefallen! Wir haben uns nun einmal zu ihren Hütern hergegeben, also in Gottes Namen vorwärts!“

Aber es kam schlimmer, als sie geglaubt hatte. Unerhörte Dinge, die sich zur Zeit auf der Küste Koromandel, am Turban des Sultans von Marokko oder gar in den Gedanken der Anwesenden befanden, sollten errathen werden. Infolgedessen regnete es Pfänder, und trotz lebhaften Widerspruchs setzte die poetische Frida es durch, daß deren Auslosung vermittelst eines improvisierten Verses auf das Thema „Frühling und Liebe“ erfolgen sollte.

„O, ich kann sehr gut machen Verse in Deutsch,“ rief der zuerst vom Schicksal ereilte Francis und begann sofort mit einem Feuerblick auf Vilma:

„Der Frühling und die Liebe,
Ich alle beide liebe!“

Sein Erfolg war ein durchschlagender; angefeuert davon erhob sich der dicke Moritz:

„Der Frühling ist ein schönes Gedicht,
Aber Kirschen giebt’s noch nicht!“

Nach solchen Beispielen fanden dann die bisher Zaghaften das Versemachen nicht mehr so schwer, und bald strömten ebenbürtige Leistungen von allen Seiten. Ueber bescheidene Anleihen schloß man duldsam die Augen, nur als ein Unvorsichtiger begann:

„Da kommt der Lenz, der schöne Junge,
Den alles lieben muß –“

verfiel er dem Hohngelächter der Töchterschülerinnen. [Ein Unvor-] sichtiger aber, der tiefer griff:

„Süß ist, fröhlicher Lenz, deiner Begeisterung Hauch,
Wenn die Flur dich gebiert, wenn sich dein Odem sanft
In der Jünglinge Herzen
Und die Herzen der Mädchen gießt –“

er erntete großen Beifall für sein dichterisches Können. [Abe]r Linchen, die altmodische Dichterfreundin, hatte das Gefühl, daß ihr das so merkwürdig bekannt sei! ...

Jetzt mußte Walter dran –

„Jährlich wieder kommt der Mai,
Doch mit dem Lieben ist’s bald vorbei –“

sprach er schnöde. Und die ehefeindliche Malerin überbot ihn noch und rief durch ihren Vers: apoem> „Der Frühling ist allein Genuß, Das Lieben ist vom Ueberfluß!“</poem> starke Entrüstung unter der männlichen Jugend hervor. Was aber wird Vilma sagen? Sie hob ihr eigenes Pfand, ein goldnes Herzchen in die Höhe, sah darunter weg mit einem Blicke unverhülltester Hingabe zu Thormann hinüber ud rezitierte dann lächelnd:

„Soll Dir ein Herz von Liebe sagen –
Mußt danach im Maien fragen!“

„Donnerwetter, das war deutlich!“ dachte Walter überrascht. „Was er jetzt nur sagen wird? Denn ich wette, die schlaue Hexe fischt sofort sein eignes Pfand.“

[189] Und richtig, schon hielt sie dasselbe hoch: einen Siegelring mit grünem Steine, den er vorhin unter lachendem Protest vom kleinen Finger gezogen hatte, während der schmale Reif am vierten unberührt blieb.

„Nun, Herr Thormann?“ Es klang lockend und verheißend.

Er nahm die Cigarre aus dem Munde. „Ich sagte Ihnen vorhin schon, daß ich in Gesellschaft keine Verse machen kann,“ erwiderte er langsam und behaglich. „Geben Sie nur so her!“

„Warum nicht gar! Einen Vers müssen Sie machen, und wenn das in Gesellschaft nicht geht, so denken Sie dort unter den Bäumen nach!“

„Unmöglich, ich brauche zu jedem Worte eine Stunde.“

„Dann schreiben Sie den Vers zu Hause auf!“

„Und wenn ich das auch nicht kann?“

„Und wenn ich dann Ihren Ring nicht herausgebe?“

„So müssen Sie ihn in Ewigkeit behalten!“ sagte er scherzend. Aber Vilma jubelte innerlich über das Wort – sie hielt den Stein vor Augen, ein Amor als Löwenbändiger war hineingeschnitten – günstiges Vorzeichen! Dann steckte sie ihn langsam an den Goldfinger und sagte mit feierlicher Verneigung:

„Also ohne Auslösung keine Wiedergabe. Sie haben es alle gehört.“

„Dazu hast Du gar kein Recht, Vilma,“ rief die geärgerte Frida mit ihrer grellen Stimme. „Der Ring darf nur hier ausgelöst werden. . .“

Allein Vilma beachtete sie nicht mehr, als wenn ein Heimchen gezirpt hätte, lächelnd rief sie das nächste Pfand aus, und Frida mußte wie schon so oft ihre gerechte Empörung in sich verwinden.

Ferne von dieser Erregung wandelte mittlerweile Paula droben am Waldrande dahin bis zu einer Aussichtsbank, wo sie sich niederließ und mit entzücktem Blicke das ernste Landschaftsbild umfaßte: den Strom, der zwischen den scharf eingerissenen Ufern eilig in grünen Wellen dahinschoß, die weiten Tannenwälder darüber, endlos ausgedehnt, bis wo die blaue Kette des Hochgebirgs den Horizont abschloß. Es ruhte sich gut hier in der tiefen Einsamkeit, wo nur die flüsternde Luft in den Zweigen oder ein ferner Vogelruf die Stille unterbrach. Die verwundete junge Seele entfaltete langsam wieder ihre Schwingen, und diese trugen sie bald weit weg in das Land ihrer Träume, wo die Gemeinheit ihr nichts mehr anhaben konnte, wo Wahrheit und Freiheit endlich die Grundlagen ihres Lebens sein durften! Ihr ernstes Gesicht verklärte sich mehr und mehr, ein Ausdruck freudiger Zuversicht trat darauf und verlieh den dunkeln Augen plötzlich eine ganz neue lebhafte Schönheit - sie hätten jetzt den Vergleich mit denen Vilmas nicht zu scheuen gehabt.

Das sagte sich mit Verwunderung der stille Beobachter Thormann, der, von Paula unbemerkt, seitwärts unter den Bäumen stand. Er hatte sich unten vorsichtig entfernt, von demselben Wunsche nach Ruhe und Stille geleitet wie das junge Mädchen das er hier so unerwartet als eine ganz Verwandelte vor sich sah.

War es wohl der Gedanke an den jungen, blonden Lehrer, der ein so glückliches Lächeln auf ihre Lippen zauberte? Thormann fühlte sich plötzlich sehr versucht, dieser Sache, die ihn gar nichts anging, etwas auf den Grund zu kommen, er trat also unter den Bäumen hervor und sagte, als sie eine Bewegung zum hastigen Aufstehen machte:

„Wollen Sie mir erlauben, hier ein wenig bei Ihnen zu rasten, gnädiges Fräulein?“

„Ich habe hier weder zu erlauben, noch zu verbieten,“ sagte sie kühl. Der Glanz auf ihrem Gesicht war erloschen, es lag wieder die alte resignierte Stille darüber.

Diese Wahrnehmung dämpfte seinen Unternehmungsgeist, er brachte es nur zu einer Bemerkung über die schöne Aussicht, während er sich auf das andere Ende der Bank niederließ. Die Erwiderung fiel höflich, aber kurz aus, dann trat wieder Schweigen ein. Ein paarmal ruhte Thormanns Blick prüfend auf dem halb vom Hute verdeckten, feingezeichneten Profil, dann sagte er ganz unvermittelt in seiner gemüthsruhigen Offenherzigkeit:

„Das alte Gleichniß vom Leben als einer Reise ist doch ganz richtig! Es giebt auch hier Passagiere, die eine nähere Bekanntschaft mit ihren Mitreisenden ein für allemal ablehnen.“

Nun lächelte sie doch ein wenig. „Vielleicht im Bewußtsein,“ sagte sie, „der erwarteten Unterhaltung nicht genügen zu können!“

„Oder aus übermäßigem Stolze, der es verschmäht, sich zu geringeren Geistern herabzulassen!“

Das traf. Sie fuhr rasch herum und wandte ihm ein Paar flehender Augen zu. „O sagen Sie das nicht,“ rief sie lebhaft, „Sie ahnen nicht, wie wehe Sie mir damit thun! Niemand kann von seinem Geiste bescheidener denken als ich – ich habe ja alle Ursache dazu. Es ist nur ...“ sie hielt einen Augenblick inne ... „nur eine schlechte Angewohnheit von mir, gern still und allein zu sein.“ Ihre Hände schlossen sich fest, krampfhaft in einander – nur diesem gegenüber schweigen, nur nicht auch nach seiner persönlichen Theilnahme zu haschen scheinen! Der bloße Gedanke daran war ihr schon unerträglich.

„Hm,“ sagte er mittlerweile und blickte sie mit seinen hellen Augen freundlich an, „eine schlechte Gewohnheit ist das nicht, aber wohl eine befremdliche für ein so junges Mädchen.“ Und nach einer Pause setzte er, einem aufsteigenden Gedanken nachgebend, hinzu: „Darf ich einmal offen reden, mein liebes Fräulein? Ich bin so ein Mensch, der keine langen Umschweife machen kann, das müssen Sie mir zu gute halten. Sie sind gern einsam, weil Sie sich nicht glücklich fühlen, das ist nicht schwer zu sehen. Sie möchten ein Ziel erreichen, vielleicht mehr als eins ... gut. Ich habe Sympathie für Ihren Muth und [190] Ihre Thatkraft, ich weiß auch ungefähr, mit welchen Schwierigkeiten Sie zu kämpfen haben – betrachten Sie mich als Ihren Freund! Darf ich Ihnen nicht eine Hilfe zur Erreichung Ihres Zieles bieten? Ich thäte es von Herzen gerne!“

Er bot ihr ein Almosen an! Sie fuhr empor wie von einem unerwarteten Schlage getroffen, rang nach Worten und stammelte endlich, heiße Röthe auf den Wangen, in völliger Fassungslosigkeit: „Um Gotteswillen – nein – wie können Sie so etwas denken! Was habe ich gethan, um das zu verdienen?“

„Ich bitte sehr um Entschuldigung, Fräulein,“ sagte er, über ihre Aufregung bestürzt, „meine Worte sollten Sie nicht verletzen. Ich hoffte Ihnen Vertrauen einzuflößen und wünschte –“

„Nichts – nichts!“ rief sie mit einer Schroffheit, die wie Entrüstung klang. „Ich bedarf keiner Hilfe, würde keine annehmen – am wenigsten von Ihnen. Lassen Sie mich!“ wehrte sie seine Erklärungsversuche ab, „es ist Zeit, ich muß jetzt wieder hinunter.“ Sie raffte ihre Sachen zusammen und enteilte mit kurzem Gruße, den völlig Verblüfften auf seiner Bank allein zurücklassend.

„Eine liebenswürdige Familie!“ brach er endlich in hellem Aerger los. „Unnatur und Scheinwesen auf allen Seiten! Aber nun habe ich’s genug, nun wollen wir ein gründliches Ende machen!“

Und er eilte mit wuchtigen Schritten den Abhang hinunter, um sich unter einem Vorwand jetzt schon bei der Gesellschaft zu verabschieden. Aber er traf diese selbst bereits in vollem Aufbruch; der Himmel hatte sich seit einer halben Stunde stark umzogen, es waren bedeutend mehr Köpfe als Regenschirme vorhanden, die besorgten Mütter drangen auf Heimkehr.

So bewegte sich denn bald schon die schmale bunte Menschenreihe aus Busch und Wiese heraus und auf dem kürzesten Wege der Station zu. Der Aerger über das dumme Wetter war allgemein, nur eine betrachtete, immer weiter zurückbleibend, mit geheimer Hoffnung den dunkler werdenden Wolkenvorhang – sie hatte einen Schirm! Was ihre Mutter da vorne ohne einen solchen anfing, kümmerte sie wenig; sie erwartete, von einem Busch gedeckt, den gleichfalls schirmlosen Thormann, der einzeln als Nachzügler kam. Als die ersten Tropfen fielen, stand sie vor ihm, sah ihn lächelnd an und sagte: „Wollen Sie mit mir darunter gehen?“

Er spannte schweigend den Schirm auf, sie nahm seinen Arm und stützte sich im Gehen leicht darauf. Ach, so als seine Braut in der nächsten Viertelstunde die Gesellschaft einholen und überraschen zu können – welcher Erfolg! Das Verlangen wurde übermächtig in ihr, und günstiger konnte der Augenblick wahrlich nicht kommen!

Sie knüpfte, als sei es ihr heiß, den Hut vom Kopfe, hing ihn an den Arm und sagte, das blüthenfrische Gesichtchen mit den tiefglänzenden Augen zu ihm emporhebend, in süßen Lauten:

„Welch’ ein wundervoller Tag war das heute! Ich habe mich so glücklich gefühlt, wie seit lange nicht. Sie auch, lieber Freund?“

„Man sah es Ihnen an,“ erwiderte er, ohne scheinbar die letzte Frage zu beachten, etwas sarkastisch.

„Sie sind mir böse! Nein – leugnen Sie es nicht, ich fühle es deutlich an Ihrem veränderten Wesen. Was habe ich denn verbrochen, um Ihren Zorn zu reizen?“

Sie hoffte auf Vorwürfe und nachfolgende Erörterungen, statt dessen sagte er kalt:

„Welches Recht hätte ich, Ihnen zu zürnen, gnädiges Fräulein?“

„O – sagen Sie das nicht! Sie haben ein Recht ... ich ... ich habe Ihnen unbesonnen genug gezeigt, welche Macht Sie über mich haben. Und auch andere haben es bemerkt“ – hier kamen die Thränen – „o Gott, ich fühle mich ja so furchtbar unglücklich ... und wenn ich dann, um sie zu täuschen, mit anderen Scherz mache, dann glauben Sie selbst, es sei Ernst und werden kalt gegen mich! Das ertrage ich nicht, denn – – ach! ich kann das Letzte nicht auch noch heraussagen!“

Sie wandte, wie gegen sich selbst Schutz suchend, das blonde duftige Haupt nach seiner Brust – es hätte von seiner Seite nur einer Bewegung bedurft und er hätte sie ganz in seinen Armen gehalten. Statt dessen löste er sich von ihr und trat, immer noch den Schirm über sie haltend, etwas zurück unter einen Baum, dessen breites Blätterdach den Regen völlig auffing.

„Nein,“ sagte er sehr ernsthaft, „Sie können es nicht aussprechen, das unwahre Wort, daß Sie mich lieben; so wird es Ihnen also auch nicht wehe thun, wenn ich Ihnen sage, daß Sie völlig im Irrthum sind. Ich bin ein ganz einfacher Mensch – ich brauche, wenn es überhaupt soweit kommt, ein Herz, das mich selbst liebt, nicht meine Stellung. Und diese allein ist es doch, die mich Ihnen begehrenswerth machte.“

„O, Sie haben mich getäuscht,“ rief sie mit heftigen Zornesthränen, „Sie ließen mich glauben, daß Sie mich liebten –“

„Ich war eine Zeit lang von Ihnen bezaubert und – doch, Fräulein Vilma, ich will Ihnen keine Vorwürfe machen. Nur das kann ich sagen: hätten Sie sich mir, mir allein aufrichtig zugewandt, es wäre wohl anders gekommen. Aber Ihr stetes doppeltes Spiel, das durchschaute ich bald, ich sah, daß kein wahres Gefühl, sondern ein kühl ausgerechneter Plan Ihre Handlungen regierte –“

„Das ist nicht wahr!" fuhr sie auf. „Ich bin nicht die Natur, die Pläne schmiedet. Ich war arglos, viel zu arglos in meiner Unbefangenheit, die nun so mißdeutet wird. O, es ist schändlich, schändlich!"

Er griff derweil ungläubig lächelnd in seinen Rock, holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihrem tiefsten Grunde ein zusammengefaltetes Blatt. Dann sagte er, es ihr überreichend:

„Ich soll noch meinen Ring durch ein Gedicht auslösen. Gestatten Sie, daß ich es hier und mit diesem thue!“

Sie warf einen Blick auf das Papier, es war das Bazargedicht. „Abscheulich!“ schrie sie auf. „Es war ein Zufall, ein reiner Zufall, ich schwöre es Ihnen!“

„Daß Sie gleich verstehen, was ich meine, ist der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Annahme. Darf ich jetzt um den Ring bitten?“

Sie riß ihn vom Finger und schleuderte ihn ihm zu. Ihr Gesicht war vom Zorne entstellt, wie es sonst nur ihre nächste Familie zu sehen bekam. „Gehen Sie!“ zischte sie außer sich. „Bis jetzt waren Sie mir gleichgültig – aber jetzt – jetzt hasse ich Sie!“

„Ich habe es nicht anders erwartet,“ erwiderte er ruhig. „Von meiner Gegenwart darf ich Sie befreien, weil dort vorn Mister Weston sichtbar wird, offenbar auf der Snche nach Ihnen. Ich werde ihm entgegengehen.“ Vilma stand abgewandt, ihre Augen hastig trocknend. Thormann schritt dem Amerikaner entgegen. „Holla, Herr Weston, dort ruht Fräulein von Düring etwas aus. Nehmen Sie die Dame unter Ihren Schirm, ich eile einstweilen mit diesem zu den anderen Damen.“

Als Francis herantrabte, sah er zwei heiter blickende Augen, und ein lächelnder Mund ries ihm zu:

„Aber Mister Francis, wie können Sie mich denn die ganze Zeit mit dem steifen Menschen allein lassen? Sie wissen doch, daß ich ihn nicht ausstehen kann!“




11.

„Höre, Emmy, langweilig ist Dein Dörfchen aber doch ganz gehörig,“ sagte, vom Buche aufsehend, der Gerichtsrath Walter in einer Laube, durch deren Blätter das Sonnengold spielte und die nahe Seefläche flimmernd hereinleuchtete.

Mein Dörfchen!“ erwiderte sie entrüstet und hielt im Ordnen des Kaffeegeschirres inne. „Habe ich es allein ausgesucht? Schien nicht auch Dir diese Billigkeit bei soviel Schönheit –“

„Ja, ja, ich weiß. Aber die Zeit steht hier förmlich still. Wir sind nun acht Tage da und sie kommen mir vor wie ein Jahrhundert.“

„Sei doch nicht so ungenügsam! Sieh dorthin“ – sie wies nach dem Grasgarten, wo Maja, berauscht vom Glücksgefühl des Barfußlaufens, mit der kleinen Fischerlisel über die Heuhaufen purzelte, während Elisabeth und Moritz auf der Hausbank im Schatten saßen und Seifenblasen machten. Ein tiefblauer Augusthimmel stand über dem friedlichen Häuschen mit den weißen Wänden und grünen Fensterläden, gesättigte Wärme durchströmte wie ein wohliges Bad den Baumschatten, in welchem die Laube stand.

„Was kann man mehr wünschen?“ fuhr Emmy fort. [191] „Haben wir hier nicht alles, was einen Landaufenthalt schön macht?“

„O ja – Betten mit Hühnerfedern gestopft, alle drei Tage frische Semmeln, Kalbfleisch sechsmal die Woche –“

„Und die herrlichen Waldwege, das Bad im See, die Glückseligkeit der Kinder, ist das nichts?“

„Na, ich sage ja nichts weiter. Es wird schon eine Weile auszuhalten sein. – Gestern abend fand ich übrigens drüben im Wirthshaus den alten Professor Mayer. Das ist, bei Licht betrachtet, ein ganz interessanter Mensch, mit dem könnte man verkehren.“

„Ist er auch zum Ferienaufenthalt hier?“

„Bewahre, der haust als richtiger Eremit bis tief in den Herbst hinein und vom ersten Frühjahr an dort oben in dem kleinen Häuschen am Waldrande. Er sagt, das Stadtleben widere ihn von Jahr zu Jahr mehr an. Wir können gegen Abend einmal hinaufgehen, er hat mich dazu aufgefordert.“

„Gern, Hugo,“ sagte Emmy erleichtert. Sie fing bereits an, sich wegen „ihres“ Dörfchens schuldig zu fühlen. Und doch war es ihr so wohl in dessen Stille, fern von Toilettesorgen und Gesellschaftspflichten. Die Kinder genossen ungeahnte Wonnen in Haselstrauch und Erdbeerschlag. Fritz, von welchem vorausgesetzt wurde, daß er sich mit Ernst und Eifer auf das drohende „Nachexamen“ im Herbst vorbereite, schien, vom Papa unbemerkt, in Francis’ Segelboot einen hervorragend geeigneten Platz für diese Beschäftigung gefunden zu haben. Dieser selbst, im gestreiften Trikotanzug, bloßarmig und krebsroth im Gesicht, lag mit unerschütterlicher Ausdauer den ganzen Tag auf dem Wasser draußen. Er war etwas melancholisch, der gute Francis, da kamen ihm die langen Stunden der Windstille eben recht, um im Schatten des Segels vor sich hinzuträumen oder aber ein Briefchen hervorzuholen, ein oftgelesenes, und es nochmals zu studieren.

„Theurer Francis!“ fing es an und war geschrieben nach einer bedeutsamen Unterredung, in der er seinen feurigsten Liebesschwüren das nothgedrungene Eingeständniß hatte hinzufügen müssen, daß er eben doch vorläufig ganz und gar von seinen Eltern abhänge. Er hätte noch mehr sagen können, denn seine kluge Mutter, durch Emmy benachrichtigt, hatte ihm kürzlich ein sehr nachdrückliches väterliches Veto mit Androhung gänzlichen Handabziehens übermittelt. Aber das ließ er bei Seite und betheuerte nur in glühenden Ausdrücken seinen Entschluß, nicht nachzulassen, bis die Eltern ihre Zustimmung geben würden. Damit hatte Vilma genug gehört. Der Abschied in jener Stunde war sehr gerührt gewesen, dann kam das duftende Briefchen, worin Francis aufgefordert wurde, zu kämpfen und zu siegen, während die Schreiberin leider, leider! diesen Sommer nicht, wie sie gehofft hatte, zu dem guten Onkel Professor nach dem reizenden Allersbach durfte, sondern eine reiche Tante, welche Gesellschaft wünschte, nach Kissingen begleiten mußte.

Es gab harte Verhängnisse auf dieser Welt und der arme Francis seufzte von Herzen darüber. Aber seinem Appetit schadete es vorläufig noch nicht, er vertilgte um die Wette mit den anderen die massenhaften, wohlschmeckenden Fischgerichte, welche den sonst etwas eintönigen Küchenzettel aufs anmuthigste belebten. Die Herstellerin derselben, die feine Köchin Wally mit den gebrannten Stirnlöckchen kam auch bereits von ihrer anfänglich tiefen Verachtung gegen das „elende Bauerndorf“ zurück; sie fand die drei stämmigen Haussöhne einer näheren Beachtung nicht unwürdig, das besserte ihre Laune bedeutend, und somit ließ sich der Landaufenthalt zu Emmys großer Erleichterung ganz gut an. Selbst der Hauptunzufriedene, Walter, begann im weiteren Verlauf den Weltwinkel ohne Ereignisse erträglich zu finden. Die Bekanntschaft im Waldhäuschen, der alte Professor, zog ihn bald lebhaft an, auch Emmy ging sehr gerne abends mit ihm über die Wiese hinaus bis zu der Bank im Buchenschatten, wo der alte Herr gewöhnlich in stiller Betrachtung saß, einen Band Goethe in der Hand, das Gesicht den im Sonnenuntergang leuchtenden Bergen über dem Seespiegel zugekehrt.

„Es ist so friedlich hier bei Ihnen“ sagte Emmy einmal, „so weltentrückt! Man hat immer das Gefühl, daß Sie ein wohlangewandtes Leben voll Befriedigung überdenken.“

„Das ist zuviel gesagt,“ erwiderte er bescheiden. „Mein Leben war nicht ärmer an Thorheiten und Irrthümern als das anderer Leute auch. Aber ich bedaure sie nicht, denn sie mit ihren Folgen sind es, die uns endlich das theure Gut der Selbsterkenntniß und dadurch den inneren Fortschritt vermitteln.“

„Wir heutigen“ meinte Walter kopfschüttelnd, „kommen nicht mehr zur ruhigen Selbstprüfung. Das Leben umgiebt uns rastlos, ewig fordernd; der einzelne muß heute unendlich mehr sein als vor fünfzig Jahren –“

„Erlauben Sie,“ fiel ihm der Alte humoristisch dazwischen, „mir scheint, der einzelne bildet sich das vielfach nur ein. Wenn ich um mich schaue, bemerke ich durchaus keine Steigerung der Geisteskraft bei meinen Mitbürgern, im Gegentheil! Eigenartiges Denken und unabhängiges Urtheil sind sehr selten geworden in unserer Zeit der ‚Bildung für alle‘!“

„Weil sich jeder schon in seinem Berufe aufreiben muß, ganz abgesehen von allem andern, das auf den heutigen Menschen einstürmt und ihn an der ruhigen Vertiefung hindert.“

„Ich glaube nicht, daß der Beruf als solcher soviel größere Anforderungen stellt. Was die Leute körperlich und geistig abhetzt, das ist der Wahn, alles mitmachen, alles wenigstens zur Kenntniß nehmen zu müssen, was, wenn auch noch so entfernt, unter den geistigen Gesichtswinkel fällt; oberflächlich natürlich und flüchtig, aber doch so, daß man davon reden kann. Und mit diesem unfruchtbaren Sammelsurium wird die Zeit verthan, in welcher allmählich jeder sich ganz ruhig eine solide, fruchtbringende Bildung aneignen könnte. Welche Spur bleibt denn zurück von den massenhaft verschlungenen Zeitungsartikeln mit ihren Aufregungen, die heute geschürt und morgen wieder besänftigt werden, von den Berichten über Ausstellungen, die man nicht sieht, über Virtuosenleistungen, die man nicht hört? Ja was bleibt selbst von den vielen neuen und neuesten Büchern, die man ‚gelesen haben muß‘ – oder wenigstens die Kritik darüber in dem Tageblatt, auf das man schwört? Das alles und wie viel mehr noch muß täglich durch das müde Menschengehirn gepreßt werden, zu keinem andern Zwecke, als daß man in seinen und anderer Augen möglichst ‚bedeutend‘ erscheint. Dieses Unglückswort ist eigentlich die Wurzel des ganzen Uebels. Es ist eine Art von Größenwahn unter die Leute gefahren, der sie beunruhigt und ihre Gehirnkraft über Verhältniß abnutzt. Die Kraftvollen verfallen im Unmuth über das Mißverhältniß zwischen Anspruch und Erfolg dem Pessimismus, die Schwächsten – in welch großer Zahl! – dem Irrenhaus. Und aus der breiten Mittelschicht ersteht scharenweise statt des früher einfach Unwissenden aber Harmlosen das unerfreuliche Herdengeschöpf, der Bildungsphilister, der sich auf der Höhe jeder Situation fühlt, mit fremden Augen sieht und mit geborgten Schlagwörtern kurzweg verurtheilz, was er nie fähig wäre, selbst zu beurtheilen. Eine Bereicherung unseres nationalen Lebens wird man ihn schwerlich nennen können!“

„Das nicht, aber einen vielleicht unvermeidlichen Auswuchs, welchen wir für unseren großen nationalen Aufschwung und Erfolg gerne mit in Kauf nehmen wollen.“

„Gerne? Nein! Wir haben früher in demüthiger Bescheidenheit etwas zu viel geleistet, nun sind wir ins Gegentheil übergesprungen, und das steht uns schlecht zu Gesicht. Wohlgemerkt, unsere Unbescheidenheit gilt nur dem äußeren Erfolg, dem Glanze und raschen Emporkommen. Was den Grad der Leistung betrifft, da bescheiden wir uns ungeheuer. Was für Leute erfreuen sich heute eines berühmten Namens! Ja, wie fühlt sich bereits jeder grüne Anfänger! Er bombardiert die Meister des Faches mit seinen unfähigen Produkten und ist hoch empört über eine Abweisung. Wie ein Märchen kommt es einem vor, zu hören, daß der junge Schubert sich jahrelang nicht getraute, Beethoven zu besuchen, obgleich es sein glühendster Wunsch war und beide in derselben Stadt wohnten, aber die tief bescheidenen Worte zu lesen, mit welchen Lessing sich für ‚keinen Dichter‘ erklärt! Derlei Dinge sollte man von Zeit zu Zeit dem vom Größenwahn gestachelten Menschen vorhalten und hinterher sagen: Plage dich nicht so unnöthig, Lieber! Wo alle sich auszeichnen wollen, zeichnet sich zuletzt niemand aus, auch gilt niemand auf die Dauer für bedeutender, als er ist. Das geheime Gefühl davon nagt an dir und macht dich nervös. Thue es ab und begnüge dich, in Bescheidenheit als gewöhnlicher Mensch deine Schuldigkeit zu thun! Der erste in der Klasse ist immer nur einer.“

„Das könnte vielen gut thun“ sagte Emmy lachend. Ihrer gesunden und wahrhaftigen Natur leuchtete das alles vollkommen ein.

[192] Hugo aber, der sich von manchem Wörtlein der ganz harmlos gesprochenen Rede im geheimen getroffen fühlen mochte, sagte nach einem kurzen Nachdenken:

„Und wer soll da ändern und bessern? Die Schule, die heute schon ohnehin mit allen möglichen Aufgaben überlastet ist?“

„Das Haus!“ sagte der alte Herr mit starker Stimme, „die Familie, für die wir Deutsche, mögen wir sonst noch so viel Fehler besitzen, Eigenschaften haben wie kein andres Volk. Auch sie ist ja vom Streberthum nicht unberührt geblieben, sie muß erst wieder aus einer Assekuranz für Lebensgenuß und gegenseitige Beweihräucherung zur Stätte der Pflichttreue und Bescheidenheit werden. Die wohlhabenden Eltern sollen aus Weisheit ihren Kindern die Beschränkungen auferlegen, die früher unsere größere Armuth erheischte. Beschränkung ist Glück, und der Mensch erhebt sich nicht ungestraft aus ihr ins Maßlose! Soll er später die wahren Güter des Lebens erwerben und genießen, so muß seine Jugend nicht im Getriebe von Vergnügen und Aufregungen verflossen sein. Wer seine Kinder in Wald und Feld führt, in ihnen die Liebe zur Natur, zur Thier- und Pflanzenwelt erweckt, ihre fleißige Arbeit mit einfachen Freuden lohnt, ihren Blick auf große Vorbilder richtet, der erzieht tüchtige und bescheidene Menschen statt der kleinen Ehrsüchtigen, die zur Pistole greifen, wenn das Klassenexamen nicht günstig ausfiel.“

„Er hat gut reden,“ dachte Walter. „Sie haben keine Familie gehabt!“ fügte er dann in einem vielsagenden Tone hinzu.

„Leider! Ich habe mir wohl da und dort Ersatz dafür zu schaffen gesucht, allein was will das heißen gegen das Glück, ein paar Söhne zu erziehen, sich an ein paar rosigen Töchterchen zu erfreuen, wie das Ihnen jetzt beschieden ist!“

„Ja,“ sagte Emmy, „Sie dürfen uns glücklich preisen, die Kinder machen uns viele Freude.“

„Und allerhand Sorgen,“ setzte ihr Gatte hinzu.

„Das ist ja natürlich. Aber offenbar gehen Sie mit ihnen den richtigen Weg. Sie haben sie nicht in eine elegante Sommerfrische gebracht –“

„Wir wissen, warum!“ dachte Emmy.

„– sondern in dieses einfache Fischerdorf, wo sie unter Ihren Augen spielen, lernen und bei jedem Gange in den Wald ihren Anschauungskreis erweitern.“

Walter fühlte sich entschieden uberschätzt. Im Walde war er mit seinen Söhnen noch nicht gewesen, sie liefen gewöhnlich allein. Es fiel ihm jetzt auch ein, daß er eigentlich Fritz in der letzten Woche, außer bei den Mahlzeiten, kaum zu Gesicht bekommen hatte, er nahm sich vor, heute abend einmal gründlich nach seinen Aufgaben zu sehen.

Während sie so sprachen, war unten am Strande das Dampfboot gelandet. Jetzt sah man zwei Damen langsam über die Wiese heraufsteigen, eine kurze, dicke am Arme einer schlanken und großen.

„Ist das nicht –“ fragte Professor Mayer mit einem gewissen Schauder.

„Ihre Nichte, Frau von Düring, ja, so scheint es mir auch,“ antwortete Walter. „Mit Paula allein! Wo mag die reizende Vilma sein?“

„Ich glaubte sie alle in Kissingen,“ versetzte der Professor merklich niedergeschlagen. „Nun – da heißt es also, sie begrüßen!“ Er erhob sich, das Ehepaar ebenfalls. „Wollen Sie nicht noch etwas bleiben?“

„Nein, wir begleiten Sie bis zu den Damen und gehen dann vollends hinunter und heim,“ sagte Emmy.

Die Ankömmlinge waren bald erreicht. „Guten Abend, lieber Onkel,“ rief Frau von Düring, das Taschentuch schwenkend, mit dem sie sich das erhitzte Gesicht getrocknet hatte, „guten Abend! Nicht wahr, das heißt eine Ueberraschung? Kannst Du uns brauchen in Deinem Häuschen? Das ist es ja wohl dort oben – Gott, wie bescheiden! Guten Abend, meine Herrschaften! Er ist ein Philosoph – nicht wahr? Der reine Philosoph. ich sage es immer! Aber fürchte nur nichts, Onkelchen, wir sind genügsam und werden uns einrichten!“

„Ihr seid mir willkommen,“ sagte er, beiden die Hand bietend. „Meine alte Fanny wird es Euch so bequem als möglich zu machen suchen. Vorlieb nehmen müßt Ihr freilich. Paula, mein liebes Kind, ich freue mich sehr, Dich zu sehen. Was treibst Du?“

„Was wird sie treiben? Ihrer Mama das Leben sauer machen!“ erwiderte, ehe Paula zum Wort kommen konnte, Frau von Düring gereizt. „Deshalb komme ich ja eben, Du mußt ihr den Kopf einmal gründlich zurecht setzen. Ich bin ganz fertig mit meinen Nerven, ganz kaput – oh!“ Sie stöhnte mit halbgeschlossenen Augen, fuhr aber gleich darauf lebhaft gegen Emmy herum.

„Ihre Freundin Wiesner läßt Sie grüßen, sie will nächstens einmal herauf kommen.“

„Ist Fräulein Vilmas Bild fertig?“

„Ja, deliciös, sage ich Ihnen! Das heißt, ein gewisses Etwas, den feinsten Charme hat sie nicht ganz herausgebracht, aber der ist eben auch unerreichbar bei Vilma. – Wenn nur der Rahmen nicht so theuer wäre!“

[194] „Und was macht Thormann?“ konnte der Gerichtsrath sich nicht enthalten, zum Abschied zu fragen. „Ist er noch in der Stadt.“

Sie zuckte halb verächtlich, halb geärgert die Achseln. „Was weiß ich! Seit jener Landpartie, wo er es nicht der Mühe werth fand, sich auch nur zu verabschieden, habe ich diesen Herrn nicht mehr gesehen. Man thut doch immer besser, sich mit Leuten von so geringer gesellschaftlicher Bildung nicht einzulassen!“ –

„Also abgefallen! Schade!“ sagte Walter im Herabsteigen. „Na, wenn der alte Herr über die nicht nervös wird, dann hat er wirklich Anspruch auf den Titel eines Philosophen.“

„Die arme Paula!“ erwiderte Emmy.

In ihrer Laube unter den Bäumen am See fanden sie ein fröhliches Leben. Das Abendgold lag noch über den Wipfeln; Elisabeth deckte den Tisch und brachte die einfachen Gerichte herbei; frische Butter, Sauermilch, kaltes Fleisch; Maja schleppte den mächtigen schwarzen Brotlaib und Moritz kam triumphierend mit einer Schüssel selbstgepflückter Erdbeeren an. „Sie sind gewaschen!“ bemerkte er dazu. Francis hatte die langen Beine auf der Bank ausgestreckt, eine Zeitung vor sich und war gewissenhaft in den deutschen Selbstunterricht vertieft. Walter griff ebenfalls nach seinem Theile von Briefen und Zeitungen, die abendliche Poststunde war ihm die angenehmste des Tages.

„Bitte, Herr Gerichtsrath,“ unterbrach plötzlich der Amerikaner das Schweigen, „wollen Sie mir erklären, warum der Papst nicht kann leiden die Katzen?“

„Thut er das?“ fragte Walter zweifelnd. „Davon habe ich nie etwas gehört.“

„Ja, es steht hier ausdrücklich.“

„Nun, der Papst ist ein alter Herr und wird seine Eigenthümlichkeiten haben. Möglich, daß er die Katzen nicht mag.“

„Gewiß nicht. Er verflucht sie sogar. Aber nur die männlichen. Das ist, was ich nicht verstehe!“

„O Francis, Sie sprechen von den Ketzern,“ lachte die eben herantretende Emmy, und diesmal mußte der unglückliche Liebhaber des Deutschen selbst in die allgemeine Heiterkeit mit einstimmen.

Der Gerichtsrath sah sich suchend um. „Wo ist denn Fritz? Arbeitet er noch?“

„Der und arbeiten!“ versetzte Moritz, noch immer lachend, „der ist ja heute gleich nach dem Mittagessen mit dem Riederseppl nach Oberhausen gegangen!“

„Ohne Erlaubniß? Emmy!“ Stirnrunzelnd wandte sich der Gatte nach ihr hin.

„Er hat mir auch nichts gesagt,“ brachte sie erschrocken heraus. „Es ist heute Kirchweih dort, vielleicht hat ihn das gelockt –“

„Ich will ihm die Lockungen austreiben, wenn er heimkommt,“ entgegnete Walter grimmig.

Allein Fritz kam nicht heim. Das Essen war vorbei, die Dämmerung wurde tiefer, hinter den Baumwipfeln stieg, einer großen rothen Scheibe gleich, der Vollmond empor und beschien das am Ufer hinlaufende Stück Straße. Aber nichts regte sich darauf. Eine heftige Unruhe erfaßte die Eltern, sie gingen Fritz ein großes Stück weit entgegen, umsonst – keine Antwort kam auf ihr Rufen, schweigend und finster lag der Wald. Endlich mußten sie’s aufgeben und kamen, Emmy in strömenden Thränen, zum Hause zurück. Dort fanden sie alle in großer Aufregung vor der Thüre versammelt. Wally hatte nach ihrem Weggehen im Bubenzimmer die Betten abgedeckt und dabei einen Brief auf dem Tische gefunden, „An Papa und Mama“ überschrieben.

„Gott!“ schrie Emmy auf, „er wird sich doch kein Leid angethan haben! Ins Haus, ein Licht! O, nur schnell, schnell!“

„Sei doch vernünftig!“ sagte Walter, allein seine Hände zitterten. In der Eßstube, wohin alles nachdrängte, las er einen Augenblick später:

 „Liebe Eltern!

Es thut mir leid, Euch zu betrüben, aber mein Schicksal will es so! Durchs Nachexamen komme ich auch wieder nicht, das sehe ich jetzt schon. Der Papa würde gewiß wüthend werden, ich kann aber nichts dafür und deshalb gehe ich, denn Steine klopfen – das mag ich nicht, da kann ich noch ganz andere Dinge thun. Aengstigt Euch nicht, mein Freund Joseph steht mir zur Seite, wir gehen nicht nach Oberhausen, sondern haben jede Spur hinter uns vertilgt! Unser Endziel heißt: Kamerun! Dort ist Freiheit! Von dort wird einstens als ein großer und berühmter Mann zu Euch zurückkehren

Euer Sohn Fritz.“ 

„Nonsense!“ sagte Francis.

Die Eltern sahen sich sprachlos an, Elisabeth schluchzte, die gefühlvolle Wally gleichfalls, nur die stattliche Hausbäuerin sagte empört. „Mit dem Riedersepp, mit dem Lumpenbuabn! I hab’s ja immer g’sagt, es taugt nix, daß die Zwoa so viel beianander san!“

„Das hätten Sie besser mir gesagt,“ fuhr Walter auf, schwieg jedoch gleich wieder – er fühlte, an wem die Verschuldung lag, wenn er nichts von seinem Sohne wußte. „Was thun, Emmy?“ fragte er dann mit ungewohnter Sanftmuth.

„Ich gehe gleich, ihn suchen!“ rief Francis.

„Heunt abend könnens nix mehr machen,“ sagte die Wirthin im Abgehen. „Und weit sans ja no net. Werden ja dengerscht nit die Nacht durchlaufn!“

„Sprich mit dem Professor!“ rief Emmy plötzlich. „Er kennt die Gegend genau, er kann gewiß am besten rathen, was hier geschehen muß.“

„Du hast recht!“ sagte Walter. „Ich gehe gleich zu ihm, es ist kaum halb neun Uhr. Sie bleiben ruhig, Francis, bis ich wiederkomme! Ich bin bald wieder bei Dir, Emmy!“ Er schloß sie heftig in die Arme und küßte sie wiederholt. „Armes Weib!“

Dann eilte er die Wiese hinauf und stand bald vor dem Häuschen, bescheiden an der unteren Thüre klopfend. Er wurde nicht gehört, dagegen drangen erregte Stimmen aus der offenen Balkonthür über ihm.

„Nein,“ schrie Frau von Düring zornig, „es fällt mir gar nicht ein. Paula kann nicht verlangen, daß ich mich für sie aufopfere. Sie ist ein undankbares, unzufriedenes Geschöpf –“

„Das ist nicht wahr!“ erklang jetzt die strenge Mannesstimme. „Paula leidet Unerträgliches unter Deiner Schwäche und Vilmas lügenhaftem, verdorbenem Charakter. Aber nun ist es genug. Ich sehe ganz klar. Du hast die Mittel, die ich Dir für Paula anwies, verausgabt, um Vilma auf Abenteuer nach Kissingen zu schicken. Sie wird auch von dort wieder unverlobt zurückkommen – indessen, das kümmert mich nicht. Es handelt sich um Paula, die nicht länger in Eurer Atmosphäre bleiben darf. Ich gebe ihr also dieselbe Summe noch einmal, ihr allein, wohlverstanden! Und Paula geht diesen Herbst nach Zürich, wie es ihr Wunsch und Wille ist. Andernfalls –“

Walter mochte nicht mehr hören. Er ging leise ein Stückchen zurück und rief dann, wie eben erst kommend, aus einiger Entfernung:

„Herr Professor!“

Unmittelbar darauf erschien dieser auf dem Balkon. „Wer ruft?“

Walter nannte sich, der alte Herr kam herunter, schloß die Thüre auf und führte den späten Gast in sein Schlafzimmer zu ebener Erde. Dort erzählte ihm dieser mit fliegenden Worten sein Anliegen.

„Hm!“ sagte der alte Mann, „das ist ja fatal. Aber seien Sie nicht so bekümmert – wir fangen den Ausreißer bald genug! Am besten, Sie nehmen morgen mit dem Frühesten den Einspänner des Wirths, und wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie als Wegekundiger. Es giebt nur zwei Richtungen, nach der einen telegraphieren wir, die zweite, nach Oberhausen und weiter, nehmen wir selbst. Daß der junge Diplomat gerade diese in Abrede stellt, macht sehr wahrscheinlich, daß die beiden die Kirchweihe auf dem Wege nach Kamerun noch mitnehmen wollten.“

Walter drückte dankbar die Hand des freundlichen Trösters und schied nach kurzer Weile mit erleichtertem Herzen.


Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 7, S. 212–220

[212] Im Frühroth des folgenden Tages rollten Walter und der Professor miteinander auf der Straße dahin und hatten bald den noch mit Schaubuden und Karussells geschmückten Marktplatz von Oberhausen erreicht. Hastige Umfragen in den wenigen Wirthshäusern führten zu keinem Ergebniß: es hatten sich viele Jungen tags zuvor darin herumgetrieben, über Nacht geblieben war keiner.

„Vorwärts!“ sagte der Professor. „Daß wir ihn nicht schon hier finden, war zu erwarten.“

Und das Wägelchen rollte weiter, und dem darin sitzenden Vater wurde das Herz schwer und schwerer. Wenn dem Jungen ein Unglück zugestoßen war! Er sah ihn deutlich vor sich mit den unentwickelten Gesichtszügen, dem ängstlichen Blicke und dann dachte er um Jahre weiter zurück, wo die Augen des Kindes voll Glückseligkeit dem heimkehrenden Papa entgegengeleuchtet hatten, wo dessen Knie sein liebster Platz war. Trug er wirklich schuld an der Aenderung? Hatte er seine Pflicht als Vater nicht voll gethan? Und – war dies die Strafe dafür?

… Es wurde ihm beklommen zu Muthe, ein leises Stöhnen entrang sich seiner Brust. Theilnehmend griff der alte Mann nach seiner Hand. „Wir werden ihn finden!“

„Es ist nicht allein diese Sorge!“ erwiderte Walter. Und nun sprach er, einem unwiderstehlichen Drange nachgebend, seine quälenden Gedanken aus. Der andere hörte ernsthaft zu.

„Erinnern Sie sich unseres gestrigen Gesprächs?“ sagte er endlich voll Milde. „Dies gehört auch dazu. Ist es denn die sogenannte Welt mit allen ihren rastlosen Interessen und gesellschaftlichen Pflichten werth, daß man das Größte um sie aufgiebt, [213] den Frieden seines Hauses, die Liebe seiner Kinder? Wenn auch Sie sich, wie ich aus Ihren Worten schließen muß, von dem großen Strome zu weit haben mitreißen lassen, dann segnen Sie den heutigen Tag, der Ihnen die Augen öffnet! – Kommen Sie, wir wollen diese Anhöhe da zu Fuß hinauf, die Bewegung in der Morgenluft wird Ihnen gut thun!“

Sie schritten miteinander, sich stets nach allen Seiten umblickend, den Waldweg zwischen thaufrischem Brombeergerank und einzeln herumgestreuten Felsblöcken empor. Plötzlich blieb Walter stehen, ein Zittern überlief ihn, er deutete, unfähig zu sprechen, nach einem der Blöcke, hinter welchem ein Stiefel und der Anfang einer karierten Hose im Gras sichtbar wurde. Im nächsten Augenblick stürmte er mit einem Satze hinüber, der Professor folgte, so schnell er konnte, und da lag er vor ihnen – schlafend, nicht tot, der gesuchte Fritz, in sich zusammengekauert, das dünne Ränzchen unter dem Kopfe, ein armes hilfloses Kind. Es stieg dem Vater heiß vom Herzen in die Augen, als er sich über das blasse Gesicht beugte.

„Fritz!“

Der Knabe schlug die Augen auf und fuhr zusammen. „Ach Papa, schlage mich nicht!“

Walter erröthete. Ehe er antworten konnte, sagte der Professor gütig: „Komm, mein Junge, steh’ auf und bitte Deinen Papa um Verzeihung für die Angst, die Du ihm gemacht hast! Das war ein recht dummer Streich. Hast Du denn gar nicht gedacht, wie Deinen Eltern zu Muthe sein werde?“

„Ach freilich – hinterher!“ schluchzte Fritz. „Und der Seppl hat mich auch im Stich gelassen – wie er sah, daß ich nichts mehr hatte –“

„Was hast Du denn überhaupt gehabt?“

„Eine Mark und fünfzig Pfennige. Aber das haben wir alles gestern auf der Kirchweih ausgegeben und hernach lief der Seppl fort – und da bin ich allein weiter gegangen – bis hierher und habe mich da zum Schlafen niedergelegt. O Papa, verzeihe mir!“ brach er überwältigt aus. „Ich war schlecht, ich sehe es jetzt ein, aber ich will mich gewiß ändern. Nur diesmal noch verzeihe mir!“

„Komm zur Mama!“ sagte dieser erschüttert mit ungewohnter Milde. „Wir wollen jetzt ein neues Leben anfangen, Fritz, ein besseres als vorher.“




„Und was nun?“ fragte Walter, als Einlieferung und Begrüßung, Emmys Freudenthränen und die Aufregung der Kinder und Hausbewohner vorüber waren und er den neugewonnenen verehrten Freund nach dessen stillem Häuschen zurückgeleitete. „Sie haben mir heute einen so großen Dienst erwiesen, daß Sie sich nicht wundern dürfen, wenn ich gleich noch um mehr bitte. Ich sehe jetzt erst ein, daß man nicht selbstverständlich ein Erzieher ist, weil man Kinder hat; helfen Sie mir mit Ihrem Rath weiter! Was soll ich nun mit dem Jungen anfangen, um ihn auf den rechten Weg zu bringen?“

„Dasselbe, was Sie früher hätten thun müssen, um ihn darauf zu erhalten: er muß Ihre tägliche Sorge werden, Sie dürfen jetzt seine Entwicklung, sein Lernen keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Dabei muß er Liebe fühlen und Aufmunterung, sobald die ersten Fortschritte kommen, das Ehrgefühl des künftigen Mannes muß in ihm geweckt werden, er muß allmählich im Vater den Freund erkennen und in den abendlichen Erholungsstunden unter seinen Augen das beste Glück finden.“

„Erholung! Bei dieser Ueberbürdung im Lernen! Die Jungen müssen ja bis zehn Uhr fortarbeiten.“

„Ich glaube, das kommt vielfach daher, daß sie nicht verstehen, richtig zu arbeiten, und daß man sie auch darin nicht beaufsichtigt. Wie viel von ihrem Arbeitsstoff müßten sie schon aus der Klasse im Kopfe vorbereitet mitbringen! Dann – eine Stunde Vieruhrbrot, Bewegung im Freien, völlige Ausspannung und hierauf eine weitere Stunde rasches gesammeltes Arbeiten, [214] ohne Hinhorchen auf das, was mittlerweile im Familienzimmer vor sich geht, ohne Abhaltung durch hereingeschneite Kameraden mit allerhand Zerstreuungen und ohne die Freiheit, zwischenhinein fortzulaufen. Mittwoch und Samstag, die Tage der größeren Arbeiten, dürften nicht für Kindergesellschaften und dergleichen verwendet werden; im Theater hat ein Junge unter vierzehn Jahren überhaupt nichts zu suchen – kurz, ich bin überzeugt, daß die Klagen über die Schule vielfach das Haus treffen, denn ich sehe stets wieder Beispiele, daß richtig zur Arbeit und zur Erholung angeleitete und normal begabte Jungen das Gymnasium ohne Ueberanstrengung durchmachen.“

„Es giebt aber solche, die auch bei bestem Willen eine Stunde an einer Seite Wörter lernen, und Fritz gehort leider dazu.“

„Und warum müssen diese durchaus in die gelehrte Schule gezwungen werden?“ fragte der alte Mann ernsthaft. „Haben wir da nicht auch wieder ein Stück Größenwahn unserer Zeit? Warum soll der Sohn des Beamten, Professors und Offiziers nicht einen einfachen praktischen Beruf ergreifen, wenn seine Fähigkeiten zum Studium nicht reichen? Ich weiß wohl, man schützt das Einjährigen-Examen vor. Allein das ist auch von der Realschule aus zu erreichen. Ich möchte doch lieber meinem Sohn das Ziel kleiner stecken und ihn dann mit frischer Kraft drauf losgehen und zum tüchtigen Menschen werden sehen, als ihn schon von Anfang an nach einem höheren vergeblich ringen lassen. Das Sprichwort: ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ hat seinen tiefen Sinn, jedoch nur für den, der nicht zu hoch hinaus will. Man muß auch mit seinen Kindern bescheiden sein; Genies kann nicht jeder zu Söhnen haben, aber sie zu tüchtigen pflichttreuen Menschen erziehen das kann jeder. Und diese finden dann doch ihren richtigen Platz. Lassen Sie Fritz, der, wie Sie sagen, Sinn und Freude für Naturwissenschaften hat, die Realschule und das Polytechnikum besuchen, um sich für die Elektrotechnik oder eine andere praktische Thätigkeit vorzubereiten. In allen diesen Berufsarten hat der Sohn aus gutem Hause, der streng ehrliche und gescheite Mensch, die besten Aussichten. Dann steht Fritz die Welt offen, und wer weiß, was sie noch alles aus seinen Fähigkeiten entwickelt, die heute nicht dazu angethan sind, Latein und Griechisch zu lernen!“

„Sie mögen recht haben,“ sagte Walter zögernd. „Wenn ich nur gewiß wüßte, daß es Unfähigkeit und nicht Faulheit ist! Man entschließt sich so schwer, den Sohn auf das verzichten zu lassen was man selbst einst ohne Schwierigkeit fertig gebracht hat.“

„Wissen Sie was? Schicken Sie mir ihn, so lange Sie hier sind, täglich eine Morgenstunde mit seinen Büchern herauf. Nach vier Wochen glaube ich, Ihnen hierüber ziemlich Gewisses sagen zu können.“

Walter stand ergriffen da. Er kam sich mit seiner eleganten Haltung und dem empfindlichen Selbstbewußtsein auf einmal so klein vor gegen den einfachen Menschenfreund im abgetragenen Rock, der nun bedächtig seine Gartenthüre aufschloß und ihm die Hand zum Abschied hinstreckte. Lebhaft griff er danach und sagte voll tiefer Bewegung:

„Ich danke Ihnen mehr, als Sie ahnen können. Ihr großmüthiges Anerbieten nehme ich als Wohlthat von höchstem Werthe an. Meine Frau wird auch glücklich darüber sein ... dieser Tag wird zur Wendung in unserem Leben. Wie ich Ihnen das alles vergelten soll, weiß ich freilich nicht!“

„Nicht mir – anderen vergelten Sie es,“ erwiderte der Alte, heiteren Glanz auf der Stirne und die Augen voll Milde auf den Jüngeren gerichtet. „Wie kann der einzelne besser dem Ganzen dienen, als indem er jeden Dienst leistet, der überhaupt im Bereich seines Armes liegt? Nichts einfacher als das. Und das Ganze, lieber Freund, das Ganze ist die Hauptsache!“




12.

Ein prächtiger Septembermorgen stand über dem Lande Tirol. Helleuchtend ragten die rosenfarbenen Gebirgshäupter in den tiefblauen Himmel, duftige Nebelschleier zogen zwischen ihren Zinnen und Schrofen hin, und in tausend Tropfen funkelnd dehnten sich die grünen Haiden zum Thal abwärts. Dieses selbst war noch von kämpfenden Nebelmassen verdeckt, aber schon stachen

die Tannenspitzen aus dem weißen Duft heraus ins Sonnenlicht, und immer stärker klang das Wasserrauschen aus der Tiefe. Daneben wurde noch ein anderer Ton hörbar: durch Dampf und Dunst kam das Schnauben einer Lokomotive, die keuchend ihren Wagenzug zwischen Fluß und Bergwand aufwärts schleppte. Sie hatte längst die Stadt Innsbruck mit ihren Kuppeln und ragenden Bergschlössern hinter sich, nun wühlte sie sich immer weiter in das stets enger werdende Thal des Inn hinein, wo die Wände steil in das reißende Wasser hinunterschauen, wo Straße und Bahn dem Felsen abgerungen sind und durch die Scharten da und dort die großen Eis- und Schneefelder von fern hereinlugen. Station Imst war passiert, als das Nebelmeer gerade über der Lokomotive sich theilte, wie durch ihren schrillen Pfiff gespalten, und nun drang mit dem Sonnenschein zwischen den entweichenden Nebelfetzen soviel Pracht von allen Seiten auf die Reisenden im Aussichtswagen ein, daß sie kaum genug Augen hatten, um alles zu sehen.

Ganz vorn an dem großen Glasfenster stand ein junges Mädchen im einfachen grauen Reisekleid. Sie stützte beide Hände auf die Brüstung und wandte das Gesicht, völlig hingenommen, so nach der Aussicht, daß ihren Mitreisenden nur ein schmaler Theil davon sichtbar blieb. Schon lange stand sie so, ungeduldig das Fallen des Nebels erwartend und nach jeder Felsenecke hinaus spähend. Nun, da in unaufhörlicher Folge grüne, dörfergekrönte Höhen, rauschende Wildwasser mit hohen Brücken, silberne Schneefelder über dunklen Tannenwäldern an ihren Augen vorüberzogen, vergaß sie in ihrem stillen Entzücken vollends die Reisegesellschaft, die hinter ihr englisch und deutsch schwatzte. Sie hatte auch nicht bemerkt, daß in Imst ein bestaubter und sonnverbrannter Passagier eingestiegen war, der sie selbst aus dem Hintergrunde des Wagens ein Weilchen zweifelhaft musterte, dann aber, als ihm einen Augenblick ihr volles Profil sichtbar wurde, sich lächelnd den graublonden Bart strich und murmelte:

„Sieh da, die selbständige Paula! Am Ende auf der Reise nach der Emanzipation! Aber wie gut sie aussieht in ihrer entschlossenen Haltung – keine Spur von ihrem sonstigen gedrückten Wesen!“

Und Thormann, denn er war es, setzte sich seitwärts und betrachtete über ein paar alte Engländerinnen weg die feine Umrißlinie des Kopfes mit dem weichen Filzhütchen auf tiefgesteckten dunkeln Flechten und die schlank abfallenden Schultern, über welche der Riemen des Täschchens lief.

Ein Tunnel klappte jetzt den schwarzen Deckel über das farbenreiche Bild draußen, und allgemeines Niedersitzen erfolgte. Thormann half sich in der Dunkelheit über ein paar Sitze vorwärts; als dann wieder Helle zu den Fenstern hereindrang, fiel Paulas Blick auf ein wohlbekanntes, ernsthaft freundliches Gesicht, dessen hellblaue Augen mit einer gewissen Erwartung nach ihr hinsahen.

Eine leise Röthe stieg in ihre Wangen, dann stand sie auf, that entschlossen einen Schritt gegen ihn, der sofort emporsprang, und bot ihm die Hand.

„Herr Thormann – wie froh bin ich, Sie hier noch einmal zu sehen!“

Unter dem Bartdickicht entwickelte sich ein humoristisches Lächeln, und mit einer gewissen Anzüglichkeit sagte der Maler:

„Ich hätte nicht gehofft, eines solchen Vorzugs zu genießen, gnädiges Fräulein.“

„Schelten Sie nur, Sie haben alles Recht dazu,“ sagte sie freimüthig und blickte ihn dabei so unverzagt an wie noch niemals während ihrer Bekanntschaft, „ich habe mich damals gar zu albern gegen Sie benommen, als Dank für Ihre Freundlichkeit. Längst hätte ich Sie gern um Verzeihung gebeten, und daß ich dies nun auch noch kann, das letzte, was mir vor dem Abschied noch auf der Seele lag, das macht mich wahrhaft glücklich. Nicht wahr, Sie tragen mir’s nicht ferner nach?“

„Ich habe das bis jetzt auch nicht gethan; ich bedauerte nur hinterher, wieder einmal nach meiner verzweifelten Gewohnheit zu geradeaus geredet zu haben. Schlimm, wenn man so etwas nicht loswerden kann!“

„Mir kommt das gar nicht schlimm vor,“ erwiderte sie ernsthaft. „Sie dürfen auch nicht glauben, es habe mich verletzt, zu merken, daß Sie meine Lage als hilfsbedürftig kannten, nein, gewiß nicht. Es kam nur an jenem Tage so viel zusammen ... [215] Sehen Sie,“ fuhr sie entschlossen fort, „obgleich es eine schlechte Entschuldigung ist und ich sonst gar nicht zugeben mag, daß eine Frau sich immer auf das Gefühl berufen soll, statt auf vernünftige Gedanken – ich kann nur sagen, daß ich damals furchtbar unglücklich war, hoffnungslos, aus Verhältnissen herauszukommen, in welchen ich mich langsam ersticken fühlte. Das alles hätte ich Ihnen damals nicht mittheilen können – heute ist es anders, ich fühle mich jetzt in der Freiheit als ein neuer Mensch und jetzt, abschiednehmend von den alten Verhältnissen und auch von Ihnen, ist es mir eine wahre Erleichterung, alles das einmal offen auszusprechen.“

„Heute sind Sie ganz glücklich, wie es scheint, Fräulein Paula!“

„Ja!“ sagte sie mit glänzenden Augen. „Jetzt habe ich erreicht, was damals unmöglich schien. Ich bin auf dem Wege nach Zürich und dort werde ich die Freiheit haben, nach Herzenslust zu arbeiten, alle Grundlagen selbst zu erwerben, statt nur immer die Resultate aus zweiter Hand zu nehmen; in einigen Jahren kann ich dann an der Schwelle einer eigenen Laufbahn stehen!“

War das dieselbe Paula, die sonst scheu jedem Gespräch auswich? Als unbefangener Beobachter hätte Thormann finden müssen, wie jetzt erst dies junge geistvolle Gesicht seinen wahren Ausdruck hatte und wie lieblich bei dem eindringenden Blicke der Augen die reine Unschuld des Mundes wirkte. Aber er schien nicht zu solcher Betrachtung aufgelegt, er fühlte sich von so viel kühler Selbständigkeit unangenehm berührt und sprach seinen Gedanken aus.

„Sie sind ehrgeizig, Sie möchten sich auszeichnen!“

„Ich möchte eine Pflicht haben und sie erfüllen,“ sagte sie einfach. „Ich glaube, daß es unerlaubt ist, nur für sich hinzuleben, ohne irgendwie zu nützen. Es giebt so viel in der Welt zu thun, wenn man den Willen dazu hat –“

„Sollte sich die Gelegenheit dazu nicht vor allem in der eignen Familie bieten?“ fragte er hartnäckig.

Sie sah ihn ohne alle Empfindlichkeit an: wenn das seine Meinung war, mußte er sie selbstverständlich aussprechen; allein einschüchtern ließ sie sich nicht dadurch.

„Die Familie!“ erwiderte sie lebhaft, „die Fessel, die tausend Mädchen bindet, ohne ihnen dafür das Gefühl der Unentbehrlichkeit zu geben! Wo schon zwei Töchter vorhanden sind zur Hilfe und Unterhaltung – muß da die dritte auch dabei bleiben, um unnütze Tage herumzubringen und fortwährend das Gefühl der eigenen Ueberflüssigkeit zu genießen? Wie viele meiner Bekannten leiden unter demselben Drucke, wie viele möchten ernstlich arbeiten, da man ihnen ja von Kind auf den Segen der Arbeit predigt, und dürfen es nicht, weil entweder der Anstand oder der Papa oder sonstige Rücksichten es verbieten. Heirathet ein Mädchen mit siebzehn Jahren, wohl und gut, dann entläßt die Familie sie mit Freuden –“

„Weil sie damit ihre Bestimmung erfüllt.“

„Und die vielen, die nicht dazu gelangen, die dann nach dem Tode der Eltern arm und unfähig zu einer Erwerbsthätigkeit dastehen? Ist es nicht grausam, ihnen eine solche Zukunft zu bereiten, nur damit Papa und Mama sich zeitlebens so recht gemühtlich im Kreise ihrer Töchter fühlen?“

Darauf war nicht so leicht zu antworten. Er sah sie nachdenklich an. Wieviel Bitterkeit mochte die junge Seele schon in sich verwunden haben! Und sie deutete mit keinem Worte auf eigene Leiden hin!

Schweigend saßen sich Paula und Thormann eine Zeit lang gegenüber.

„Ich begreife sehr wohl,“ sagte der letztere endlich, die vorher ausgesprochene Reue über seine Aufrichtigkeit schon wieder vergessend, „daß gerade Sie in Ihren häuslichen Verhältnissen sich nicht wohl fühlten.“

„Ich paßte nicht hinein, das war alles, und deshlab konnte niemand mit mir zufrieden sein. Mama hat auch mich sehr lieb, aber meine ganze Richtung war ihr ungeheuerlich. Und Vilma –“ sie sah den plötzlich sich verdüsternden Ausdruck seines Gesichtes und fuhr mit raschem Erröthen fort: „Utheilen Sie nicht hart über Vilma! Sie ist ein Ausnahmegeschöpf mit glänzenden Eigenschaften ausgestattet. Auch sie leidet unter dem Drucke der Verhältnisse, sie würde sich in glücklicheren ganz anders entwickelt haben.“

„Fräulein Paula –“ fing er an und stockte, denn, was ihm auf den Lippen schwebte: „Sie sind ein außerordentliches Mädchen!“ das konnte er doch nicht aussprechen und ebensowenig konnte er ihr hier vor den Leuten die Hand drücken wie er gerne gethan hätte. So blieb nichts übrig, als sie lange und eindringlich anzuschauen, wobei es ihm war, als sehe er sie heute zum ersten Male. Sie empfand darüber eine plötzliche Verlegenheit und wandte die Augen wieder durchs Fenster, der so lange vernachlässigten Aussicht zu.

Da ging ihm die Möglichkeit des Verabschiedetwerdens auf, und er beeilte sich, das Gespräch wieder anzuknüpfen.

„Sie haben sich also für ein Leben der Pflicht begeistert. Und der Gedanke, im fremden Lande allein unter fremden Menschen zu stehen, schreckt Sie nicht?“

„Es giebt ein schönes Wort, an das ich oft denke: ‚Die Erde ist überall des Herrn‘. Das heißt für mich: überall stehen wir im Dienste unserer Mission und finden Genossen dafür. Freilich an unser kleines persönliches Ich dürfen wir nicht soviel denken, es ist ja auch ein herzlich uninteressantes Ding, das muß sich unterordnen!“

Er lächelte. „Und wenn einmal – verzeihen Sie dem Ungläubigen, der Ihnen auf diese Höhe nicht zu folgen vermag – wenn einmal der Tag kommt, wo Ihr Herz, das so streng zur Ruhe verwiesene, doch sprechen wird?“

„Aber das hat ja längst gesprochen!“ rief sie eifrig, wie ein Schulmädchen, das recht haben will.

„Ah! ... In der That?“ stieß er verblüfft und merklich enttäuscht heraus, um nach einer kleinen Pause hinzuzusetzen: „Freilich, wie konnte ich das auch vergessen!“

„Sie?“ fragte Paula ganz erstaunt. „Ja, woher wollen Sie denn überhaupt etwas von mir wissen?“

„Nun, wissen wohl eigentlich nicht, aber vermuthen. Ich sah es selbst an jenem Winternachmittage im ‚Lehrlingshort‘, wie eifrig der junge Lehrer Ihre Gesellschaft suchte.“

„O,“ rief sie lachend mit der mädchenhaftesten Schelmerei, „das ist köstlich, da sind Sie hübsch fehlgegangen! Herr Lenz ist ja mit Selma Breitenbach, der Tochter des Vorstandes, im stillen verlobt. Der folgte er – freilich ging sie mit mir Arm in Arm.“

„Nun, wenn es also dieser nicht ist –“

„So braucht es noch lange kein anderer zu sein. Sie haben mich vorhin ganz mißverstanden und ich Sie auch, als Sie von dem Herzen sprachen. Ich wollte nur sagen: mein Herz ist aufs lebhafteste bei meiner künftigen Berufswahl betheiligt; alles Glücksgefühl, das ich jetzt empfinde, strömt ja einzig aus ihm hervor!“

„Eine seltsame Anschauung von Glück in so jungen Jahren!“ sagte er kopfschüttelnd.

„Sie ist für mich die natürliche,“ erwiderte sie einfach. „Jeder muß doch von seiner Stelle aus das Leben ansehen, nicht wahr? Nun, ich sehe, seit ich denken kann, ein rastloses Jagen nach persönlichem Glück, ich sehe Menschen, die scheinen wollen, was sie nicht sind, um Zwecke zu erreichen, die sie nicht eingestehen. Dabei täuschen sie sich doch fortwährend und werden innerlich klein, völlig unfähig, die großen geistigen Freuden des Lebens auch nur zu ahnen. Ist es ein Wunder, wenn man sich da einmal auf den gerade entgegensetzten Standpunkt stellt? Ich habe das natürlich ganz in der Stille gethan, denn so oft ich redete, wurde ich als ganz verkehrt und unpraktisch ausgelacht. Aber ich kann nicht anders fühlen; mir kommt das Geschenk des Lebens als etwas so Hohes und Wunderbares vor, dieses zum Licht Auftauchen für eine kurze Spanne Zeit, daß ich es wie ein Angstgefühl empfinde, nicht hinlänglich die Verpflichtungen zu erfüllen, die es auferlegt. Früher, wenn ich von großen Menschen las, pochte mir das Herz, es ihnen nachzuthun. Seither habe ich wohl eingesehen, daß das nur den Außergewöhnlichen möglich ist; aber zugleich ist es mir immer wärmer und beglückender zum Bewußtsein gekommen, daß auch der Bescheidenste wirken kann, wenn er sich ganz in den Dienst der Pflicht stellt. Und dies ist nun mein fester Vorsatz geworden, und wenigstens einer billigt ihn, mein lieber alter Onkel Mayer, der für mich der verehrungswürdigste aller Menschen ist. Wo mich das Schicksal künftig verwenden wird, weiß ich nicht, ich folge einstweilen dem Weg, den meine Fähigkeiten mir zeigen. Täusche ich mich über sie, reichen sie nicht zu einer guten Ärztin, so werde ich eine gute Pflegerin werden. Allein nützen und zugleich lernen – das werde ich immer können, und da dies nun einmal mein Begriff von persönlichem Glücke ist, so verstehen Sie wohl, daß ich eine außergewöhnlich glückliche Person sein werde!“

[216] Sie blickte ihn lächelnd an, aber wie verschieden war dabei ihr leuchtender klarer Blick von Vilmas bedeutungsvollem Augenaufschlag! Der Vergleich kam ihm ganz plötzlich zu Sinne, und er begriff nicht, daß er diese ebenfalls sehr schön geschnittenen großen Augen so lange neben den anderen kaum bemerkt hatte. Indessen – ging es nicht mit der ganzen Persönlichkeit ebenso? Diese Paula war ja die weitaus interessantere von beiden! Und das erkannte er jetzt erst, wo sie ihm in kürzester Frist schon aus den Augen verschwinden sollte!

„Station Landeck!“ – Schon?! .. Hier sollte er ja aussteigen, um nach Finstermünz zu kommen. Na, dem ließ sich leicht abhelfen durch ein Billet nach der Schweizer Endstation, so blieb man noch ein paar Stunden beisammen. Ihm konnte es ja einerlei sein, wohin er fuhr, und so angenehm hatte er sich seit lange nicht im Bahnwagen unterhalten.

Eilig entstieg er demselben, das neue Billet zu holen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Paula erfuhr nur im Laufe der Unterhaltung, daß er einen Ausflug ins Rheinthal vorhabe. Dann saßen sie in bester Stimmung an dem geöffneten Aussichtsfenster beisammen. Die herrlichen Landschaftsbilder zogen vorüber, und der goldene Septembertag goß seinen Glanz darüber aus. Die beiden Schweigsamen geriethen so lebhaft ins Gespräch, daß ihnen die Zeit vorüberflog wie draußen die wechselnde Landschaft, und bald kam über jedes von ihnen ein heiteres Sichgehenlassen, als habe es das andre schon lange gut gekannt.

In Feldkirch schaffte Thormann einen Kellner mit Wein und Speisen herbei, er nöthigte Paula, die in Gedanken an ihre schmale Börse am liebsten nur ein Brötchen gegessen hätte, zum Zugreifen und wurde sehr zornig, als sie einen schüchternen Versuch zum Zahlen machen wollte. Dann ging es weiter, und ihm fiel der bevorstehende Abschied immer schwerer ins Bewußtsein. Das Gespräch fing an, Pausen zu bekommen.

„Fräulein Paula,“ begann er plötzlich nach einer solchen, „kennen Sie meine Kleine?“

„Sigrid? O ja, ich habe sie bei meinen Schwestern gesehen.“

„Welchen Eindruck machte sie Ihnen?“

Paula zögerte in der Erinnerung an Sigrids maßlose Ungezogenheiten. „Sie sieht intelligent aus,“ sagte sie endlich.

„Und ist nebenbei sehr verzogen, nicht wahr?“

„Ich glaube, ja!“

„Das finden Sie also auch! Ich merke es schon seit längerer Zeit, aber wie soll man dem abhelfen?“

„Können Sie sich nicht entschließen, das Kind ein paar Jahre von sich wegzugeben, in ein gutes Familieninstitut, wo es von erfahrenen Frauenhänden zum Rechten angehalten wird? Ohne solche Erziehung werden die Kinderunarten leicht zu Charakterfehlern der Erwachsenen, und die sind dann nicht mehr zu ändern.“

„Sie haben wohl recht!“ seufzte der solchergestalt am Gewissen gepackte Vater und versank eine Zeit lang so tief in Nachdenken, daß er nicht merkte, wie nahe schon das Ziel der Fahrt sei, und über den Ruf: „Station Buchs!“ ganz verstört auffuhr.

Zwanzig Minuten Aufenthalt – Zollrevision, Gedränge und Durcheinander! Thormann leistete der jungen Reisenden noch jeden möglichen Dienst, dann half er ihr ins Damencoupé. Ein kurzer Händedruck war gewechselt worden, er hatte es auch nur zu ein paar einfachen Abschiedsworten gebracht, aber seine treuen blauen Augen ruhten so selbstvergessen auf dem jungen Gesicht hinter den Wagenfenstern, daß eine Paula gegenübersitzende töchterreiche Mutter es entschieden auffallend fand.

Da klangen die drei kurzen Glockenschläge – noch ein Gruß, ein freundliches Nicken zur Antwort – und fort rollte der Zug.

Thormann saß noch lange in der Bahnhofrestauration, gedankenvoll vor sich ins Glas starrend, und würde ohne die Mahnung des Kellners nicht mehr in den Zug gekommen sein, der nach Landeck zurückfuhr. Paula ihrerseits dachte in dem überfüllten Damencoupé: „Eigentlich haben die nicht so unrecht, die ihre Lebensreise gern im Schutze einer guten und treuen männlichen Begleitung machen wollen.... Ah bah! man muß sie auch allein fertig bringen. Kopf in die Höhe, nun geht das neue Leben an!“ Aber es erschien ihr auf einmal nicht mehr so beglückend wie heute morgen.




Lars Thormann an Paula von Düring in Zürich.
Landeck, 20. September 18 .. 
Mein verehrtes Fräulein!

Es sind erst fünf Tage, seit Sie von mir geschieden sind, und doch dünken sie mich sehr lange. Ich sitze hier oder laufe auch wohl umher, aber meine Gedanken drehen sich unablässig um einen Punkt, und ich kann nicht mehr anders, als Ihnen dieselben mitzutheilen. Vermuthlich, ich sage mir es immer wieder, wird das an Ihrem Entschluß nichts ändern können, aber eine schwache Möglichkeit bleibt immerhin, und auf diese richte ich jetzt meine Augen, wenn ich Ihnen schreibe.

Fräulein Paula – müssen es durchaus fremde Menschen in unbekannten Verhältnissen sein, welchen Sie Ihre Sorge und Theilnahme widmen wollen? Könnten Sie sich nicht entschließen, als den Ihnen bestimmten Ort der Pflicht das Haus eines einsamen Mannes anzusehen, der gerade genug Ecken und Wunderlichkeiten hat, um den Verkehr mit ihm recht schwierig zu machen, ganz abgesehen von seinem Kinde, zu dessen endlicher Erziehung die Geduld eines Engels nothwendig ist?

Sie sehen, ich biete Ihrem Hunger nach Opfern und Selbstüberwindung glänzende Aussichten. Nun aber lassen Sie mich als ehrlichen Mann auch die erschwerenden Umstände anführen! Daß Sie nämlich mit einem Ja einen Menschen unendlich glücklich machen würden.

Es war nur ein Tag, den wir miteinander zubrachten, allein er hat mir in Ihnen ein Wesen gezeigt, wie ich es nicht mehr hoffte finden zu können. Und nicht nur Ihr fester besonnener Geist, Ihr klares Gemüth sind es, die mich entzücken – es ist ebenso die Anmuth Ihrer äußeren Person, Ihr holdes Lächeln, die braunen stillen Augen, Ihr ganzes liebes Bild, das überall, wohin ich gehe, mich umschwebt.

Dies mußte ich Ihnen sagen, auf die Gefahr hin, daß es Sie erschreckt und meinem Antrag abgeneigt macht. Es ist mir sehr ungewiß zu Muthe, liebe Paula, denn ich weiß, daß Sie mich viel näher kennen müßten, um Ihre Hand ohne Ueberwindung in die meine zu legen. Und doch möchte ich die Hoffnung haben, daß Sie mich künftig lieben lernten, wie ich Sie heute schon von Herzen liebe. Entscheiden Sie also! Aber lassen Sie mich, ich bitte, nicht länger in dieser Ungewißheit, als durchaus nöthig ist! Geben Sie mir ihr Ja oder Nein telegraphisch hierher! Im letzteren Falle hören Sie nie mehr von mir, im ersteren kommt zwölf Stunden später und holt Sie als ein sehr Glücklicher heim Ihr Lars Thormann. 



Telegramm.
Herrn Thormann, Landeck.

Ja, und ohne Ueberwindung! Paula. 




13.
Fünf Jahre später.

„Siebenundvierzig!“ sprach der Ministerialrath Walter und that dabei einen Athemzug, der fast wie ein Seufzer klang, obwohl die Veranlassung zu einem solchen aus seiner augenblicklichen Situation nicht abgeleitet werden konnte Denn er stand am Abend seines Geburtstages, Gäste erwartend, in dem schönen hellbeleuchteten Salon, Frau und Tochter zur Seite, und betrachtete mit ihnen noch einmal die unter Blumen und Kuchen aufgebaute Gabenfülle seines Tisches: neue Bände Afrikareisen, hübsche Juchtengegenstände, daneben zwei schriftliche Geistesprodukte der Herren Söhne und feine, schneeweiße, von Elsbeths fleißigen Fingern gesäumte Tücher, außerdem noch manches Zeichen glückwünschender Freundschaft. All dies war sehr schön und erfreulich, und doch seufzte der Herr Ministerialrath.

„Siebenundvierzig!“ wiederholte er nachdenklich. „Die Jugend ist vorbei, das Rad steht nicht still, ob man auch noch so sehr verlangt, in seine Speichen greifen und ‚Halt!‘ rufen zu können. Es hilft nichts, als sich mit Ergebung aufs Altwerden einzurichten – wie, Schatz?“ Und er wandte zärtlich die Lippen nach dem blonden Haupt, das glücksfroh wie einst in fernen Jugendtagen an seiner Schulter lehnte.

„Da hört man wieder einmal den ‚schönen Mann‘,“ sagte Karoline Wiesner, die eben beschäftigt war, ihre Geburtstagsgabe, [218] Elsbeths Porträt, ins beste Licht zu rücken. „So einer ist doch immer doppelt so anspruchsvoll und undankbar als das übrige Mannsvolk. Haben Sie noch nicht genug an Glücksgütern, Unersättlicher? Eine glänzende Beförderung –“

„Nur seinen Verdiensten angemessen,“ versetzte die schlanke Elsbeth und hob sich auf den Zehenspitzen liebkosend an dem Papa empor.

„Eine Frau, für die Sie alle Tage Gott auf den Knien danken müßten, die ungerathenen Mädels, die ihren Papa nur verwöhnen, die beiden Jungen, an denen Sie Freude haben können –“

„Na ja,“ erwiderte er gedehnt. „Das ist alles gut und schön. Aber die Bedingung, unter der man das hat, das eigene Altern, ist eben doch eine scheußliche Sache.“

„Je nachdem man’s nimmt,“ erwiderte sie mit verstellter Unschuld. „Die wirklichen Altersbeschwerden fangen bei gesunden Meuschen erst hinter den Sechzigern an, und bis dahin ist’s doch eine hübsche Zeit gewesen!“

„Ach, davon spreche ich jetzt nicht –“

„Sie meinen mehr den kosmetischen Theil der Sache?“ lachte sie. „Ja, das ist freilich für schöne Leute sehr schmerzlich. Darin haben es die Nichthübschen besser; wer nie geblüht hat, dem thut auch das Verblühen nicht weh. So gleicht sich alles aus in dieser Welt. Aber es giebt doch ein ausgezeichnetes Mittel auch für die Schöngewesenen, alle unangenehmen Empfindungen darüber los zu werden –“

„Und das wäre?“ fragte er mißtrauisch.

„Sie errathen es nicht?“ Sie setzte sich zu ihm und sah ihn lächelnd an. „Nun, ganz einfach, am fünfzigsten Geburtstag seine Eitelkeit abthun, ermorden, austilgen! Denn sie allein ist es doch, die vor dem Altaussehen zittert. Graue Haare thun nicht weh, Falten ebensowenig, man kann trotzdem innerlich jung bleiben und von den Jungen geliebt werden, wenn man ein warmes Herz für sie behält und nicht vergißt, daß jetzt die Zeit gekommen ist, an sie abzuzahlen, was man einst von seinen Alten empfing. Das ganze Leben ist uns ja nur unter Bedingungen gegeben, und eine davon heißt: das Alter so selbstverständlich und natürlich hinnehmen, wie man einst die Jugend nahm. Es hat wie diese seine Merkmale, seine Leiden und Freuden –“

„Und Freuden?!“ wiederholte Walter ironisch.

„Rechnen Sie die ruhige Erkenntniß, den inneren Frieden, die Freiheit von leidenschaftlichen Irrthümern für nichts? Wer Gesundheit und verhältnißmäßige Körperkraft bewahrt, der kann auch in älteren Tagen im Natur- und Kunstgenuß ein unendlich erhöhtes Glück finden, er wird, im Hinblick darauf, daß die Nacht kommt, in der niemand wirken kann, doppelt für das Wohl seiner Mitmenschen sorgen und handeln, und er wird in solcher Thätigkeit genug Herzen finden, die ihm in lebhaftester Neigung anhängen. Das ist für meinen Geschmack ein wahreres Jungbleiben, als radfahrender Greis zu sein oder gletscherbesteigende Großmutter oder was für Blüthen die ‚Berechtigung der Persönlichkeit‘ heut zutage sonst noch treibt.“

„‚Man ist so alt, als man sich fühlt‘!“ citierte Walter.

„Ja, aber die Natur schreibt mit deutlichem Finger den Kommentar zu diesem Spruche in die Gesichter, und die anderen sehen’s, man mag sich fühlen, wie man will. Ich kannte eine Dame, welche sagte: ‚In der Gesellschaft wird man nicht älter als vierzig Jahre, was darüber ist, das muß gemacht werden!‘ Nun, und sie ‚machte‘ es denn auch so gut, daß sie aussah wie ein übertünchtes Grab.“

Emmy lachte. „Nein, Linchen, soweit kommen wir nicht. Wir altern einmal ganz hübsch natürlich, mit Würde und Heiterkeit. Ich weiß übrigens gar nicht, wie Ihr gerade auf dies Gespräch verfallt. Schau’ ihn Dir doch einmal an, sieht er denn für seine Siebenundvierzig nicht brillant aus?“

„Natürlich thut er das, er will ja bloß mit seinem Alter kokettieren. Wenn’s einmal Ernst wird, spricht er nicht mehr davon.“

„Und der junge Gatte Thormann ist nicht viel jünger als er.“

„Der Thormann, ja wahrhaftig! Aber ich weiß nicht, bei dem denkt man überhaupt nicht daran, ob er alt oder jung ist; ich glaube, weil er selbst nicht daran denkt und in aller Unbefangenheit so dahinlebt. Das sind doch die Glücklichsten, die das fertig bringen.“

„Kein Wunder,“ dachte Hugo und warf einen schnellen Blick in den Spiegel, aus dem ihm ein immer noch eines Odysseus würdiges Haupt, wenn auch mit etwas Silberglanz an den Schläfen, tröstlich entgegenleuchtete, „kein Wunder! Wer so aussieht wie der gute Thormann, der weiß nicht, was andere mit der Jugend verlieren. Und das naive Linchen spricht auch davon wie der Blinde von der Farbe. Na“ – zweiter Blick der Genugthuung „eine Weile thut sich’s noch!“

Und er strich vergnügt den weichen dunkeln Bart und durchmaß mit raschem Schritte den Salon bis zur Eingangsthür, wo eben die ersten Besucher erschienen – das Ehepaar Hoffmann. Hinter ihnen erschien Helenchen; sie sah noch ebenso blaß und verschwommen aus wie vor fünf Jahren, ein ungewisser Zug von Niedergeschlagenheit schwebte um ihre Lippen; sie schloß die jugendfrische Elsbeth mit gewaltsamer Zärtlichkeit in die Arme. Von Hoffmanns Söhnen war keiner erschienen, die jungen Herren verabscheuten den Zwang der Geselligkeit, und es konnte ihrem die Freiheit eines jeden achtenden Vater nicht in den Sinn kommen, sie dazu anzuhalten. Hätte er ihnen nur alles andre Störende ebenso ersparen können! Aber nicht einmal die wahrhaft traurige Examensordnung konnte er zu ihren Gunsten abändern: seine Reden in der ersten Viertelstunde waren ein einziger Strom von Entrüstung gegen die Gymnasialprofessoren, die seine beiden Aeltesten, die hochbegabten Jungen, auf eine wahrhaft empörende Weise schikaniert hätten. Natürlich waren beide durchgefallen.. „Und Fritz?“ schloß er, einen Blick nach dem hochgewachsenen Siebzehnjährigen hinüberwerfend, der soeben mit seinem Bruder Moritz nach beendigter Arbeit noch für eine Stunde in der Gesellschaft erschien.

„Er ist glücklich nach Prima gekommen,“ sagte Emmy einfach. Es widerstrebte ihr, von den wirklich guten Zeugnissen zu reden, die ihr Aeltester seit den letzten Jahren regelmäßig heimbrachte; sie war überglücklich im stillen. Wie hatte ihr häusliches Leben sich nach jener Schreckensnacht in Allersbach geändert! Welch ein Unterschied zwischen ihrem damaligen steten Zittern vor Hugos Unzufriedenheit und ihrem jetzigen offenen gegenseitigen Vertrauen! Freilich ohne Schwierigkeiten war es wohl nicht abgegangen, aber sie hatten sich beide redlich gemüht. Die Thatsache, daß Fritz damals unter des alten Professors Leitung in Bälde gern und ordentlich arbeitete, traf das Gewissen seines Vaters, und mit nicht geringerem Eifer als der Junge nach der Lösung seiner Aufgaben rang jener nach der richtigen Art, ihn zu behandeln. Er suchte sein Vertrauen und seine Liebe auf langen Spaziergängen wieder zu gewinnen, und bald hing Fritz mit Begeisterung an ihm. In Gedanken segnete Emmy den einfachen Landaufenthalt heute noch aus Herzensgrund! Denn im nächsten Winter verstand sich alles von selbst – Hugo ging abends nur noch selten aus, weil es ihm wohl war im Kreise seiner Familie, die Knaben arbeiteten eifrig, um abends fertig zu sein, wenn der Papa heimkam, er nahm theil an den Liebhabereien der Kinder und richtete allmählich das Interesse der Heranwachsenden auf die großen Fragen des Lebens. Dabei war er selbst stets am meisten überrascht von ihrem raschen Verständniß und wunderte sich, wie viel anziehender die Entwicklung dieser jungen Seelen war als die politischen Gespräche seiner Wirthshausherren, die er, genau besehen, alle auswendig kannte. Und merkwürdig – gerade als sein ganzes Wesen voll durch Beruf und Familie in Anspruch genommen war, so daß kein Raum mehr für unzufriedene Nebengedanken blieb, gerade da war der Ruf ins Ministerium erfolgt, der mit der Gehaltsvermehrung einen bedeutend erweiterten Wirkungskreis und große Befriedigung brachte. Kurz, es war reiches Glück emporgeblüht aus der einfachen Thatsache, daß der Vater seine Pflichl erfüllte, wie die Mutter sie von jeher gethan hatte!

„Will Fritz immer noch nach Kamerun?“ fragte Hoffmann ironisch lächelnd.

„Ja, sein Traum sind die Kolonien,“ erwiderte Emmy. „Aber er weiß, daß es dazu solider Grundlagen bedarf, und so soll er vorher erst ein recht tüchtiger Ingenieur werden; Begabung und große Lust dazu hat er.“

„Und Moritz? Den bringen Sie wohl nicht durchs Gymnasium?“ fuhr der gute Freund fort.

„Da er Kaufmann werden will, brauchen wir den Versuch nicht zu machen. Er ist in seiner Realschule sehr fleißig und schwärmt ebenfalls von künftigen überseeischen Unternehmungen. Vor der Hand sind wir glücklich, die beiden lieben Jungen noch um uns zu haben.“

„Ja, ja,“ sagte Linchen, die Emmys glänzendem Blicke folgte, „die [219] Herren Söhne in allen Ehren, wenn man sie glücklich so weit hat. Aber jetzt betrachtet mir einmal dort das vergnügte Kind Gottes, die Elsbeth! Wie so was emporwächst, schlank und nett, ohne Umstände und immer frohgemuth, das ist schon eine Freude zum Ansehen; das junge Mädel, wie es sein soll, statt der schickmäßigen jungen Dame mit der Ueberlegenheitsmiene und dem frühzeitig vertrockneten Herzen! Auf die darfst Du Dir zu allererst etwas einbilden, Emmy.“

„Sie ist sehr hübsch,“ sagte der Medizinalrath anerkennend, „da macht sich das Gefallen von selbst.“

„Sie ist verständig, gut und heiter dazu,“ erwiderte Linchen eifrig, „das sind die drei Kardinaltugenden der Frau, und wo diese sich mit hellen Augen und rosigen Wangen verbinden, da kann man für das übrige ganz unbesorgt sein. Und passen Sie ’mal auf: die kleine Maja, die jetzt noch um acht Uhr zu Bett geschickt wird, das giebt einmal eine Schönheit!“

Die harmlose Karoline sprach nach ihrer Gewohnheit ohne Nebengedanken, der Vater seiner Tochter aber hatte Gründe, die Unterhaltung nicht reizvoll zu finden, und brach deshalb ab, indem er sich zu Emmy wandte.

„Sagen Sie ’mal, habe ich mich getäuscht oder ging vorige Woche wirklich der langbeinige junge Amerikaner an mir vorbei, den Sie vor ein paar Jahren im Hause hatten?“

„O, Francis Weston! Ja, der war es wirklich. Er besuchte uns auf seiner Hochzeitsreise, die natürlich bis nach Aegypten geht, und schien ungeheuer glücklich zu sein.“

„Brannte er denn nicht früher stark für Vilma?“

„Das mag sein; sein Herz war, glaube ich, aus sehr brennbarem Stoff. Allein nun scheint es endgiltig beruhigt und untergebracht zu sein; er erzählte mir, daß es zwei Jahre ‚sehr in Liebe war‘ mit Miß Herbert. ‚Aber ich sagte sie nichts davon, wenn wir waren allein, bis ich gehen konnte, zu sprechen mit ihrem Vater. O, es war sehr, sehr schwer‘. Und diese Prüfung scheint den guten Frank zum Manne gehärtet zu haben. Er tritt nach Beendigung der großen Hochzeitsreise ins Geschäft seines Schwiegervaters drüben ein.“

„Sieh einmal, da kommen Thormanns!“ sagte der Medizinalrath und betrachtete voll Interesse das Ehepaar, welches soeben den Hausherrn begrüßte. Auch Emmy eilte in herzlicher Freude hinzu.

„Merkwürdig,“ bemerkte Hoffmann zu dem vor einigen Augenblicken mit Helenchen herangetretenen Doktor Seiler, „wie famos der graue Mensch aussieht, seit er geheirathet hat. Das Glück leuchtet ihm ja förmlich aus den Augen. Und die junge Frau wie eine ernste Muse in dem weißen Gewand! Sonderbar, daß man die früher so wenig neben Vilma beachtete.“

„Ich finde sie gar nicht hübsch,“ sagte Helenchen geringschätzig. „Die Nase ist entschieden zu groß, und dann hat sie so einen eingebildeten Ausdruck im Gesicht!“

„A propos,“ fragte ihr Vater, leiser sprechend, den Journalisten, „wo ist denn die schöne Vilma diesen Sommer hingerathen? Man hat ja gar nichts von ihr gehört! Zieht sie sich jetzt von der Welt zurück?“

Seiler zuckte die Achseln. „Zuletzt sah ich sie mit ihrer würdigen Mutter in Reichenhall, und in ihrer Begleitung stets einen ältlichen abgelebten Diplomaten, der nur noch Haut und Knochen war, aber ein wirklicher Graf. Dem that die Alte wunderschön. Hören Sie, das ist ein gräßliches Weib!“

„St! da kommt sie eben!“ Und in der That erschien, einigen neuen Gästen voraus, unter der Thür Frau von Dürings erhitztes Gesicht, und sie eilte, die fetten Händchen ausstreckend, auf Emmy zu.

„Liebste Frau Ministerialrath, nicht wahr, wie unbescheiden, daß ich hier eindringe, wo Sie Gesellschaft haben –“

„Sie erfreuen uns sehr damit, Frau von Düring,“ erwiderte Emmy freundlich. „Es ist nur unser wöchentlicher einfacher Empfangsabend, freilich heute etwas festlicher durch den Geburtstag meines Mannes –“

„Ich komme nämlich gerade von der Bahn,“ fuhr Frau von Düring fort, ohne Emmys Rede zu beachten, „das heißt, von Paula, zu der ich fuhr; ich hörte, sie sei hier bei Ihnen ah, da bist du ja, mein Kind –“ und sie hauchte einen flüchtigen Kuß auf die Stirne ihrer Tochter – „ich wollte Dir eine große Neuigkeit bringen, eine sehr beglückende.“ Bei diesen Worten richtete sie sich empor und sprach im Kreise umhersehend voll Triumph: Unsere Vilma ist Braut – Braut des Grafen Vöhrenberg – eines der ältesten österreichischen Häuser – Schloß in Böhmen – ein wahrhaft en–or–mer Grundbesitz – wir werden künftig auch dahin übersiedeln – ich bin entzückt von meinem Schwiegersohn, aber positiv entzückt!“ ...

Alles dies sprudelte sie mit einer Geläufigkeit heraus, die bereits von bedeutender Uebung sprach, und warf dabei den Kopf so stolz empor, als es bei ihrer Kürze und ihrem Umfang nur irgend möglich war.

Die murmelnde Bewegung der Gesellschaft hätte sich am besten durch ein allgemeines tiefgefühltes: „Nun, Gott sei Dank, – endlich!“ wiedergeben lassen, sie kam indessen Frau von Düring gegenüber in der geziemenden Form zur Aussprache und diese nahm, in einem Sessel sitzend, mit der Theetasse in der Hand, eine Gratulation nach der andern huldvoll entgegen.

„Ja, sehen Sie, Liebste,“ sagte sie sehr laut, als Fräulein Linchen ihren von unerschütterlicher Sympathie für Vilma eingegebenen Glückwunsch aussprach: „Sie haben ganz recht, Vilma ist eine Perle, ein Juwel! Gott, wie viel glänzende Partien hätte das Kind früher machen können! Aber sie konnte sich nie entschließen, wo ihr Herz nicht sprach, auch stellte sie doch“ – das wurde nach Thormanns Seite hin gesprochen – „geistige Anforderungen, denen nicht jeder genügen konnte. Nun, das ist jetzt alles aufs charmanteste vereinigt, der Graf liebt sie ebenso glühend wie sie ihn –“

„Brrr!“ machte Doktor Seiler leise hinter der Front.

„Er ist ein Diplomat von ausgezeichneten Fähigkeiten,“ fuhr sie eifrig fort, „die Hoffnung einer künftigen Aera, Sie verstehen mich! Eine edle, ritterliche Erscheinung –“

„Um Gotteswillen, Fräulein Elsbeth,“ sagte der Journalist, „spielen Sie schnell einen Walzer, daß man diesen Kerl nicht auch noch als Adonis preisen hören muß!“

Und Elsbeth ließ sich’s nicht zweimal sagen. Lachend eilte sie zum Flügel, und im nächsten Augenblick schon drehten sich ihre Freundinnen mit den Herren Primanern und Sekundanern lustig im Kreise. Moritz, der bisher im Hintergrund gestanden hatte, besah rasch seine Finger, dann, als er sie tintenfrei fand, reichte er sie der hochaufgeschossenen Sigrid, deren schöne blaue Augen und starkes Blondhaar doch einige Hoffnung für ihre künftige Erscheinung gewährten, und sie nahm, in Beherzigung des Grundsatzes vom Spatzen in der Hand, den dreizehnjährigen Tänzer in Gnaden an.

Paula folgte während des fröhlichen Getümmels ihrem Manne in ein kleines Nebenzimmer und sagte, indem sie seine Hand faßte: „Welch ein Glück, daß dies so gekommen ist! Nun brauche ich nicht mehr die stete Sorge zu haben, daß Du meinen Besitz auch noch mit Opfern bezahlen mußt.“

„Er wäre mit dem Schwersten nicht zu theuer erkauft,“ sagte der glückliche Mann und sah ihr tief in die Augen. „Du hast mir mit Dir soviel gegeben, meine Paula, dazu unseren süßen Jungen, Sigrid hängt an Dir wie an einer wirklichen Mutter – wie könnte ich Dir all das je vergelten? Aber für Deine Mama und Vilma ist mir’s lieb, daß alles so kam, denn ihre Wege werden doch in Ewigkeit nicht unsere Wege sein; auch Hedy wird künftig lieber auf jenen wandeln. So können wir in Frieden scheiden. ... Daß Du Deiner Schwester Ausstattung besorgst, versteht sich von selbst, die Mittel dazu sind in Deiner Hand, wende sie an, wie Du es für gut findest!“

Sie hob die glänzenden Augen voll inniger Liebe zu seinem ehrlichen einfachen Gesicht empor. „Du Guter, Edler!“ war alles, was ihre Lippen leise sprachen, aber viel, viel mehr sagten ihm ihre Blicke und der warme Druck ihrer Hand. –

„Nun erklären Sie mir einmal, Beste,“ flüsterte eine Stunde später, als die Unterhaltung in vollem Gange war, eine sehr geputzte Dame, die Frau des Unterstaatssekretärs, die heute zum ersten Mal in Walters Hause war, ihrer Nachbarin, Frau Malchen Hoffmann, zu, „was das eigentlich für eine Art von Geselligkeit ist. Von Souper scheint ja keine Rede, ich sehe nur Thee, Bier und belegte Brötchen; und wenn es sich auch ganz niedlich macht, wie das blonde Haustöchterchen mit der gestickten Schürze überall geschäftig herumgeht und die Gäste versorgt, so muß ich doch gestehen, daß ich meine Meta nicht in dieser Rolle sehen möchte, dazu gehört doch Dienerschaft. Daß man Musik macht, ist ganz hübsch, Frau Walter spielt ja selbst sehr gut, und das Duett, welches vorhin Elsbeth und die andre Kleine sangen, war soweit recht nett, aber das sind doch am Ende alles keine Leistungen, auf die man heute einladen kann. Und es herrscht keine rechte Trennung zwischen [220] den älteren Gästen und dieser ziemlich grünen Jugend. Vorhin hörte ich Walters ältesten Jungen mit Doktor Seiler ein Gespräch über die Aussichten im Kolonialdienst führen, und der gab ihm wirklich Antwort, als wenn er einen Erwachsenen vor sich hätte. Das ist ja doch wahrhaft komisch. – Nein, ich muß sagen, ich bin enttäuscht. Man hat mir von den reizenden Abenden hier im Hause soviel erzählt, aber dies ist ja nur – wie soll ich sagen? – ein erweitertes Familienleben; dafür zieht man sich doch nicht an und geht abends aus. Wer nicht wirkliche Gesellschaften geben kann, der soll es bleiben lassen und nicht mit solchen Halbheiten dergleichen thun. Das ist meine positive Ansicht von der Sache."

Und die Sprecherin hob ihr stattliches Doppelkinn würdevoll aus der Spitzenumrahmung ihres Halsausschnittes hervor. Frau Malchen sah sie betroffen an. Für sie hatten Ansichten etwas unbedingt Imponierendes, auch wenn, wie eben jetzt, ihr eigenes unsicheres Empfinden nach einer andern Richtung steuerte. Sie war immer sehr gern hier, ihr Mann ebenfalls, und Walters gaben ja auch andere Gesellschaften, warme Soupers, und recht gut gekocht. Sie hatten es ja jetzt dazu, vollends seit noch die Erbschaft von Frau Walters Eltern dazu kam. Aber diese Abende, die gaben sie absichtlich so einfach, es war eben ihre Ansicht so.

Und im Eifer dieser anstrengenden prinzipiellen Entwicklung hätte sich Frau Malchen beinahe zu einer ausdrücklichen Billigung letztgenannter Ansicht aufgeschwungen.

Das Gespräch der beiden Damen hatte einen unbemerkten Zuhörer gehabt. Leise durchschritt der alte Professor Mayer, der dem Geburtstag zuliebe auch auf eine Stunde anwesend war, das Zimmer, in dem sie auf dem Sofa plauderten, und hörte den Schluß ihrer Unterhaltung. Er lächelte still vor sich hin, trat dann in den großen Salon zurück und ließ sich von Elsbeth ein Glas Bowle geben. Damit trat er dann einen Schritt vor und begann, mit seinen ruhig-heiteren Augen Walter und Emmy im Kreise ihrer Gäste fixierend:

„Meine Freunde! Wenn man einen glucklich preist, wie es heute unserem Walter mit Fug und Recht geschehen ist, so denkt man dabei zunächst an alles, was ihm ein günstiges Geschick beschert hat: Ehre und Erfolg, Gesundheit und Gedeihen in der Familie. Aber das ist nur die Hälfte eines vollen Menschenglückes und die andre Hälfte ist das Wohlgefühl, welches man sich verschafft in sittlicher Arbeit an sich selbst, in unablässiger Uebung jeder Pflicht von der größten bis zur kleinsten herab. Dieses Glück brauchen wir nicht von außen zu erwarten, wir haben es ganz in unserer eigenen Hand! Daß nun unsere Freunde es verstanden haben, es in ihrer Mitte anzupflanzen und zu pflegen, bis es fest und unerschütterlich gewurzelt ist, dafür möchte ich sie heute glücklich vor vielen preisen. Unsere Zeitgenossen in ihrem hastigen Ringen nach Effekt und Auszeichnung vergessen so leicht, daß die innere Zufriedenheit auch dabei sein muß und daß diese nur aus tiefen, ins Gemüth reichenden Wurzeln erwächst! Wohl der Familie, welche den schlimmen Zeitgeistern zum Trotze die Einfachheit hochhält und im Streben nach edlen Zielen jedes Streberthum nach leerem Scheine entbehren kann! Ihre Kinder werden das ganz sein, was sie nach ihrer Anlage werden können, und sich über das Unerreichbare, das andere unglücklich macht, ruhig bescheiden. Und wenn dann die Freunde zur schönsten Form der Geselligkeit, zur erweiterten Familie“ – er sprach diese Worte mit besonderem Nachdruck – „zusammentreten, so fühlen auch sie sich von dem guten Geiste des Hauses angeweht und froh im Gedanken, daß es in der Oede unserer konventionellen Geselligkeit noch solche Mittelpunkte des unverfälschten Menschenthums giebt. Ihnen gilt mein Spruch! Möge die deutsche Familie ihre höchste Ehre darein setzen, Hüterin unserer besten Güter zu sein, möge sie uns zurückführen aus der Trockenheit einer selbstsüchtigen Verstandesbildung zu dem Reichthum des Gemüthslebens, welcher der ewige Jungbrunnen unseres deutschen Volkes ist. Alles wirklich Große, alles wahrhaft Beglückende entstammt dem Gemüth – wie arm müßten wir werden, wenn wir dauernd den personlichen Vortheil, den nervösen Ehrgeiz, die Uebersättigung mit Vergnügen dem einfachen Glücke der Liebe, des Vertrauens, der harmonischen Lebensführung vorziehen wollten! .. Wir sind weit gekommen seit zwanzig Jahren in praktischen Fähigkeiten, im Gewinn äußerer Güter, wir müssen weiter kommen und die inneren wieder finden. Wir müssen den neuen anspruchsvollen Zeitgeist durch den alten guten Familiengeist unseres deutschen Volkes überwinden, der uns getröstet hat in Zeiten der Trübsal, der uns nicht verloren gehen darf in Glanz und Besitz, denn wahrlich! diese wären damit zu theuer erkauft.

Auf ihn also hebe ich mein Glas, auf den wohlbekannten idealen Schutzgeist. Möge er ein zeitgemäßes neues Gewand anlegen und als verjüngter und bester Zeitgeist uns ins kommende Jahrhundert führen!“