Wismar (Deutsche Städtebilder)

Textdaten
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Autor: Carl Lüttgens
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Titel: Deutsche Städtebilder. Wismar
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 82–85
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Geschichte und Entwicklung von Wismar
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Deutsche Städtebilder.

Wismar.
Von Dr. Karl Lüttgens.

Eine „fürstliche Witwe“ hatte ich die Stadt Wismar nennen hören, welche, einst eine der vornehmsten der Hansa, noch manche Reste des Glanzes und Reichthums in ihr wohlbestelltes Altentheil hinübergerettet hat. Stolz und fürstlich erschien Wismar auch mir, als ich es, aus dem Binnenlande kommend, von einer Höhe herab zum ersten Mal erblickte. Ueber der weiten Mulde, in welche die alte Seestadt traulich eingebettet ist, über der Meeresbucht, zu der sie sich hinabzieht, lag noch der dichte Nebel eines Herbstmorgens ausgebreitet. Aus seinen wolkigen Massen starrten anfangs nur zwei ungeheure stumpfe Säulen in den Himmel hinein, die viereckigen gewaltigen Thürme der Nikolai- und der Marienkirche. Allmählich aber zertheilte sich der Dunst; die beiden rothen Kirchenkolosse tauchten in ihrem ganzen wuchtigen Umfang empor; zwischen ihnen dehnten sich, eng aneinander geschmiegt, die Dächer der Stadt.

Die Nikolai- und die Marienkirche, zusammen mit der thurmlosen, aber in riesigen Verhältnissen erbauten Georgenkirche, verleihen dem Bilde Wismars das Gepräge des Monumentalen. Sie sind die Wahrzeichen einer bedeutenden reichen Vergangenheit, sie geben noch der Gegenwart einen Schimmer von Größe. Bei hellem Sonnenlicht leuchten die großen Ziegelbauten mit ihrem kräftigen Roth weit ins Land hinein, ein dichter grüner Kranz von Gärten und Alleen umzieht sie, und vor ihnen dehnt sich die Bucht in feuchtschimmerndem Blau. Der figurenreiche Schmuck gebrannter Ziegel glitzert dem Ankömmling von den Portalen und Giebeln der Gotteshäuser entgegen, durch die schmalen, schlank emporschießenden Fenster der hohen Mittelschiffe schimmert das Tageslicht in klarem Hellgrün aus der rothen Mauerumgebung.

Doch nicht nur die Kirchen mit ihrem eigenartigen Formenreichthum sind geeignet, das Auge des Fremden zu fesseln: ganz Wismar ist ein großes Museum. Vor allem enthält das Marienviertel ein seltenes Beieinander alter anziehender Bauwerke. [83] Eigenthümlich muthet hier alles den Besucher an, er tritt in eine Scenerie, wie sie etwa für Straße und Kirchplatz in Goethes „Faust“ nicht besser ersonnen werden könnte. Um den altehrwürdigen Dom her reihen sich das Archidiakonathaus mit seinem Steinaltan, das mauerumgebene Pfarrgehöft, die alte, jetzt als Alterthumsmuseum verwendete Schule, hübsche, behaglich dreinschauende gothische Bauten mit bunten Ziegelwänden und mancherlei Zierrath, so wiederhergestellt, daß man das Alte vom Neuen nicht unterscheiden kann.

Am Hafen.
Nach einer Photographie von C. Michaelsen in Wismar.

An den Kirchhof schließt sich der „Fürstenhof“. So heißt der Bereich des früheren Residenzschlosses der Fürsten und späteren Herzöge von Mecklenburg, die als Inhaber der Oberhoheit zeitweilig ihren Aufenthalt in der Hansestadt Wismar nahmen. Im vierzehnten Jahrhundert erstand der erste Bau; Gabriel van Aken schuf dann in den Jahren 1553 bis 1554 den sogenannten „Neuen Hof“, indem er einen Flügel des Schlosses in schönerer Gestalt wieder aufführte. Die Jahrhunderte gingen an diesem Kunstwerk der Ziegelbautechnik nicht spurlos vorüber, und so ließ Großherzog Friedrich Franz II. den „Neuen Hof“ unter Wahrung des alten Charakters gründlich restaurieren. Der Bau ist in florentinischem Stil gehalten, in vornehmer Regelmäßigkeit schmücken erhabene Bildwerke aus gebranntem Thon, die man „gedruckte Steine“ nannte, die Wände und Portale. Biblische Darstellungen, die Porträts mecklenburgischer Fürsten und Scenen aus dem trojanischen Krieg wechseln mit einander ab. Eine auffallende Aehnlichkeit mit den Formen des Fürstenhofs zeigt die neue Bauakademie in Berlin, und in der That soll deren Erbauer – Schinkel – den Plan zu seinem Werke dem Fürstenhof entlehnt haben.

Noch manches andre beachtenswerthe Denkmal vergangener Zeiten ließe sich hier im Marienviertel anführen, wo nur die Menschen in mittelalterlicher Tracht fehlen, um uns ganz in frühere Jahrhunderte zurückzuversetzen. Die übrigen Theile der Stadt enthalten kunstvolle alte Bauten nur vereinzelt, unter moderne Gebäude zerstreut. Neben dem Wasserthor, den Thürmen der Stadtmauer, schönen Giebelhäusern wie dem Wädekinschen Gasthof und dem Kochschen Brauhaus ist vor allem der „Alte Schwede“ als ein vorzügliches Werk des gothischen Stils zu nennen. Der prächtige Bau ist in unserer nüchternen Zeit ein Wirthshaus geworden, und wenn wir über den Markt hinüber wandern, so können wir uns dort bei einer mecklenburgischen „kalten Küche“, bei welcher die berühmten Wismarischen „Krabben“ nicht fehlen dürfen, von unseren mittelalterlichen Träumen erholen.

Portal am Fürstenhof.

Inmitten einer stattlichen Häuserreihe an der breiten „Leiste“, wie man in Wismar mit gut deutschem Ausdruck das „Trottoir“ nennt, springt der schmucke Bau dem Beschauer sofort in die Augen. Er zeichnet sich aus durch die zierlichen [84] Verhältnisse seines Treppengiebels, der durch flache graue Spitzbogenblenden mit einer hübschen Umrahmung glänzender runder Ziegel einen anziehenden Schmuck erhält. Auch das Innere des Hauses birgt Merkwürdigkeiten, so einige moderne Wandgemälde, welche die Streiche Till Eulenspiegels zum Gegenstand haben, und ein Bild der festen Stadt Wismar vom Jahre 1550. Die eigentlichen „alten Schweden“ aber, welche Wismar aufzuweisen hat, hausen nicht hier, sie stehen als Erinnerungszeichen aus der Schwedenzeit draußen im Hafen – Strompfähle, schwarze hochragende Gestelle, welche die Einfahrt in den Hafen bezeichnen helfen, und mit buntbemalten, helmbedeckten martialischen Schwedenköpfen aus Holz versehen sind, die noch wirklich aus der Schwedenzeit stammen sollen.

Das Haus zum „Alten Schweden“ wurde früher auch als die Wohnung des Wollenwebers Klaus Jesup betrachtet, der dort in heimlichen Versammlungen die Auflehnung der Bürgerschaft gegen den Rath heraufbeschworen haben sollte. Indeß geschah dies an einer andern Stelle. Der Aufruhr aber bedeutet einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte Wismars. Mit ihm beginnt, allerdings unter Mitwirkung anderer Umstände, der allmähliche Niedergang der Handelsstadt, die bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts hinein so mächtig aufgeblüht war. Denn mit Lübeck, Rostock, Stralsund, Greifswald und Lüneburg bildete sie den Kern des wendischen Zweiges des großen hansischen Städtebundes.

Schon vor 1200 gab es ostwärts vom jetzigen ein wendisches Wismar, bis um 1230 beim Eindringen der germanischen Kultur Kaufleute aus Westfalen kamen und hier gute Handelsgelegenheit fanden. Sie gründeten das neue Wismar nahe bei der Mündung des fließenden Gewässers, das man jetzt den „Landgraben“ oder auch wohl den „Wallensteingraben“ nennt, weil Wallenstein als Herzog von Mecklenburg das Gewässer zur Verbindung des Schweriner Sees mit der Ostsee benutzen wollte. Wismar blühte nun schnell empor, hauptsächlich infolge seiner wachsenden Handelsbeziehungen nach dem Norden, dann auch, weil die obotritischen Fürsten, welche bis dahin auf der nahen Burg „Mecklenburg“ gehaust hatten, ihren Sitz in die Stadt verlegten und deren Gedeihen durch Verleihung von Gerechtsamen und durch mannigfache Schenkungen reichlich unterstützten. So erhob sich Wismar, wenn es auch niemals reichsunmittelbar wurde, zu fast gleicher Selbständigkeit wie Lübeck.

Der „alte Schwede“.
Nach einer Photographie von C. Michaelsen in Wismar.

Im Ausgang des 14. und zu Anfang des 15. Jahrhunderts erreichte es den Gipfel seiner Macht. Es führte im Verein mit Lübeck siegreiche Kriege gegen die nordischen Reiche, war ein Hauptdurchgangspunkt für den Handelsverkehr des Südens mit dem Norden und fragte nicht mehr viel nach den Fürsten von Mecklenburg. Traten Fehden und Zwistigkeiten mit diesen ein, so wußte sich das starke Gemeinwesen erfolgreich zu behaupten und in den verschiedenen Friedensverträgen immer neue Vorrechte und Besitzungen für sich herauszuschlagen, wenn auch die Oberhoheit der Herzöge nicht ganz abgeschüttelt werden konnte. Bei diesem Stand der Dinge mußte den Fürsten nichts willkommener sein als innere Parteiungen in der widerspenstigen Stadt. Die Quelle dafür bildete der Gegensatz zwischen dem herrschenden Patriziat und den Bürgern. Zwar bestand in Wismar keine Patrizierherrschaft von ähnlicher strenger Abgeschlossenheit wie in der Stadt der „Zirkelbrüder“, in Lübeck, aber der Rath ging auch hier nur aus den vornehmen Geschlechtern hervor und vermied es nicht, zu Gunsten des eigenen Vortheils zu handeln, die Bürger durch Hochmuth zu kränken und dadurch manchen Anstoß zu erregen. Endlich war die Geduld der Bürger zu Ende, der große Kampf der Klassen brach aus, unter Jesups Anführung. Der Rathsherr von Haren und der Bürgermeister Bantzkow wurden auf dem Markte hingerichtet, und noch wird der Stein gezeigt, auf welchem ihr Haupt gefallen sein soll. Klaus Jesup aber triumphierte an der Spitze der Bürger und spielte eine Zeit lang den Bürgermeister. Dann schritten auf Befehl des Kaisers Lübeck und Mecklenburg ein und stellten die alte Ordnung wieder her.

Nach dieser Zeit der Unruhen zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde es friedlicher, allein auch der Verkehr ward stiller. Der Handel nahm andere Wege, der Einfluß der Landesfürsten stieg in demselben Maße, in welchem des Kaisers Gewalt sich verringerte, und so schritt die Stadt seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ihrem Niedergange entgegen. Dieser wurde dann hundertfünfzig Jahre später vollendet, als durch den Dreißigjährigen Krieg die Schwedenherrschaft Platz griff. Wismar war von jetzt an fast nur noch eine schwedische Soldatenstadt, wurde in die schwedischen Kriegsunruhen verwickelt und mußte zusehen, wie die Handelseinkünfte bis auf einen unbedeutenden Rest herabsanken, da namentlich der Kleinhandel durch die Abtrennung vom Lande Mecklenburg äußerst beschränkt wurde. Der Bürger blieb darauf angewiesen, von der schwedischen Besatzung der Festung zu leben.

Mit aller Anstrengung hatte Schweden von 1681 bis 1711 an der Befestigung gearbeitet, nachdem die Stadt 1675 einmal von den Dänen genommen, aber bald wieder zurückgegeben worden war; doch schon 1718 wurden nach einer erfolgreichen Belagerung durch die Dänen, Preußen und Hannoveraner die Festungswerke geschleift. Schweden, das inzwischen seine Stellung als Großmacht verloren hatte, zeigte jetzt noch weniger Interesse für die fremde Stadt, die bis 1803 unter seiner Oberhoheit verblieb. In diesem Jahre verkaufte das arme Schweden die ganze Herrschaft Wismar für 1 250 000 Thaler Hamburger Banco an Mecklenburg-Schwerin, allerdings unter dem Vorbehalt, nach 100 oder höchstens 200 Jahren die Stadt um die gleiche Summe unter Zuschlag von drei Prozent Zinseszins zurückkaufen zu können. Allein dieser Fall dürfte nie eintreten, denn im Jahre 1903 würde der Kaufschilling rund 100, im Jahre rund 2000 Millionen Mark betragen.

Wir haben uns inzwischen erlaubt, Wismar als „deutsche“ Stadt in Anspruch zu nehmen und sein Bild unsern „deutschen Städtebildern“ einzureihen.

[85] Inmitten ihrer wechselnden Geschicke hat sich die Stadt eines getreulich bewahrt, die unabhängige Verwaltung innerhalb ihres Gebietes. Sie hat dies vermocht infolge ihrer reichen Besitzungen, die ihr auch in schlechten Zeiten eine sichere Einnahmequelle waren und die es jetzt mehr als je geworden sind. Neuerdings ist zum Wohl und besseren Gedeihen der Stadt, die heute über 17 000 Einwohner zählt, manches geschehen, ein größerer Zug im geschäftlichen Leben ist zu bemerken. Der Kleinhandel in der Landumgebung hat sich wieder umfangreich gestaltet, und wenn dem Großhandel auch noch bessere Verkehrswege ins Inland fehlen, so hat sich doch der Güterhandel in ansehnlichem Maße vermehrt. Korn, Vieh, Holz, Kohlen und Ziegelsteine aus den zahlreichen Ziegeleien der Umgebung bilden hauptsächlich die Gegenstände des Warenumsatzes; namentlich Kohlen, denn im gleichen Sinn, wie man sonst von „Eulen nach Athen tragen“ redet, sagt man in Mecklenburg „Kohlen nach Wismar fahren“.