Der Tod der Kaiserin Agrippina

Textdaten
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Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Der Tod der Kaiserin Agrippina
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 12, 14–16
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Tod der Kaiserin Agrippina.

Von Ernst Eckstein.

Die blutige Nachtgestalt, die uns von den Geschichtschreibern Roms unter dem Namen des Nero gezeichnet wird, empfängt ihren grausenhaftesten Schatten durch das Verbrechen des Muttermords. Diese Unthat allein – vorausgesetzt, daß sie wirklich mit jener vollkommenen Klarheit des Wollens verübt worden wäre, die den alten Geschichtschreibern für unzweifelhaft gilt, – würde ausreichen, um den Sohn der Ermordeten unter sämmtlichen Vertretern cäsarischer Herzlosigkeit und Verworfenheit auf die niedrigste Stufe zu stellen – tiefer noch als den abscheulichen Wüstling Tiberius, tiefer als den größenwahn-strotzenden Buben Caligula, tiefer sogar als den erbärmlichen, grausamen, jeder Würde entrathenden Domitian. „Die andern Verbrechen,“ sagt ein griechischer Philosoph, „gehen lediglich wider das Recht und die Gebote der Gottheit: der Muttermord aber geht noch außerdem wider alle Natur.“

Hätten die alten Geschichtschreiber mit ihrer schwarz in schwarz gehaltenen Schilderung also die Wahrheit getroffen, so wäre es völlig undenkbar, für die Persönlichkeit Neros auch nur die leiseste Regung einer halb widerstrebenden Sympathie zu erwecken, wie man sie doch beispielsweise einem Napoleon, trotz der empörenden Rechtsverletzungen, die sein Konto belasten, trotz Palms und des Herzogs von Enghien, nicht vorenthält.

Bei genauerer Prüfung jedoch stellt sich heraus, daß die Ermordung der Agrippina, soweit der Wille des Kaisers dabei in Betracht kommt, halb schon ein Akt der Verzweiflung war.

Natürlich spricht das den Muttermörder nicht frei: aber es wirkt doch immerhin wesentlich auf die Abschätzung seiner Schuld, auf die Beurtheilung des größeren oder geringeren Grades sittlicher Niedertracht und Verkommenheit, der ihm eigen war.

Wenn uns die drei Geschichtschreiber, die vornehmlich als Quellen für Neros Regierungszeit gelten – Sueton, Dio Cassius und Tacitus – beinahe gar nicht auf diese „mildernden Umstände“ hinweisen, so erklärt sich das aus der einfachen Thatsache, daß ein möglichst düster gefärbtes Bild Neros ihnen aus Gründen der Politik und der republikanischen Propaganda äußerst willkommen war. Ohne bewußt zu fälschen, waren sie doch geneigt, den Gerüchten ihr Ohr zu leihen, welche den „schlechten“ Imperatoren ungünstig waren. Fast durch die ganze Litteratur der ersten zwei Jahrhunderte geht ein republikanischer oder besser gesagt: senatorischer Zug. Der Hochadel, der bis zur Begründung der Monarchie mit schier unumschränkter Machtvollkommenheit das Schicksal des Reiches gelenkt hatte, konnte und wollte es nicht verschmerzen, daß da nun im Palatium ein Fürst saß, der unter scheinbarer Aufrechterhaltung der republikanischen Einrichtungen die schroffste Alleinherrschaft ausübte. Nero vollends, der mit dem „dritten Stand“ unverstellt liebäugelte; der die Verachtung der römischen Großen soweit trieb, daß er einst bei dem üblichen Frühempfang in einer geblümten Tunika, d. h. im Schlafrock, erschien, anstatt sich die feierliche Toga über die Schulter zu werfen; Nero, der einem Mitglied der hohen Körperschaft das Wort ins Gesicht warf: „Ich hasse Dich, weil Du Senator bist!“ –: Nero war für den Hochadel ganz natürlich der Inbegriff alles Verabscheuenswerthen. In diesem Geiste aber urtheilen, schreiben und schildern fast sämmtliche Schriftsteller der früheren Kaiserzeit. Nur solche Imperatoren werden als „gute“ bezeichnet, die nachgiebig und rücksichtsvoll gegen den Adel sind – ganz jenem altpreußischen Junkerverslein entsprechend, das mit den Worten schließt:

„Und der König absolut,
Wenn er unsern Willen thut.“

[14] Die meisten Frevelthaten, die den „schlechten“ römischen Kaisern zur Last fallen, sind denn auch gegen Mitglieder des ersten Standes gerichtet. Gütereinziehungen, willkürliche Hinrichtungen, Verbannungen und Beschimpfungen treffen fast nur Senatoren. Da nun der Hochadel seinen Sitz ausschließlich in Rom hatte, so tritt das jedenfalls merkwürdige und seltsame Ergebniß zu Tage, daß die meisten der „schlechten“ Kaiser – vor allem Nero – in der Provinz für ausgezeichnete Herrscher galten.

Die rückhaltlose, jedem Versuch einer Milderung abholde Verurtheilung Neros in Sachen der Agrippina wurzelt überdies in dem echt menschlichen Gefühle des Mitleids. Agrippina war die verkörperte Ruchlosigkeit; mit kaltem Blute hat sie alles, was ihrem Ehrgeiz im Wege stand, meuchlings niedergemacht. Aber die Frevel, die sie beging, standen sozusagen im Dienst ihrer Mutterliebe. Ihr Sohn war ihr Abgott; ihm auf den Thron zu verhelfen, ihm die Herrschaft gegen alle wirklichen und vermeintlichen Nebenbuhler zu sichern, das betrachtete sie von Anbeginn als die einzige Aufgabe ihres Lebens. Eigene Herrschgelüste mögen dabei noch so ausgiebig mitgespielt haben: man ist dennoch geneigt, ihre Mißgriffe, ihre Ausschreitungen, ja, ihre Verbrechen minder schroff zu verdammen; wie denn die Mutter in Tennysons „Lady Clare“ keinen besseren Weg zur Verzeihung der Tochter kennt als die Worte:

„Mein Kind, ich sündigte ja für Dich!“

Daß nun die Kaiserin Agrippina durch die Veranstaltungen dieses nämlichen Sohnes, für den sie mit solcher Hartnäckigkeit gekämpft und gewüthet hat, hinterrücks aus der Welt geschafft wird; ja, daß sie den Meuchelmord lange Stunden hindurch gleichsam fühlt und erlebt, weil der erste Anprall mißlingt; daß sie die maßlose Bitterniß auskosten muß, für die lange Kette von Tücken und Missethaten, mit denen sie, ihrem Sohn zu Gefallen, ihr Gewissen belastet hat, nicht einmal so viel Liebe zu ernten wie die Hündin, die den verwaisten Löwen auffängt: das bedeutet ein Schicksal von wirklich erschütternder Tragik – und erzeugt in uns eine Stimmung, die nicht dazu angethan ist, nach abschwächenden Umständen zu suchen.

Etwas anders liegen die Dinge, wenn wir an der Hand nicht zu bezweifelnder geschichtlicher Daten den seelischen Zustand prüfen, in welchem sich Nero befand, als er den Einflüsterungen seiner Umgebung, die ihn seit lange zu dem fürchterlichen Entschluß drängte, schließlich Gehör gab.

Die Sachlage war die folgende.

Die kaiserlichen Rathgeber – der Prätorianergeneral Burrus und der Staatsminister Lucius Annäus Seneca – lagen schon seit geraumer Zeit mit der Kaiserin-Mutter im Kampfe um die Regentschaft – das heißt um Sein oder Nichtsein, um Leben und Tod. Vielleicht in Vertheidigung persönlicher Interessen, jedenfalls aber auch zum Wohle des Reiches, das sie vortrefflich verwalteten, hatten sie den leicht erregbaren Fürsten planmäßig gegen die Mutter verhetzt, deren frühere Einmischung in die Regierungsgeschäfte dem altrömischen Mannesbewußtsein schroff widersprach, deren späteres Verhalten mancherlei höchst bedenkliche Züge aufwies. Die schöne Poppäa Sabina, deren Einfluß auf Nero damals schon ungeheuer war, diese Todfeindin Agrippinas, schloß sich – natürlich nur aus schnödester Selbstsucht – diesen Bestrebungen an und lieh der mehr theoretischen Thätigkeit der Minister das Praktische, Unmittelbare. Halbvergessene Gerüchte bauschte sie auf; Aeußerungen, die Agrippina im Zorne gethan, deutete sie als unwillkürliche Offenbarungen einer verderblichen Willensmeinung; sie hetzte, sie log – und hatte so bei dem rasend verliebten Cäsar ein leichtes Spiel, zumal ihr die Brusttöne der Ueberzeugung ebenso reich zu Gebote standen wie die Thränen einer erheuchelten Angst und Entrüstung. Nero war thatsächlich des festen Glaubens, Agrippina trachte ihm nach dem Leben – und den Ministern, deren Köpfe nicht sonderlich fest saßen, wenn Agrippina den verloren gegangenen Einfluß wieder gewann, kam dieser Glaube äußerst gelegen. Vielleicht auch dünkte ihnen die Möglichkeit eines feindseligen Vorgehens der Agrippina gegen den Kaiser gar nicht so unwahrscheinlich. Ein Mordanschlag auf den widerspenstigen Sohn war – so konnte es scheinen – nur die Krönung der bisherigen agrippinischen Politik, die logische Blüthe ihrer von Anfang an bethätigten Staatsweisheit.

Früher schon waren Versuche gemacht worden, den Kaiser zum Einschreiten gegen die Revolutionsbestrebungen Agrippinas aufzustacheln. Junia Silana, gleichfalls eine persönliche Gegnerin Agrippinas, hatte die zwischen Mutter und Sohn bestehende Spannung benutzt, um die erstere des Hochverraths zu bezichtigen: Agrippina sollte den Plan hegen, einen Verwandten des Augusteischen Hauses, Rubellius Plautus mit Namen, auf den Thron zu erheben. Mit klügster Berechnung hatten die Feinde der Kaiserin-Mutter die Stille der Nacht, als Nero im Kreise seiner Vertrauten ahnungslos die Freuden des Bechers genoß, dazu ausersehen, ihm die große Gefahr, in der sein Haupt und sein Thron schwebe, zur Kenntniß zu bringen. Man hoffte, durch diese unvermittelte Plötzlichkeit sofort einen Haftbefehl zu erwirken. Damals war die Sache für Agrippina noch vortheilhaft ausgegangen. Sie hatte sich mit sieghafter Schlagfertigkeit gegen die Verleumdungen Junias vertheidigt.

Jetzt aber, unter dem Einfluß der ränkevollen Poppäa, bekam Altes und Neues ein verändertes Ansehen. Poppäa war unermüdlich im Beibringen neuer „Symptome“; sie bot alle Künste ihres weiblichen Komödiantenthums auf und erzeugte so in der Seele des Kaisers, was ihm fast den Verstand raubte: die Gewißheit eines bevorstehenden Staatsstreiches und hiermit zugleich die eines Mordanschlags auf ihn selbst.

Wenn sich Nero bei diesem Anlaß die Frage vorlegte, ob Agrippina eines so fürchterlichen Verbrechens fähig sei, so durfte er sich diese Frage bejahen. Bis jetzt hatte die Kaiserin-Mutter in der Verfolgung ihrer politischen Pläne keine, aber auch gar keine Schranken gekannt. Weshalb sollte sich ihre Vernichtungswuth gegebenen Falls nicht auch wider den eigenen Sohn kehren? Daß Agrippinas Erbitterung über die Selbständigkeit, die Nero bekundete, stündlich im Wachsen war, daß ihr verwundeter Ehrgeiz sich in den allergehässigsten Ausfällen erging, das war für niemand Geheimniß. Die Kluft zwischen Mutter und Sohn schien fürderhin unüberbrückbar; Agrippina trug zweifelsohne die Schuld daran und gerade dies Schuldgefühl, dies Bewußtsein, unklug und ihrem eigenen Vortheil zuwider gehandelt zu haben, mochte sie rasend machen. Nicht zufrieden mit der Ausübung der ihr zustehenden Pflichten und Rechte, hatte die Kaiserin durch ihre maßlosen Uebergriffe die Opposition der Minister und der Volksmeinung geradezu muthwillig herausgefordert. Nicht viel hätte gefehlt, daß sie gemeinschaftlich mit ihrem damals noch „gehorsamen“ Sohne sich in die Versammlungen des Senates begeben und dort „im Augesichte des Erdkreises“ die eigentliche Herrscherin des Reiches gespielt hätte. Auf die Dauer war diese Weiberherrschaft nicht haltbar. Auch Nero hatte die Ueberzeugung gewinnen müssen, daß die „beste der Mütter“, wie er sie an dem Tag seiner Thronbesteigung genannt hatte, das Ansehen des Staats gefährde.

Der erste Schritt, den er dann – wirklich nothgedrungen – that, um Agrippina in die ihr gebührende Stellung zurückzuweisen, hatte sofort ihren Zorn entfesselt, trotz des Zartgefühls, mit welchem der kleine Wink, fast nur der Kaiserin-Mutter selber verständlich, zur Ausführung gebracht worden war. Es handelte sich um den Empfang einer fremdländischen Gesandtschaft. Nero saß bereits auf dem erhöhten Prunksessel, als Agrippina erschien, um wie eine Gleichberechtigte neben ihm Platz zu nehmen. Da befolgte der Fürst den Rath seines Ministers Seneca. Eiligst erhob er sich, ging ihr entgegen, küßte sie und „vereitelte so – denn die weitere Verhandlnng wurde zur ebenen Erde geführt – durch scheinbare Pietät ihre Absicht, die so sehr gegen alles Herkommen war.“

Hiermit waren die guten Beziehungen zwischen Mutter und Sohn ein für allemal aus den Fugen gebrochen – und Feindseligkeit folgte auf Feindseligkeit.

Als Nero endlich – nach mancherlei mehr oder minder bedeutsamen Zwischenfällen die vornehmste und einflußreichste Kreatur der Kaiserin-Mutter, den Verwalter des Staatsschatzes Pallas, auf Senecas Rathschlag entließ, tobte die beleidigte Agrippina wie eine Wahnwitzige. Unglaublicherweise verstieg sie sich zu der Drohung, sie werde die Prätorianer – die Gardesoldaten – veranlassen, den längst zur Seite gedrängten Britannicus, den rechtmäßigen Erben der Kaiserwürde, durch eine Revolution auf den Thron zu erheben. „Fort mit dem elenden Thronräuber, der nur eines gelernt hat: seine Mutter vor aller Welt zu beschimpfen!“

[15] Diese Sprache war deutlich. Was Wunder, daß sie, von den Lippen Poppäas hundertfach wiederholt und durch neue „Beweise“ wirkungsvoll unterstützt, dem Kaiser endlich die Ueberzeugung beibrachte, er sei in der That, so lange sich Agrippina am Leben befinde, des eigenen Lebens nicht sicher – dieses wonnigen, freudetrunkenen Lebens, das er mit einer so unersättlichen Gier umarmte, von dem zu scheiden ihm später sogar in den Tagen des Unheils über die Maßen schwer ward! Neros Umgebung, die sich von der zürnenden Kaiserin-Mutter allerdings jeder Gewaltthat zu versehen hatte, während die Anschläge auf das Leben des Kaisers schon um deswillen wenig wahrscheinlich sind, weil Agrippina durch den Tod des Imperators ihre eigene Stellung schwerlich verbessert hätte – die Umgebung also hat es gewiß an hochtrabenden Redensarten zur Beschönigung dessen, was sie erstrebte, nicht fehlen lassen. Die Phrasen von dem Wohle des Reiches, von der Pflicht und dem Rechte der Notwehr etc. lagen ja auf der Hand. Kurz, Nero faßte – es war im Jahre 59 n. Chr. Geb. – nach langem, zaghaftem Widerstreben den fürchterlichen Entschluß, „zu töten, um nicht getötet zu werden“.

Die Erinnerung an die gefühlsrohe Kaltblütigkeit, mit der einst die Kaiserin ihrerseits Opfer um Opfer geschlachtet, mag wohl diesem Entschlusse fördernd zu Hilfe gekommen sein. Wie tückisch hatte sie ihren eigenen Gemahl, den Kaiser Claudius, Neros Stiefvater, aus dem Wege geräumt! Mit der Miene zärtlicher Fürsorge schob sie ihm aus einer Schüssel mit Pilzen den schönsten zu – und dieser schönste war durch die Giftmischerin Locusta mit tödlichem Safte getränkt! Fast noch scheußlicher hatte sich Agrippina bei der Ermordung der Lollia Paullina geberdet, die eine Mitbewerberin um die Hand des vergifteten Imperators gewesen war. Sie ließ sich den Kopf der Getöteten in den Palast bringen, um sich persönlich von der richtig vollstreckten That zu überzeugen. Wenn sich der Kaiser diese und andere Züge einer menschenunwürdigen Niedertracht vorstellte – und mit der Ausmalung solcher Geschichten wird die schlaue Poppäa ebenso wenig gekargt haben wie der Mephisto des damaligen Palatinus, der feile, charakterlose Sportsmann und Vergnügungskommissar Tigellinus, – dann mochte er auch das Schlimmste für möglich halten: die Verwirklichung jener angedrohten blutigen Revolution.

Der geistige Urheber des Ueberlistungsplanes war der Freigelassene Anicetus, der Oberbefehlshaber der am Cap Misenum ankernden Flotte.

Dieser erbärmliche, käufliche, zu jeder Unthat erzbereite Halunke, der auch später in dem Skandalprozeß gegen die unglückliche Octavia eine so traurige Rolle spielte, sann sich – jedenfalls in Gemeinschaft mit Poppäa Sabina – ein geradezu teuflisches Bubenstück aus. Man bediente sich nämlich der einzigen menschlich-rührenden Seite im Charakter der Agrippina, ihrer trotz aller Verbitterung fortglimmenden Mutterliebe, als einer Waffe, um sie gerade in dem Augenblick zu zermalmen, wo ihr Herz, von dem Groll über die „Anmaßung des pietätlosen Knaben“ befreit, an die völlige Wiederherstellung des früheren zärtlichen Verhältnisses glaubte. In dem ganzen Verfahren liegt sonach etwas von jener hassenswerthen Gemeinheit, die wir mit dem Begriffe des Judaskusses verbinden.

Nero befand sich damals in dem altrömischen Welt- und Modebad am tyrrhenischen Meere, zu Bajä, wo er ein üppiges Landhaus besaß, während die Kaiserin Agrippina jenseit des Golfes in Bauli verweilte. Der junge Kaiser, dem die ränkevolle Poppäa den Plan des Flottenbefehlshabers Anicetus nach und nach beigebracht hatte, schrieb nun von Bajä aus einen heuchlerisch versöhnenden Brief an die Fürstin, sprach darin sein Bedauern über die stets wachsende Kluft zwischen Mutter und Sohn aus, erklärte die Handlungsweise der Agrippina und seine eigene für den Ausfluß übererregbarer Temperamente und bot ihr die Hand zum vollkommenen Ausgleich. Damit auch die Welt erfahre, daß keinerlei Groll mehr zwischen den beiden obwalte, lud er die Mutter ein, ihm zu Bajä einen freundschaftlichen Besuch abzustatten.

Agrippina – und das spricht gar deutlich für die Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu Nero – ging sofort in die Falle. Sie, die mißtrauische Verbrecherin, die allenthalben Verrath witterte, die keine Speise genoß, ohne sie durch den „Vorprüfer“ kosten zu lassen; die stets Gegengift bei sich trug: sie hielt es für ausgeschlossen, daß ein Sohn, der sich mit solchen herzentquellenden Tönen an seine Mutter wendete, Arges im Schild führen könne. In ihrer Freude erwog sie nicht, wie meisterhaft ein falsches, ehrgeiziges Weib jedes Gefühl zu erheucheln versteht, wenn sie dadurch ihre Zwecke fördert; sie ahnte nicht, daß Nero diesen „kindlichen“ Brief unter dem Einfluß ihrer Todfeindin Poppäa Sabina geschrieben hatte.

Alsbald gab sie die Antwort: „Ich komme“ – und dem Versprechen folgte die That. Mit einem nach damaligen Begriffen sehr kleinen Gefolge erschien Agrippina in dem bajanischen Landhaus.

Sie wurde von Nero mit großer Herzlichkeit, ja mit Rührung empfangen, köstlich bewirthet und dann – die Sonne war längst in das Meer gesunken – nach einem verschwenderisch ausgestatteten Prunkschiff geleitet, das die Ueberglückliche durch die sternhelle Frühlingsnacht wieder heimbringen sollte.

Dieses Prunkschiff war eine von Anicetus erbaute Höllenmaschine. Der Mann hatte, wie Dio Cassius erzählt, einmal im Theater mit angesehen, wie ein Schiff von selbst auseinander ging, einige wilde Thiere entlud und dann wieder in seine Fugen zurückkehrte. Sofort war ihm der Plan gereift, „im Dienste der Staatsklugheit“ ein ähnliches Schiff zimmern zu lassen und es den Herren Gewalthabern zur Verfügung zu stellen.

Ehe Agrippina das Schiff bestieg, umarmte Nero die Mutter noch mehrmals mit stürmischer Heftigkeit. „Er drückte sich fester und enger an ihre Brust,“ wie der Geschichtschreiber Tacitus sagt. Man hat in diesem Gebahren des Kaisers das Uebermaß herzloser Heuchelei, den Gipfelpunkt einer widerlichen Schauspielerei erblicken wollen. Ich glaube, mit Unrecht. Selbst Tacitus giebt die Möglichkeit zu, daß „der letzte Anblick der dem Tode geweihten Mutter“ in dem Gemüth des entarteten Sohnes wirkliche Kämpfe hervorrief, ein letztes banges Gefühl: „Laß sie nicht fort!“ Psychologisch ist das ebenso denkbar wie die Küsse Othellos, eh’ er die schlafende Desdemona erwürgt.

Und die Fahrt ging in den schweigsamen Golf hinaus. Die Nacht war entzückend. Kein Hauch in der Luft, kein Kräuseln im Meeresspiegel. Das ferne entschwindende Cap Misenum, die villenbesäeten Hügel – alles schien wie in bläulichen Duft getaucht.

Agrippina saß mit ihrer Vertrauten Acerronia unter dem Baldachin und besprach die Ereignisse dieses glücklichen Tages. Alles wandte sich ja zum guten! Ihr Sohn hatte aufs neue die Grenzen gefunden, wo ihr mütterliches Recht begann. Er hatte gelobt, diese Grenzen zu achten, ihr fest zu vertrauen, ihrem Rath zu gehorchen, solange sie athmete.

„Wie bist Du beneidenswerth!“ flüsterte Acerronia.

Da plötzlich erscholl ein furchtbares Krachen, ein Prasseln, ein wildes mark- und beindurchdringendes Angstgeschrei. Das Fahrzeug des Anicetus hatte sich wie von selbst in drei Theile zerlegt, von denen der mittlere, auf welchem der Baldachin der Kaiserin-Mutter stand, bleischwer hinabsank. Ehe Agrippina recht zur Besinnung kam, hörte sie rechts und links das dunkle Gewässer gurgeln. Die salzige Fluth schloß sich schäumend über ihrem Haupte.

Mit ein paar kräftigen Armbewegungen rang sie sich wieder empor. Sie hörte die Hilferufe der jungen Sklavinnen, das Jammergeschrei der verzweifelnden Acerronia. „Rettet mich!“ schrie diese, „ich bin die Mutter des Kaisers.“

Ein Hagel von Ruderschlägen war die Antwort auf diese Nothlüge. Acerronia versank unter dem Hohngelächter der Schiffsknechte, die sämmtlich verkappte Seesoldaten des Anicetus waren.

Agrippina begriff natürlich sofort den ganzen Zusammenhang, und die grausenhafte Enttäuschung, der wüthende Schmerz über die Unthat des Sohnes, dem sie so blindlings vertraut hatte, raubten ihr fast den Verstand. Aber der Lebensdrang, der glühende Wunsch, die Gegner nicht triumphieren zu lassen, verlieh ihr übermenschliche Kräfte. Sie hielt sich lautlos. Vielleicht gedeckt und getragen durch irgend ein Bruchstück des zerbrochenen Baldachins, trieb sie dem offenen Meere zu, voll eiserner Willenskraft gegen die Müdigkeit ankämpfend, ausspähend, hoffend und harrend, bis endlich ein Fischerboot die halb Erstarrte aufnahm und nach Bauli brachte.

Mit keiner Silbe verrieht sie, was in ihr vorging. Sie gab sich den Anschein, als halte sie die Katastrophe nur für ein Mißgeschick.

Bei der nun folgenden kurzen Darstellung des weiteren Verlaufs nimmt der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes im wesentlichen die Schilderungen seines Romans „Nero“ zum Leitfaden. Er kann dies getrost, da der Roman sich gerade in diesen [16] Kapiteln Schritt für Schritt an den Gang der Geschichte anschließt; innere Gründe für eine Abweichung von dem kritisch geprüften Kerne der Ueberlieferung lagen nicht vor.

In ihrem Landhause eingetroffen, schickte Agrippina unverzüglich den Freigelassenen Agrinus nach Bajä und theilte dem Kaiser mit, die Huld der Götter habe sie aus schwerer Gefahr errettet. Sie bitte ihren geliebten Claudius Nero, seinen Schreck zu bezwingen und sie vorläufig nicht zu besuchen; sie bedürfe der Ruhe.

Nero wußte bereits durch seine Spione, daß Agrippina unversehrt in ihre Villa heimgekehrt war. Ohnehin durch die jüngsten Erlebnisse bis zum Wahnwitz erregt, wurde er jetzt von der fiebrischen Angst ergriffen, Agrippina werde nun keine Grenze für ihre Rachsucht mehr kennen. Seneca, dessen Mitschuld an dem Verbrechen nicht klar ist, mag gleichfalls gefühlt haben, daß es hier kein Zurück gab. Er spielte um seinen Kopf und mußte also das Spiel um jeden Preis zu gewinnen suchen.

Vom Kaiser um Rath befragt, legte der Staatsminister dem Gardegeneral Burrus die Frage vor, ob von den Kriegern der Leibwache wohl jemand geneigt sein würde, Agrippina niederzustoßen.

Burrus verneinte. Das Andenken des Vaters der Agrippina, des edlen Germanicus, sei bei sämmtlichen Gardesoldaten noch viel zu lebendig, als daß man ihnen die meuchlerische Beseitigung der Tochter zumuthen dürfe. „Aber“ – so fuhr er fort – „weshalb vollendet denn nicht Anicetus das Werk, das er angefangen?“

Diese Berathungen fielen noch in die Zeit vor dem Eintreffen jenes Boten der Agrippina. Wie der Bote nun kam, ward durch einige schlaue Kunstgriffe der Schein erweckt, als habe der Mensch bei Ueberreichung des Briefes den Kaiser töten wollen. Durch dieses Manöver sollte der Mord, den Anicetus nun selbst in die Hand nahm, beim Volke das Gepräge eines Selbstmords gewinnen, begangen aus Scham und Verzweiflung über den rechtzeitig noch entdeckten Mordanschlag auf das Leben des Sohnes.

Anicetus, der sich sofort gegen Barzahlung einiger weiteren Millionen bereit erklärt hatte, den Henker zu spielen, raffte die verwegensten aus der Schar seiner Leute zusammen und eilte nach Bauli. Erließ das Landhaus umzingeln. Die wenigen Mannschaften, die am Thore Wache hielten, waren bald niedergemetzelt.

Nun drang der Mordbube in das Schlafgemach, wo Agrippina mit einer einzigen Sklavin halb in der Dämmerung saß und sich den trübsten Ahnungen hingab, weil noch keine Nachricht von ihrem Sohne gekommen, und nicht einmal der Freigelassene Agrinus, den sie als Boten gesandt, heimgekehrt war.

„Auch Du verlässest mich,“ sagte sie seufzend, als sich das Mädchen beim Nahen der Schritte erhob, um zu sehen, ob nicht endlich die längst erwünschte Kunde von Bajä eintreffe.

In diesem Augenblick gewahrt die Fürstin das Halunkengesicht des Anicetus im Thürrahmen. Sofort wußte sie, daß alles verloren war.

Und nun zeigte sich, daß dieses fürstliche Weib, trotz aller Verbrechen, die ihr zur Last fielen, mehr von jenem halbvergessenen Heroismus der alten Republikaner besaß als die meisten ihrer männlichen Zeitgenossen.

Sie erhob sich voll ruhiger Würde und verlor selbst dann nicht die Fassung, als ihr einer von den Begleitern des Anicetus, der Schiffskapitän Herculejus, mit dem Stock über den Kopf schlug – ein bezeichnender Zug für dies rohe Gesindel!

Mit königlicher Gebärde sagte sie stolz und verächtlich:

„Triff dies Herz, Anicetus – unter dem Herzen hier trug ich den Muttermörder.“

Von drei Schwertern durchbohrt, sank sie neben die Bettstatt.

Daß Nero bei diesem schauderhaften Verbrechen weniger schob als geschoben wurde, dafür spricht vor allem auch sein Verhalten bei Empfange der Todesnachricht. Wäre der junge Fürst wirklich mit jeder Faser das blutgierige, gefühllose Scheusal gewesen, dessen Ausmalung die Geschichtschreiber anstreben, so hätte er – wie einst Agrippina bei dem Tode des Claudius – frohlocken müssen. Statt dessen ergreift ihn die helle Verzweiflung. Laut giebt er seiner verzehrenden Reue Ausdruck. Er flucht sich selber. Er regt sich so fürchterlich auf, daß er Nächte hindurch keinen Schlaf findet und von Wahnvorstellungen der bedenklichsten Art heimgesucht wird. Diese Wahnvorstellungen, in Ton- und Geräuschempfindungen bestehend, werden so stark, daß er die Ufer des Golfes, wo seine Mutter verblutete, schleunigst verlassen muß.

Das alles erzählt uns der dem Kaiser höchst feindlich gesinnte Dio Cassius, ohne zu ahnen, daß er uns hier einen Menschen gezeichnet, dessen öde Erbärmlichkeit zwar unseren Abscheu erregt, dem aber trotzdem noch etwa inne wohnt, was wie ein Rest von Gefühl und Gewissen aussieht.

Senecas erste Sorge war denn auch die, den Verzeifelten zu beruhigen. Das Staatswohl, die Nothwendigkeit einer Wahl zwischen Handeln und Leiden – das war der Kern der unablässigen Zusprüche, die der kalt rechnende Philosoph unter vier Augen ihm spendete, während man dem Senat und dem Publikum gegenüber den Mythus von dem Selbstmord der Agrippina aufrecht erhielt. Abordnungen der Offiziere mußten auf Senecas Veranstaltung hin den Kaiser beglückwünschen, daß er den furchtbaren Nachstellungen Agrippinas entronnen sei Die Priester des ganzen Reichs erhielten die Weisung, den Göttern für die Errettung des Imperators Dankopfer zu entzünden. Der Senat – der heimliche Gegner des Kaisers – überbot sich in Ausdrücken sklavischer Huldigung und in lächerlichen Beschlüssen zur Verherrlichung des Gewaltigen, über dessen gesegnetem Haupte Jupiter sichtbarlich seine beschirmende Hand gehalten. In der ganzen Versammlung fand sich nur ein einziger Mann, der Stoiker Thrasea, der den Muth hatte, den Sitzungssaal zu verlassen, und so still schweigend gegen diese Unwürdigkeit Verwahrung zu erheben.

Wen überrascht es, wenn so der Kaiser nach und nach an sich selbst irre ward, seine Reue unlogisch fand und sich schließlich jenem Unfehlbarkeitswahn überließ, der da spricht: „Was ich thue, ist gut – wei ich es thue!“ In den Armen Poppäas, in dem Strudel der unerhörtesten Lustbarkeiten, der nun toller als je im Palatium brandete, vergaß er nur allzubald die dampfende Blutlache an der Bettstatt der baulischen Villa und war von Tag zu Tag reifer für das größte Verbrechen, das ihm zur Last fällt: für die physische und moralische Tötung seiner Gattin Octavia.