Der Tondichter der „Folkunger“

Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Hartmann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Tondichter der „Folkunger“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 737–738
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[737]
Der Tondichter der „Folkunger“.

Edmund Kretschmer.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Gar oft im Leben wie in der Kunst kommt das Talent schneller und widerstandsloser zur Geltung, als das Genie. Es liegt das in der Natur der Sache. Das Genie wandelt völlig neue Bahnen, bricht mit dem Altgewohnten und Liebgewordenen mehr oder minder rücksichtslos, während das Talent sehr oft einen weisen Compromiß eingeht, das Bestandene schont und weit besser mit den gegebenen Verhältnissen rechnet. Um die Namen Gluck, Mozart und Wagner dreht sich die ganze Entwickelung der modernen Oper seit hundert Jahren. Des letzteren kühnen Reformators, Richard Wagner’s Entwickelung hat die musikalische Gegenwart miterlebt, erlebt die bittersten Kämpfe, welche sich für und wider den Schöpfer des musikalischen Drama erhoben. Wie man auch über Wagner urtheilen mag, ob seine Musik die Naivetät des Empfindens zerstört oder ob sie den Wortausdruck der Operntextworte erst zur höchsten Deutlichkeit erhoben habe, ob seine Werke eine Philosophie in Tönen oder musikmelodisch ein absoluter Fortschritt seien, das kann hier unentschieden bleiben. Sicher ist der Wagner’sche musikdramatische Stil der ganz folgerechte Ausfluß seiner ganzen künstlerischen Individualität und um der Stärke dieser Individualität willen vollberechtigt.

Anders steht es um die Nachahmung Wagner’s. Noch keiner von Denen, welche ihn nachzuahmen strebten, hat bis jetzt in dieser Richtung einen Erfolg gehabt, sondern von Peter Cornelius bis Paul Geisler, welch letzterer die unendliche Melodie ohne Tonart und Tactstriche schreibt, haben alle Adepten erst da Wirkung erzielt, wo sie zu den älteren Formen zurückgriffen, also gleichsam den neuen Inhalt in die alte Opernarchitektur einzufüllen bestrebt waren.

Keiner aber von Jenen, die, durchdrungen von den bahnbrechenden Ideen Wagner’s, trotzdem die alte Cäsur wieder aufnahmen und ihre Melodien nicht eintönig in’s Unendliche ausspannen, sondern in Chören, Ensembles und Arien fügten, hat selbstkritisch so richtig gehandelt, wie Edmund Kretschmer, der in den letzten Jahren schnell berühmt gewordene Verfasser der „Folkunger“. Die Declamation dieser Oper, die enge Anschmiegung der Musikempfindung an den Textwortlaut, sowie manche harmonische Kühnheit athmen Wagner’sche Grundsätze. Aber mit geschickter, kluger Hand hält Kretschmer die altbewährte geschlossene Form aufrecht, und da er Meister in deren Handhabung ist, so kann man sich über den fast beispiellosen Erfolg seiner „Folkunger“ kaum wundern. Ohne Ueberschwang oder Exaltation reicht Kretschmer’s Talent just hin, um diese Formen mit einem praktisch schönen Inhalt zu versehen, und der künstlerische Ernst seines Strebens erweckt die Sympathien auch bei Jenen, die anfänglich meinten, es gehöre mehr Leidenschaft dazu, nach Richard Wagner die große Oper neu zu beleben. Echt dramatisch und bühnenwirksam schreibt Kretschmer, und nach Meyerbeer und dem ersten Wagner hat kein zeitgenössischer Componist Finales von der Wucht und klaren Fügung geschrieben, wie z. B. das zweite Finale der „Folkunger“: „Sag’, bist du Erick’s Sohn?“ Und nicht minder zeugen der Krönungsmarsch dieser Oper, der Brauttanz von Falun von der reichsten melodischen und melodisch-poetischen Erfindung.

Der Erfolg der neueren Oper Edmund Kretschmer’s, „Heinrich der Löwe“, ist bisher bekanntlich auf nur wenige Städte beschränkt geblieben. Aber die „Folkunger“ sind – im deutschen Musikleben wohl ein fast unerhörtes Factum – über fünfzig [738] Bühnen geschritten, und die Einzelaufführungen zählen, da das Werk sich fast überall dauernd im Repertoire hielt, nach vielen Hunderten. Und der Componist selbst?

Er ist trotz der Riesenerfolge seiner Oper und der Anerkennung, welche er mit größeren Chorwerken, geistlicher Musik, dichterisch feingestimmten Orchesterstücken, Liedern etc. errungen hat, ein anspruchsloser gemüthvoller Künstler geblieben. Er lebt in sehr geachteter Stellung als Hoforganist in Dresden. Geboren ward er 1830 zu Ostritz in der Oberlausitz, als Sohn des dortigen Gymnasialrectors, und als er mit etwa sechszehn Jahren nach der sächsischen Hauptstadt kam, hatte er freilich das Glück, von zwei ausgezeichneten Männern in der Musik unterrichtet zu werden: von Julius Otto und Johann Schneider. Aber mühelos ward ihm das emsige Streben nicht gemacht; denn der junge Scholar mußte drei bis vier Musikstunden geben, ehe er das Honorar zusammen hatte, um je eine Stunde nehmen zu können. Den ersten größeren Erfolg hatte Kretschmer 1865, also erst elf Jahre nach seiner 1854 geschehenen Beförderung zum Hoforganisten. Man feierte in Dresden damals (es war am 25. Juli) das erste deutsche Sängerbundesfest, auf welchem der damalige Minister von Beust die geflügelten Worte sprach: „Sein König Johann von Sachsen sei zu jedem Opfer für die deutsche Einheit bereit, und solle es ihm die Krone kosten.“ Kretschmer’s mit dem ersten Preise prämiirtes Chorwerk hieß „Die Geisterschlacht“. Zehn Monate später schlugen die preußischen Heere bei Königsgrätz die vereinten Sachsen und Oesterreicher, und die durch keine „Harmonie der Chöre“ herstellbar gewesene deutsche Einheit erstand auf den blutigen Gefilden Böhmens mittelst Blut und Eisen. 1868 erhielt Kretschmer in Brüssel den ausgesetzten internationalen Preis für eine missa a tre voci.

Nun waren ihm die Flügel gewachsen; er sann ernstlich dem ihm von der Kritik gegebenen Rathe nach: eine Oper zu schreiben. [[BLKÖ:Mosenthal, Salomon Hermann|Mosenthal genoß damals, wie jetzt noch nach seinem Tode, den Ruf des erfolgsichersten Librettisten, und Kretschmer ging geradewegs auf diesen dichterischen Genossen los – aber ach, der Text war wohl da, Meyerbeer war er zugedacht gewesen und seine dramatische Qualifikation einleuchtend, aber der arme deutsche Musiker sollte dem gewandten Wiener Librettisten, dem Vater der „Deborah“, für die „Folkunger“ 1000 Gulden Anzahlung leisten. Kretschmer hat sich die Summe geborgt und begann dann rüstig zu schaffen. Wie manche 1000 Gulden mögen Mosenthal und seine Erben aus den Tantièmen der „Folkunger“ bezogen haben! Dresden war die erste Bühne, die den Ruhm des neuen (man konnte schon nicht mehr sagen „jungen“) Opernschöpfers begründete, und fast alle größeren Bühnen folgten dem Beispiel Dresdens. Im Osten begrenzen Wien und Riga, im Norden Hamburg und Rotterdam, im Westen Köln und Karlsruhe, im Süden Zürich und München das Territorium deutscher Musik, das die „Folkunger“ sich in fünfzig Städten eroberten. Mit fünfzig Jahren steht Edmund Kretschmer auf dem Zenith seiner Manneskraft; zu feiern und sich an vergangenem Ruhm zu sonnen liegt nicht in seinem Charakter. Da darf man denn hoffen, daß sein Streben und Mühen noch manche Frucht trage, welche deutsches Wesen und deutsche Gemüthstiefe zu siegreichem Wettstreit mit den verlockendsten Hervorbringungen Wälschlands und Galliens befähigen möge.

Ludwig Hartmann.