Textdaten
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Autor: H. A. Berlepsch
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Titel: Der Piz Ot im Ober-Engadin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 828–831
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus Graubündens Hochalpen.[1]

Von H. A. Berlepsch.
Nr. 1. Der Piz Ot im Ober-Engadin.

Wie große Städte ihre Kathedral-Signale, ihre riesigen Münsterthürme haben, welche, das Dächer-Chaos hoch überragend, der Häusermasse den ihr eigenen physiognomischen Ausdruck geben, so erblickt der Wanderer auch in den Alpen einzelne hochaufstrebende Gebirgs-Individuen, die in auffallender, fast möchte man sagen, bevorrechteter oder sich hervordrängender Haltung und Stellung vorzugsweise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und jenen Domthürmen zu vergleichen sind.

Zu diesen Berg-Aristokraten gehört der Piz Ot im Ober-Engadin. Wer aus dem Traubenthale des Veltlins über den Bernina-Paß kommt, oder wer auch nur als Curgast der alljährlich lebhafter besuchten, starken, kohlensaueren Heilquelle zu St. Moritz einen Spaziergang zum gewaltigen Morteratsch-Gletscher macht, dem fällt unwillkürlich jene riesige Felsenpyramide auf, die über den breiten Schultern des Piz Padella, oberhalb Samaden, frei und kühn in’s lichte Blau emporstrebt. Es umstehen ihn Nachbarn, die seine Höhe erreichen, wenn das Auge nivellirende Linien zieht; aber sie stecken so breit philisterhaft, so schwerfällig unbeholfen im großen Profil des Alpenhorizontes, sie zeigen so wenig selbstständig Hervortretendes, daß der Blick des Touristen theilnahmlos über sie hinweg gleitet und mit Wohlgefallen nur an dem genialen Piz Ot haften bleibt.

„Piz“ wird in Graubünden, besonders im Romanischen, fast jede Spitze genannt, die der deutsche Schweizer mit „Horn“, der französisch redende mit „dent“ (Zahn), der Savoyarde mit „aiguille“ (Nadel) bezeichnet. So charakteristisch für viele derselben diese figürlichen Bezeichnungen sind, so sind sie doch zu allgemein gebräuchlich geworden, und es giebt eine ganz namhafte Anzahl Berggipfel, die nichts weniger als einem Horne oder Zahne ähnlich sehen. So ist’s auch in Graubünden. Unser Piz Ot ist aber ein echter, vollberechtigter Piz, für den man, wenn dieser Ehrentitel nicht schon existirte, ihn besonders einführen müßte. Der individuelle Name Ot ist eigentlich ein Adjectivum und entspricht dem französischen haut, so daß der ganze Name, in gutes Deutsch übersetzt, eigentlich „hohe Spitze“ heißen würde.

Er ist ein Wanderziel, wie man deren in der Schweiz, trotz des beinahe unzählbaren Bergereichthums wenige hat. Ein Gipfel, wie der des Piz Ot, von mehr als zehntausend Fuß Höhe – also etwa fünf Siebentel der Erhebung des höchsten europäischen Berges, des Montblanc – gehört in der Regel schon zur Classe jener Alpen-Notabilitäten, zu deren Ersteigung einige Sicherheit in Schritt und Tritt, ziemliche Gewandtheit im Klettern, besonnener Muth bei der Wanderung über Firnfelder und spaltenreiche Gletscher, sowie Ausdauer und Elasticität der Pedalmuskeln erforderlich sind. Berge von acht- bis zehntausend Fuß Höhe ragen nämlich mit ihren Kulmen schon einige tausend Fuß in die Schneeregion hinein und sind deshalb, wenn sie nicht allzu steilwandig anstreben, Jahr aus Jahr ein ganz oder doch theilweise mit Schnee bedeckt. Die Ersteigung derselben ist darum auch gewöhnlich mit der Nothwendigkeit des Uebernachten-Müssens in einer Sennhütte verbunden, und zwar aus folgendem Grunde: In den warmen Sommermonaten (während welcher man doch nur Wanderungen in’s Hochgebirge unternimmt) wird der Schnee durch die Insolation (d. h. durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen) auf seiner Oberfläche so geschmolzen, daß nicht nur das Gehen über den völlig durchfeuchteten Schnee unangenehm wird, weil das geschmolzene Schneewasser die Schuhe gleichsam durchbeizt, – sondern auch beschwerlich, ermüdend, weil der Fuß nicht mehr festen Tritt fassen und in Folge dessen unter Umständen das Wandern gefährlich werden kann. Deshalb übernachten Bergsteiger und Führer in den Hütten der oberen Staffeln (Alpweiden), um vor Tagesanbruch, wenn die Luft noch kühl, der Schnee noch hart und tragfest ist, mit frischen Kräften, rüstigen Schrittes emporeilen und, wenn immer möglich, bei guter Zeit den Gipfel erreichen zu können. Nach ein- oder zweistündigem Aufenthalt mahnen die Führer zur Rückkehr, um noch vor Eintritt der hohen Nachmittagswärme wieder über den Schnee hinabzukommen.

Von welch entsetzlichen Folgen eine Verspätung bei hoher Luft- oder Sonnentemperatur für den entschlossensten, klettergeübtesten Bergsteiger werden kann, zeigte ein Vorfall des letzten Sommers, den ich kurz erzählend hier einschalten will. Mitglieder des englischen Alpine-Club belagerten mehrere Wochen lang von Zermatt (im Wallis) aus den noch nie erstiegenen 13,900 Fuß hohen Mont Cervin (Matterhorn), um den Unbezwinglichen zu besiegen. Unter ihnen war auch ein Mr. Whimper, der in verwegener Tollkühnheit seinen Führern oft vorauseilte, alle Regeln vorsichtigen Steigens außer Acht lassend. So auch, bei einem Versuche auf eigene Faust, kam er eines Tages in bedeutender Höhe bei einer beinahe senkrechten Felsenwand an, die mit dichtem Firneis dick überzogen war. Dahinauf mußte er. Dies ist ein Umstand, der den Bergsteiger nicht abschreckt und oft vorkommt. Mr. Whimper hieb mit dem Beile, das er zur Hand hatte, Tritt um Tritt vor und über sich in’s Eis, einige Hundert Fuß hoch, bis er weiter oben wieder auf’s „Abere“, d. h. auf den schneefreien Felsen kam. Nach

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Der Piz Ot im Ober Engadin.

[830] langen fruchtlosen Versuchen, weiter empor zu dringen, mußte er, wie früher (und wohl auch noch oft nach ihm) die Anderen, unverrichteter Sache wieder umkehren. Es war am hohen Nachmittage. Aber wehe! Als er auf dem Rückwege an seinen Eisstufen wieder ankam, hatte die Sonne dieselben hinweg geschmolzen, so daß sich ihm nur eine jedes Anhaltpunktes beraubte, glatte, fast verticale Eiswand darbot. Unerschrocken begann er das einzige mögliche, aber lebensgefährliche Auskunftsmittel durchzuführen, nämlich mit der rechten Hand Stufen unter seinem Standpunkt in’s Eis zu hauen, während die Linke krampfhaft an das tödtendkalte Frostgebilde sich anklammerte. Für einige Dutzend Tritte gelang ihm das schwindelnde Werk. Da aber, weiß der Himmel, durch welchen unbedeutenden Umstand, glitt der Unglückliche aus und stürzte dem Abgrunde zu. Zerschmettert würde er drunten angekommen sein, wenn nicht eine hervorragende Felsenzacke ihn aufgefangen und in die mit frischem Schnee weich ausgepolsterte Gabelung gebettet hätte, wo er allmählich wieder zur Besinnung kam. Unter Mühsalen erreichte er endlich die sichere Thalsohle wieder. Nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zurück.

Eben diese Schnee- und Gletscher-Passagen bedingen in der Regel ferner, daß nicht etwa eine Gesellschaft von Touristen nur einen Führer bei sich habe, sondern daß jeder Reisende für seine Person einen Führer engagirt, der wiederum mit Eissporen, Leitseil und anderen Bergsteiger-Requisiten ausgerüstet sein muß.

Man pflegt nämlich Firnfelder und Gletscher in der Weise zu überschreiten, daß der Hauptführer (der Geübteste, Hochgebirgskundigste und Besonnenste) vorangeht, ihm dann in Entfernung von etwa fünf bis sechs Schritten einer der Reisenden folgt, nach abermals gleicher Distanz der zweite Führer und dann der zweite Tourist kommen, bis ein Führer oder Träger den Schluß bildet. Alle sind durch ein um die Hüfte geschlungenes Seil mit einander verbunden. Diese Vorsicht wendet man deshalb an, um einer trügerischen, heimtückischen Eigenschaft der Gletscher und Firnfelder zu begegnen. Wie bekannt, sind die Gletscher und zum Theil auch die mit sogen, „ewigem Schnee“ bedeckten Flächen im Hochgebirge von Querspalten durchzogen und zerrissen, die das Marschiren auf denselben sehr beeinträchtigen und aufhalten. Nun begegnet’s, daß bei frisch gefallenem Schnee (der, wie wir aus den Flachlands-Erscheinungen wissen, in feucht angewehtem Zustande frei in die Luft hinaus stehende Vorsprünge ansetzt) sich sogenannte Schneebrücken über jene Risse und tiefen Spalten wölben, welche dieselben völlig verdecken, so daß der auf der Oberfläche Marschirende, wenn er nicht ein ungemein geübtes, gleichsam instinctiv die Gefahr erkennendes Auge hat, unbesorgt über die gräulichen Abgründe hinwandert, aus denen in manchen Fällen Rettung unmöglich ist. Da aber solche Spalten nicht breiter als einige Fuß sind, so können von einer Bergsteigungs-Expedition, wenn die Theilnehmer derselben in Gänsemarschlinie mit Distanzen gehen, nie Alle zu gleicher Zeit, sondern höchstens Einer durch solch eine Schneebrücke einbrechen. Um nun die Folgen solchen Einsinkens zu paralysiren, findet eben das oben berührte Anbinden an’s Seil statt, so daß, wenn einer der Alpengänger plötzlich einbricht, er nicht tief fallen kann, sondern im Augenblick von den Anderen wieder herausgezogen wird. Dieses Manöver erregt bei Neulingen einiges Grauen, aber man lernt so rasch, diese Gefahr mißachten, daß die Durchfälle zu den lustigsten, die allgemeinste Heiterkeit unterhaltenden Episoden gehören. Von allen diesen Bedingungen, Vorkehrungen und Inconvenienzen hat unser zehntausend Fuß hoher Piz Ot nicht die Spur. Man braucht bei ihm nicht, wie bei den andern hohen Alpen-Magnaten, stundenlang auf Schnee und Eis zu antichambriren, ehe man in das Allerheiligste der Pracht- und Wunderwelt eingelassen wird. Einfach, gerade und biderb, aber auch ein wenig rauh, wie eine echte, urchige Bündner Natur, steht er da. Er macht nicht viel Wesens, es bedarf keiner besondern Einführungs-Weitläufigkeiten; selbst den des Steigens ungewohnten Flachlandssohn läßt er leicht auf gänzlich unbeschwerlichem Wege bis an die Sockel seines Felsenschemels herankommen, und dann ruft er dem ihn besuchenden Fremdling zu: „Jetzt, Bursch, wenn du Courage hast, versuch’s, komm herauf zu mir; der Lohn für dein Mühen soll dir werden.“

Und das ist’s, was den Piz Ot vor Tausenden seiner Commilitonen auszeichnet. Dadurch, daß er von dem Ober-Engadin, einem der am höchsten gelegenen bewohnten Thäler Europa’s, aus erstiegen wird, hat man von Samaden (5360 Fuß überm Meeresspiegel), dem schönen, großen, reichen Dorfe, in dem man übernachtet, nur noch 4640 Fuß eigentlich zu steigen, also etwa so viel wie von Wäggis am Vierwaldstätter See bis auf den Rigi. Wer diese zuletzt genannte, weltbekannte Favorit-Bummel-Promenade gemacht hat, weiß, wie wenig dies besagen will. Auch nicht mehr als vier Stunden Zeit, gerade wie auf den Allerwelts-Rigi, braucht man von Samaden bis den Gipfel des Piz Ot, und der ganze an großartigen, mächtig sich aufdrängenden Eindrücken so überreiche Weg ist für den, der nicht gar zu sehr Stuben-Pantöffler ist, so recht eine Partie, die ganz in den mittleren Kräften liegt.

Freilich muß der Piz Ot-Gänger Einer sein, der ein wenig frisch in die Welt hinauszusehen gewohnt ist, – dem die märchenhafte Herrlichkeit unseres Hochgebirges, die wir alte Bursche jubelnd anjauchzen wie die kleinen Schulbuben, während uns die Augen voll Thränen stehen und das Herz puppert und stößt, als ob es aus seinem Brustkämmerlein heraushüpfen möchte, – freilich muß es Einer sein, sage ich, dem der Kopf nicht schwindelt ob alle dem, was da rundum sich aufbaut. Denn mit dem Wege da hinauf hat’s folgende Bewandniß:

Drunten in Samaden haben wir in dem kleinen, nur über vier freundliche Zimmerchen gebietenden, aber ungemein heimlichen Gasthofe zum Piz Ot bei Herrn Bernhard logirt. Das Mamachen hat in gewinnender, ruhiger Freundlichkeit Alles aufgeboten, was Küche und Keller vermögen, um von ihren Gästen mit einem anerkennenden Händedruck erfreut zu werden, und Meister Bernhard, der seines Zeichens eigentlich ein Giftmischer und Pillendreher, vulgo Apotheker ist, daneben aber famose Veltliner Weine conservirt, in seinen Mußestunden recht frisch hervorquellende Gedichte improvisirt und nur nebenbei Gastwirth zu sein scheint, hat dem altehrwürdigen Papa Krätli, dem hochgewachsenen, mit seinem langen grauen Barte einem Alpengeiste gleichenden Botaniker in Bevers (eine halbe Stunde von Samaden), es wissen lassen, daß wieder Bergsehnsüchtige aus der Ferne da sind, und siehe, der gute treue Alte hat sich eingestellt, uns zu begleiten. Denn ihm macht’s Freude, wenn er sieht, wie die zu seinem Herzen, zu seinem Leben gehörenden Alpen auch Andere mit Begeisterung erfüllen.

In schweigender Nacht sind wir ausgewandert. Rings hehre heilige Stille unter dem funkelnden Sternenheere. Nur fernher braust’s von dem zu einem allgemeinen, großen, unbestimmten Naturlaute ineinander zerfließenden Rieseln und Schäumen und Plätschern der Bergbäche, die dem Innstrome zueilen; das Wehen des frühen Morgenwindes durch die Wipfel der Arven und Lärchen mischt sich darein und umhüllt jedes einzeln sich hervordrängen wollende Rauschen mit seinen linden, leisen Accorden. So geht’s hinauf durch thaubenetzte Bergwiesen, am einsam liegenden, uralten St. Peterkirchlein vorüber, in dessen Mauermarken die zur großen Friedensheimath eingegangenen Bewohner von Samaden den Todesschlaf schlummern. Horch! Glockengeläute unterbricht das große Schweigen. Es ist 3 Uhr; der Thurmruf mahnt das Volk, in die oft stundenweit entfernten Heuwiesen zum Mähen zu gehen. Drüben überm Piz Mezzem und tiefer hinein, ob den Bergen des Unter-Engadins, dämmert’s hell am Horizonte auf. Wir steigen immer leicht bergan. Nun nimmt uns Waldung auf, und längs einer Schlucht windet der immer erkennbarer werdende Pfad im Zickzack sich empor. Ein leuchtend schöner Tag ist im Anbruch; denn im Osten zieht’s durchsichtig purpurn auf und sendet seine Lichtströme immer weiter herauf durch die unendlichen Räume des Universums, daß der Sterne blitzendes Feuer ermattet. Kein Wölklein hemmt den freien vollen Ausstrom von Lucifers flammender Fackel; nur leichte Nebelflaggen zerflattern da und dort an den Felsenspitzen und Firnzinken. Nun, nach etwa dreiviertelstündigem Wandern haben wir die Baumregion schon unter uns, ein Zeichen, daß wir in einer Höhe von mehr als 6000 Fuß weilen. Jetzt Halt! ein Augenblick der Rast, – des Schweißabtrocknens, – der erste Rückblick und der erste Jubelruf aus Aller Munde; denn drüben an dem Riesenbau der Bernina hat die Sonne die höchsten, blendend weißen Spitzen mit ihren Strahlen vergoldet, während drunten das Thal noch im bläulichen Morgenschatten schlummert.

Am Wege eine Schäferhütte. Der borstbärtige Insasse, wohl ein Bergamaske, durch seines Hundes Ruf unter die Thür gelockt, mag am Polenta-Kochen oder am Milchgeschäfte sein; denn aus den Fugen des rohen Steingemäuers dringt träg emporsteigender Rauch hervor. Die Alpenregion beginnt, so zeigen es uns die kleinen zierlichen Pflänzchen an. Die Flora dieses Weges ist weit [831] reicher, farbiger, vielgestaltiger, als jene am Piz Languard, dem gegenüberliegenden Concurrenten des Piz Ot. Drüben bei jenem ist’s bis hinauf Granit-Terrain, hier Kalkboden und erst weiter droben krystallinisches Gestein. Die Alpenpflanzen aber sind kleine eigensinnige Starrköpfchen, nichts weniger als kosmopolitische Weltbürger. Die Auswanderungssucht ist noch nicht in sie gefahren, und urpatriotisch gedeihen sie nur da, wo ihre eigenste Heimath, ihr rechter Grund und Boden ist. Da wuchert die schwarze süßliche Rauschbeere in miniatur-strauchartiger Form, ein kleiner Gerngroß, den aber die halbjährige Schneelast darniederhält. Daneben Senecio abrotanifolius[WS 1], mit seinen goldlack-gelben Blüthensonnen an Crepis aurea erinnernd. Dann Ranunculus parnassifolius und Arabis caerulea, sowie Dianthus glacialis und Viola calcarata, lauter Pflänzchen, die, in Verbindung mit den noch später zu nennenden, den Botaniker wohl reizen können, eine Wanderung zum Piz Ot zu unternehmen.

Nun biegt der Weg links ein, um den seltsam zerklüfteten Piz Padella herum. Drüben, uns zur Rechten, wächst ein sonderbar gestaltetes Felsengemäuer empor, die Cima da Spignas, vom Volke auch Chaste, d. h. Burg, genannt. Und in der That, je weiter wir kommen, desto mehr gleichen die scharfkantig abgeschnittenen, geradlinig gezackten Kalkmauern einem thurmreichen, zinnengekrönten Ritterschlosse aus alter Normannenzeit, das wie gefeiet und verfehmt hier oben, in der nun beginnenden Steinwüstenei, der Erlösung harrt. Denn mit jedem Schritt, den wir tiefer in das hier sich öffnende Hochthal eindringen, wird die Scenerie wilder, seltsamer, abenteuerlicher. Soweit das Auge umherschweift, allüberall begegnet es Merkmalen schrecklicher Zerstörung und Verwüstung. Alles ist Ruine, Ueberbleibsel einst noch größerer Verhältnisse, hier durch Frost und Wetter zerfressen und abgesprengt, dort durch Lawinenstürze zur glatten grauen Böschung umgewandelt. Auch die Vegetation schrumpft immer niedriger zusammen und zeigt sich nur noch höchst sporadisch; reizende Androsaceen, Saxifragen grüßen mit ihren porcellan-weißgelblichen Blüthensternchen, und Geum reptans, Phyteuma pauciflorum und die am Boden kriechende Sibbaldia (procumbens) lauschen zwischen dem Trümmergestein hervor.

Allmählich wendet sich der Pfad. Im Hintergrunde dieser großartigen Einöde rückt allmählich neben dem Kamme von Spignas ein Felsenkoloß hervor, senkrecht abfallend, mehrere tausend Fuß aufragend, dem Anscheine nach unerklimmbar. „Da ist er!“ ruft Papa Krätli und deutet auf den Piz Ot. Es ist der Standpunkt bei der Fontana fredda (kalte Quelle, die mit nur 2° Réaum. Temperatur unter einem gewaltigen Granitblock hervorquillt), von welchem unsere Zeichnung aufgenommen wurde. „Da hinauf geht’s?“ fragt Jeder ungläubig. Ja, prächtig, lustig geht’s hinaus. Früher war’s freilich ein Wagestücklein, zu dem ganz erprobte Alpengänger gehörten. Seit jedoch die Samadener mit Kostenaufwande von einigen Tausend Franken den Felsen aussprengen und treppenförmig Steine legen ließen, da wandert sich’s so gemächlich und sicher dort hinauf zu der 10,000 Fuß hohen Warte wie auf den Mailänder Dom oder den Straßburger Münster.

Hier wartet des Wanderers auf dem nun über rauhe Platten an der Cresta naira (dem Vorkopf des Piz Ot) sich emporwindenden Wege eine neue Ueberraschung. Man kann wochen- und monatelang in den Alpen reisen, einsame Bergthäler besuchen, wenig begangene Pässe überschreiten und doch nicht ein einziges Mal die Genugthuung haben, eines der vornehmsten Alpen-Attribute, ein Gemsthier, gesehen zu haben. Hier am Piz Ot ist’s keine Seltenheit auf Gemsen zu stoßen. Noch öfter erblickt man Schnee- und Steinhühner und zwar in solcher Nähe, daß man hinter denselben herläuft und sie mit dem Alpenstock todtschlagen zu können glaubt, da ihr Lauf schwerfällig und ihr Flug niedrig und unbeholfen ist.

So geht’s im treppenförmigen Zickzack zur Cresta naira hinauf. Links baut sich der verwitterte, höchst wunderbar ausgezackte Felsenkamm der „trais Sruors“ (drei Schwestern) auf, aus deren phantastischen Verwitterungs-Gebilden besonders zwei sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Volk nennt sie Fra Scala und Donna Lucrezia; und wirklich sehen beide wie mittelalterlich costümirte menschliche Figuren aus, Reminiscenzen an Mönch und Nonne zunächst der Wartburg, nur ausgeprägter und bestimmter in den Formen, so daß wenig Spiel der Phantasie dazu gehört. Bald darauf erreicht der hochaufathmende Wanderer einen Prachtaussichts-Punkt „alla veduta della Bernina“ genannt. Hier überblickt man zum ersten Mal über den Kamm des Piz Padella mächtig herauswachsend das kolossale, über und über mit Firn bedeckte Bernina-Massiv mit allen seinen Spitzen, Gräten, Zacken und Ausgipfelungen. Doch wir sättigen uns noch nicht an diesem auf Abschlag gegebenen Partial-Panorama; wir behalten uns den ganzen Vollgenuß vor. Jetzt gilt’s nun kniefest und frischen Auges, behenden, rasch auswählenden Trittes vorwärts zu dringen. Denn es kommt die letzte, etwa eine Stunde beanspruchende Erklimmungstour des eigentlichen Piz Ot-Obelisken. Wer am Schwindel leidet, mag hier seinen Führer immer zur Handhülfe bereit haben; schwindelfreie Touristen steigen so fröhlich, so sicher, so unbehindert über den treppenförmigen Pfad hinauf, daß sie überrascht sind, wenn man ihnen zuruft: „Noch fünf Minuten, dann ist’s gewonnen.“

Und endlich, endlich ist’s gewonnen, das hohe, herrliche Wanderziel; endlich stehen wir droben auf dem halbmondförmig gebogenen, für mehr als vierzig Personen Raum gebenden Gipfel, und unter uns ausgebreitet liegt, gleich einem im wildesten Wogen-Aufruhr versteinerten Meer, die unendliche, prachtvolle Alpenwelt. O, was ist alle Menschenmacht und alle durch Menschenhand und Menschenfleiß geschaffene Größe und Majestät gegen diese unerreichbare Natur-Erhabenheit, von welcher der, der sie noch nie zu sehen Gelegenheit hatte, sich wohl kaum einen Begriff zu bilden vermag!

Ich breche ab, denn mir fehlen Worte, um den gewaltigen Eindruck nur einigermaßen annähernd zu schildern. Das bekenne ich offen, ich habe mit diesem Artikel Propaganda für einen der herrlichsten Aussichtspunkte unseres Alpenlandes machen wollen, Propaganda im Interesse der Touristen-Welt selbst. Vielleicht begegnen wir uns, lieber Leser, nächsten Sommer droben auf dem schönen, schönen Piz Ot!



  1. Unter diesem Titel wird der nächste Jahrgang unserer Zeitschrift aus der Feder des bekannten Schweizerführers eine Reihe landschaftlicher Skizzen mit Abbildungen bringen, die wir unsern Lesern im Voraus auf das Angelegentlichste empfehlen. Berlepsch, dessen frische, wahre und geistreiche Schilderungen in den letzten Jahren so großen Anklang fanden, lenkt in diesen Skizzen die Aufmerksamkeit aller Reisenden auf einzelne noch wenig bekannte Punkte des Schweizerlandes hin und erwirbt sich dadurch ein neues Verdienst. Ein von dem geehrten Verfasser als Einleitung zu diesem Artikel beigegebenes interessantes Vorwort müssen wir des fehlenden Raumes wegen für den nächsten Artikel versparen. D. Red.     

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Senecio obrotanifolius