Textdaten
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Autor: F. St–e.
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Titel: Leipziger Erinnerungen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 831
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[831] Leipziger Erinnerungen. Nr. 1. Es war an einem Sommervormittage des Jahres 1833, als in das Lesezimmer des Leipziger literarischen Museums, welches damals im ersten Stockwerk des neben Auerbach’s Keller gelegenen Hauses befindlich und dem Buchhändler Reclam gehörig, ein nicht zu großer, aber ziemlich wohlbeleibter Herr mit gutmüthigem Gesicht trat und, ohne von den am großen, mit grünem Tuch behangenen ovalen Lesetisch versammelten Museum-Stammgästen irgend weiter Notiz zu nehmen, am kleinen Tisch am Fenster Platz nahm und sich sofort in die Zeitungen vertiefte.

Die damaligen Besucher des literarischen Museums, die sich fast täglich zu einer bestimmten Stunde des Vormittags oder am Spätnachmittage am großen Tische zusammen fanden, waren sich einander persönlich so bekannt, daß die Erscheinung eines Fremden stets die Aufmerksamkeit des Stammtisches auf sich zog. Zu den hervorragendsten Persönlichkeiten dieses Stammtisches gehörten damals der in Leipzig seit einer langen Reihe von Jahren wohnhafte Prinz von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augusteburg Emil, ein ebenso humaner wie gebildeter und sich für die Tagesereignisse sehr interessirender alter Herr, der nur die für uns andern Leser etwas störende Angewohnheit hatte, daß ihm Hamann, der Museumdiener, die neuangekommenen Zeitungen jedesmal zuerst bringen mußte. Das hätte sein mögen, wenn Se. Durchlaucht, so wurde der Prinz genannt, sofort zur Lectüre der neuen Zeitungen übergegangen wäre; aber nein, erst wurde die bereits in der Hand befindliche Zeitung gelesen und die Neulinge gleichsam als Reserve darunter versargt. Spazier, der bekannte Polenfreund, ebenfalls ein Museenbesucher, sprach sich einmal ziemlich ungenirt über diese zeitweilige Confiscation aus. Neben dem Prinzen, der am oberen Ende der Tafel seinen Platz hatte, saß Professor Traugott Krug, der Philosoph, der mit Sr. Durchlaucht sehr befreundet schien. Anderweitige Stammgäste waren: der Professor Bülau, der Herausgeber der Pölitzischen Jahrbücher, stets sehr schweigsam und immer lesend; der für die Wissenschaft viel zu früh durch den Tod entrissene Prof. Richter, eine der liebenswürdigsten Persönlichkeiten; dann ein damals sehr radicaler Geschichtsschreiber aller Revolutionen, jetzt Mitarbeiter einer sehr conservativen Zeitung –; ferner Friedrich Gleich, der Herausgeber des „Eremiten“, nächst der Zwickauer „Biene“ damals das einzige sächsische Oppositionsblatt; der als freisinniger Publicist nicht unbekannte Dr. Hermes, der bereits erwähnte Dr. Spazier, der durch seine ultramontanen und absolutistischen Gesinnungen in Leipzig bekannte Dr. d’Alnoncourt, der Buchhändler Molbrecht und einige Kaufleute. Auch Ernst Ortlepp, damals eine recht geachtete Persönlichkeit, und Schreiber dieses erschienen oft auf dem Museum. Sobald die Stammgesellschaft Vormittags zwischen 11 und 12 Uhr beisammen war, wurde die lex regia eines Lesemuseums, [832] das „Schweigen!“ nicht immer gewissenhaft beobachtet. Fand der Eine oder Andere irgend eine interessante Notiz, so wurde sie mitgetheilt; ja, zuweilen entspann sich selbst politische Discussion, wo die sich entgegenstehenden Principien ihre Vertreter fanden. Spazier stand bei solchen Gelegenheiten stets auf der äußersten Linken. Ueberhaupt gerirte sich dieser auch in seiner äußern Erscheinung als Radicaler, wie die Demokraten damals genannt wurden. Spazier legte keinen besondern Werth auf die übliche gesellschaftliche Form und breitete sich, wenn Platz war, aus Bequemlichkeit mit dem halben Leibe über den Lesetisch. Er stand daher als Politikus, wie als Mann von feiner Sitte, bei den conservativen Elementen des Lesetisches nicht eben in besonderer Gunst. Der Professor Krug liebte es, seine Anschauungen über schwebende politische Fragen durch Broschüren der Öffentlichkeit zu übergeben. Diese Anschauungen waren aber in der Regel der Art, daß sie bei den liberalern und namentlich jüngern Politikern wenig Anklang fanden. Als sich daher Krug eines Tages eine Notiz auf ein Zettelchen schreiben wollte, stieß er aus Versehen das Tintenfaß um, so daß die schwarze Fluth die grüne Ebene überschwemmte. Spazier brummte ziemlich verständlich: „Er kann die Tinte nicht halten!“

Als der im Eingang erwähnte mittelgroße wohlbeleibte Herr mit dem gutmüthigen Gesicht am andern Tage zur selbigen Stunde wieder erschien und seinen Platz am Fenster einnahm, wandte sich der Kopf des Prinzen Emil zu Krugen und schien etwas zu fragen, worauf der Philosoph sein Haupt schüttelte. Auch Hamann, vom Prinzen später befragt, wußte keine Auskunft über den Fremden zu geben, da dieser sich nicht die Mühe genommen, seinen Namen in das Fremdenbuch einzuschreiben. Am dritten Tage endlich ward Licht. Der sehr sommerlich gekleidete Herr in gelben Nankinghosen war Niemand anders, als der aus den parlamentarischen Zeiten der zwanziger Jahre her bekannte würtembergische Abgeordnete und gegenwärtige nordamerikanische Consul, der Nationalökonom Friedrich List. Die conservativen Persönlichkeiten am Lesetische erinnerten sich jetzt mit bedenklichem Kopfschütteln, daß List wegen politischer Wühlereien, wie sie es nannten, in Würtemberg in Untersuchung gewesen, ja selbst auf dem Hohenasperg gesessen und später nach Amerika ausgewandert sei. Da indeß die Bestrebungen dieses Mannes in neuerer Zeit allein auf National-Oekonomie gerichtet waren, und er zugleich als Consul eine Art officielle Stellung bekleidete, gab man sich der Hoffnung hin, daß List von seinen früheren politischen Ausschweifungen curirt sei. Er ward darum bald, zumal er recht interessant von Amerika zu erzählen wußte, selbst in den conservativen Kreisen der Museenbesucher eine nicht ungern gesehene Persönlichkeit, wenn auch Mancher zuweilen den Kopf schüttelte, sobald List sich über deutsche Zustände mit rückhaltloser Offenheit aussprach.

Noch mehr aber gewann List an Interesse, als er mit seiner Idee, Leipzig und Dresden durch eine Eisenbahn zu verbinden, hervortrat und dieselbe in einer Schrift: „Das sächsische Eisenbahnsystem als Grundlage eines deutschen Eisenbahnsystems“ eines Weiteren entwickelte. Kein Tag verging, wo nicht diese Frage auch im Lesemuseum in Gegenwart von List selbst verhandelt wurde. Alle damals im Publicum gegen eine Eisenbahn zwischen Dresden und Leipzig anstrebenden kleinbürgerlichen Bedenklichkeiten und Engherzigkeiten fanden auch auf dem Museum ihre Vertreter, und der gute List hatte die unsäglichste Mühe, diese Eisenbahnwidersacher eines Besseren zu belehren, indem er ihnen die Sache so klar wie immer möglich auseinander setzte. Doch stand auch ein nicht unansehnlicher Theil der Stammgäste, namentlich der jüngeren Generation angehörig, auf der Seite List’s, da man die Großartigkeit und den praktischen Nutzen einer solchen Bahn einsah und anerkannte.

Die Hauptsachen, um die es sich vorzüglich handelte, waren natürlich der Kostenpunkt und die Rentabilität einer solchen Bahn. Ja, hieß es, die Engländer können wohl Eisenbahnen bauen, die haben das Geld dazu; wo soll aber solches bei uns armen Deutschen herkommen? Und selbst wenn die enorme Summe beschafft würde, wo ist nur die entfernte Aussicht vorhanden, eine dereinstige Verzinsung zu erlangen? Die Paar mit Post- und Lohnkutschen zwischen Leipzig und Dresden hin und wieder Reisenden sind ja nicht der Rede werth.

Vergebens wies List nach, daß, sobald eine Eisenbahn in’s Leben träte, die Erfahrung hinreichend lehre, wie sich der Personenverkehr um das Fünf- und Sechsfache erhöhe. Er machte ferner auf den so wichtigen Gütertransport aufmerksam; half Alles nichts, immer dasselbe ungläubige Kopfschütteln.

„Wie lange soll denn wohl eine solche Fahrt von Leipzig nach Dresden dauern?“ frug eine Stimme.

„Drei bis vier Stunden,“ antwortete List.

„Gerechter Himmel!“ rief ein Anderer, auf dessen Brust es nicht ganz richtig war; „das geht so rasend schnell, daß man nicht wird Athem holen können!“

Ein neuer Uebelstand, an den bis jetzt noch Niemand gedacht hatte!

„Bei solcher ungeheurer Schnelligkeit,“ bemerkte ein Dritter, „müssen die Achsen glühend werden und in Rauch und Flammen aufgehen!“

„Bei einer Schnelligkeit von fünf Meilen die Stunde gewiß nicht,“ tröstete List.

„Und wie steht’s mit dem Fahrgelde?“ erkundigte sich ein Vierter, der stets mit der Eilpost nach Dresden fuhr und für seinen Platz fünf Thaler bezahlte.

„Je billiger, desto besser für die Rentabilität,“ erwiderte List. „Wenn die Leipzig-Dresdner Eisenbahn,“ fuhr er fort, „das wird, was sie sein soll, muß die Person für einen Thaler hin und zurück befördert werden. Für jeden Handwerksburschen muß es billiger sein, mit der Eisenbahn zu fahren, als zu Fuße zu gehen.“[1]

In drei bis vier Stunden für einen Thaler von Leipzig nach Dresden und zurück, das war ein Gedanke ebenso verlockend wie unglaublich.

„Die vierzigtausend Leipziger,“ ließ sich ein anderweiter Sicherheits-Commissarius vernehmen, „werden sich aber trotz der Billigkeit und Schnelligkeit bald satt gefahren haben.“

„Vierzigtausend Leipziger?“ rief List mit erhobener Stimme. „Sobald sich die Nachbarstaaten anschließen, muß Leipzig von Beendigung der Bahn an in anderthalb Jahrzehnt Achtzigtausend haben.“[2]

Wieder ziemlich allgemeines Kopfschütteln.

Indeß die durch List einmal angeregte und mit allem Aufgebote seiner Kräfte, Ausdauer, Beharrlichkeit und Selbstverleugnung, die alle Bewunderung verdiente, geförderte Idee gewann immer mehr Boden, so daß in nicht zu langer Zeit eine Actiengesellschaft – die Actie mit zwei Thaler Anzahlung – zusammentrat und drei Jahre später, am Morgen des 24. Aprils 1837, der erste Personenzng aus dem Bahnhofe zu Leipzig brauste. Leipzig hat jetzt, wie List vorausgesagt, achtzigtausend Einwohner.

Wann wird auf deutschen Eisenbahnen List’s andere Prophezeiung in Erfüllung gehen? Sollen die Directionen an die Resultate der englischen Briefportoermäßigung fort und fort erinnert werden?
F. St–e.


  1. List’s eigene Worte.
  2. Ebenfalls List’s Worte.