Der Lehrlingshort in München
[548] Der Lehrlingshort in München. Ueberall in Deutschland sind, nach dem in München gegebenen Beispiel, Knabenhorte entstanden, deren segensreiche Wirkungen sich bereits deutlich fühlbar machen. Nun ist in der bayerischen Hauptstadt ein weiterer Schritt gethan worden, um die jungen Lehrlinge ebenso vor dem sittlichen Verderben zu bewahren wie früher die Schulknaben, und der durch edeldenkende Männer gegründete Lehrlingshort verdient, in den weitesten Kreisen dringend zur Nachahmung empfohlen zu werden, denn in ihm finden die jungen Leute für den Sonntag Nachmittag einen gemüthlichen Aufenthalt, Geselligkeit und geistige Anregung, also mit einem Wort: Bewahrung vor den elenden Sonntagsvergnügen der Großstadt, welche so viele Arbeiter schon in der ersten Jugend dem moralischen Ruin zuführen.
Die Mittel sind auch hier, wie beim Knabenhort, die allereinfachsten: ein geräumiges helles Lokal nahe den Isarauen, ein Stück Brot und ein Glas Bier um die Vesperzeit. Aber hierher, wie in den Knabenhort, drängen sich die armen Jungen, um in dem Winters gut geheizten und beleuchteten Raume, unter den Augen „ihres Herrn Raths Jung“, den alle wie einen Vater lieben, im herzlichen Verkehr mit ihm und seinen Gehilfen so frohe Stunden zu verleben, wie ihre glücklicher situirten Altersgenossen in der eigenen Familie. Eine stattliche Bibliothek von Reisewerken, Unterhaltungsblättern und Jugendschriften beglückt die „Leseratzen“, die mit aufgestützten Köpfen dasitzen, taub gegen alles, was rings umher vorgeht; andere bemächtigen sich der Dominos, Schachbretter und Schachspiele, der Zeichenstifte etc. Um 5 Uhr aber wird alles bei Seite gelegt, denn da hält entweder Herr Rath Jung oder ein Lehrer der vielen hiesigen Schulen oder ein sonstiger Freund der Anstalt dem jungen Auditorium einen seinen Fassungskräften angemessenen Vortrag, der mit gespannter, lautloser Aufmerksamkeit aufgenommen wird. Bei meinem neulichen Besuche erklärte den Knaben eben ein junger Militärbeamter ihre künftige Dienstpflicht, indem er ihnen bewies, wie die Forderungen von Gehorsam, Pünktlichkeit und Reinlichkeit nicht eine Plage, sondern ein Gewinn fürs Leben seien. An einem späteren Sonntag wurde „Die Glocke“ von Schiller vorgelesen und erklärt, aber immer auf die Gemüthswirkung berechnet, indem alles von den Leitern der Anstalt vermieden wird, was die Lehrlinge geistig zu sehr heraufschrauben und mit ihrem Stand unzufrieden machen könnte.
Dafür ist der Pflege des Talentes, welches in allen Ständen beglückend wirkt, ein weiter Spielraum gelassen. Es wurden am späteren Abend oberbayerische Gedichte v. Stieler und Kobell deklamirt und mit schallender Heiterkeit aufgenommen, dann kam die Musik an die Reihe, und nun verklärten sich die Gesichter. Bücher und Spiele wurden freiwillig bei Seite gelegt, und mit wahrer Andacht hörten alle den Vorträgen ihrer Kameraden zu. Der oberbayerische Stamm ist sehr musikbegabt; viele Bauernburschen spielen Zither, ohne eine Note zu kennen; so genügte auch hier, nachdem die Instrumente angeschafft waren, eine billige Unterweisung, um das größte Vergnügen zu verursachen. Ein lustiger Tanz, von einem Schlosser- und einem Drechslerlehrling auf zwei Zithern flott gespielt, fand rauschenden Beifall, dann holte ein kleiner Kaminfeger seine Geige, ein Schriftsetzer die Klarinette, und dazu akkompagnirte auf der Guitarre der junge Lehrer einer hiesigen Schule, welcher nach sechs überlasteten Wochentagen aus edelster Menschenfreundlichkeit seine Erholungszeit dem Lehrlingshort widmet!
Es braucht kein weiteres Wort, um ein solches Unternehmen anzupreisen; jeder kann sich selbst sagen, vor welchen Gefahren bewahrt, um welche Güter bereichert die jungen Menschen abends um acht Uhr das ihnen so liebe Erholungslokal verlassen, mit der frohen Aussicht, nach abgethaner Arbeitswoche wiederkehren zu dürfen.
Jeder aber sollte auch trachten, in seinem Kreise, in seiner Stadt einen ähnlichen Lehrlingshort gründen zu helfen, denn es ist unzweifelhaft, daß nur solche Anstalten vermögen, die socialen Mißstände an der Wurzel anzugreifen. Dazu beizutragen ist patriotische Pflicht – die dankbaren und glücklichen Gesichter der armen Jungen zu betrachten aber ein so großes Vergnügen, daß darin allein schon reichliche Vergeltung für alle aufgewandten Opfer liegt.