Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer

Textdaten
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Autor: Georg Winter
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Titel: Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 522–524
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Johann Weyer und Hermann Wilken als erste Gegner von Hexenverfolgungen
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Der Hexenwahn und seine frühesten Bekämpfer.

Von Georg Winter.

So unzweifelhaft berechtigt der Satz ist, daß die Geschichte der Vergangenheit die beste Lehrmeisterin der Gegenwart sei, daß eine wahre und begründete Erkenntniß der Gegenwart nur aus einem eindringenden Studium der Geschichte erworben werden kann, so grundverfehlt wäre es, wollte man diesen Satz nun auch umgekehrt anwenden, mit den Anschauungen und Vorstellungen der Gegenwart an die Ereignisse der Vergangenheit herangehen und sie an diesem Maßstab messen. Jede geschichtliche Erscheinung muß vielmehr aus dem Geiste der Zeit, in der sie entstand, begriffen und wenn möglich erklärt werden. Mag jene Erscheinung nach unseren heutigen Begriffen und Vorstellungen sich als noch so unerklärbar darstellen, es muß versucht werden, sie aus dem Ganzen, von dem sie ein Theil ist, verständlich zu machen. In dieser Loslösung von den Anschauungen, in denen wir aufgewachsen sind, liegt die vornehmste Schwierigkeit einer vorurtheilslosen Beurtheilung vergangener Ereignisse und Zustände.

Ganz besonders schwer wird uns Kindern einer bildungs- und aufklärungsstolzen Zeit dieses Sichversenken in die Vorstellungswelt der Vergangenheit gegenüber den mannigfachen Erscheinungen, welche in dem Volksaberglauben ihre Wurzel haben. Wir sind gewohnt, mit einer Art von souveräner Verachtung auf die Reste des Aberglaubens, welche sich in manchen Kreisen unseres Volkes bis in die Gegenwart erhalten haben, herabzublicken, und vermögen uns nur schwer vorzustellen, daß diese Reste eben – Reste sind, Reste einer Zeit, in der das, was wir als Aberglaube mit voller Klarheit erkannt haben, sichere und hochgehaltene Ueberzeugung nicht bloß der niederen Schichten des Volkes, sondern der Gesamtheit desselben einschließlich seiner geistigen und sittlichen Führer gewesen ist. Daß wir aber diese Ueberbleibsel einer scheinbar längst überwundenen Zeit zuweilen doch wieder aufleben sehen, nicht nur in den niedersten Schichten, sondern in Kreisen, welche ihrer Stellung nach zu den geistigen Führern des Volkes gehören sollten, hat noch kürzlich mit erschreckender Deutlichkeit die vielbesprochene Teufelaustreibung gelehrt, welche ein katholischer Geistlicher mit einem angeblich besessenen Knaben vorgenommen hat. Wir kamen uns wie in eine andere Welt versetzt vor, als wir die Berichte darüber und über die gerichtlichen Verhandlungen, die sich an den berüchtigten Vorgang anschlossen, zu lesen bekamen. Gewiß ist dieses Vorkommniß ein beklagenswerther Anachronismus; zugleich zeigt es uns aber, wie schwer selbst durch die größten Fortschritte der Wissenschaft die Mächte der Finsterniß völlig zu überwinden sind. Und wenn solches noch in unserer aufgeklärten Zeit möglich ist, so sollten wir daraus Veranlassung nehmen, die verwandten Erscheinungen der Vergangenheit milder zu beurtheilen, als wir es gewöhnlich thun. Je mehr wir verpflichtet sind, solchen abgestorbenen Resten der Vergangenheit in der lebensfrohen Gegenwart mit allem Nachdruck entgegenzutreten, um so mehr können sie uns zugleich dazu dienen, die Vergangenheit selbst, aus der jene Reste stammen, leichter zu verstehen und uns klar zu machen, daß jene Erscheinungen des Aberglaubens in einer Zeit, in der die heutigen Fortschritte der Wissenschaft noch nicht gemacht waren, doch nicht so unerklärlich sind, wie uns das heutzutage auf den ersten Blick erscheinen will. Wir werden dann die Vergangenheit unbefangener und deshalb gerechter beurtheilen, indem wir bedenken, daß vielleicht dereinst auch vieles, was wir als unumstößliche Wahrheit erkannt zu haben glauben, von einer höheren wissenschaftlichen Erkenntniß ebenso als „Aberglauben“ betrachtet werden wird wie von uns so manche Erscheinung der Vergangenheit. Das Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntniß steht eben in umgekehrten Verhältniß zu der, wenn wir so sagen sollen, Rückwärtsentwicklung der abergläubischen Vorstellungen; je größer das erstere, um so kleiner das Gebiet, auf welchem sich die letzteren zu erhalten vermögen. Denn eben das, was die wissenschaftliche Erkenntniß nicht zu lösen und zu erklären vermag, fällt am leichtesten dem Aberglauben anheim. Je geringer die erstere, desto größer ist die Neigung, das Unerklärliche auf übersinnliche, übernatürliche Einflüsse zurückzuführen.

Diese Neigung ist es, der die furchtbare Erscheinung des Hexenwahnes vergangener Jahrhunderte, von der wir in jenem Wemdinger Vorgange ein plötzliches Wiederaufleuchten mit Verwunderung erlebt haben, ihre Entstehung verdankt. Die Zeitverhältnisse und selbst die wissenschaftlichen Bestrebungen der Epoche, in welcher der unglückliche Irrwahn entstand, waren ein mächtiges Förderungsmittel jener Neigung. Es war eine Zeit, in welcher die religiös-kirchlichen Fragen die Aufmerksamkeit und die geistige Arbeit so ausschließlich in Anspruch nahmen, daß es für die wissenschaftlichen Bestrebungen auf anderen Gebieten an Muße und Neigung fehlte. Denn nicht das als finster und abergläubisch verschrieene Mittelalter war es, das den Hexenwahn mit allen seinen furchtbaren Folgen hervorbrachte, vielmehr gerade die Zeit des Uebergangs vom Mittelalter zur Neuzeit, das vielgepriesene Jahrhundert des Humanismus und der Renaissance, das Jahrhundert des Zusammenbruchs der alten und der Begründung einer neuen Kirche. Nicht in den Zeiten allgemeinen geistigen Niedergangs trat der unglückselige Wahn auf, vielmehr trieb er gerade seine traurigsten Blüthen, als das geistige Leben durch die Wiedererweckung des klassischen Alterthums, das kirchlich-religiöse Leben durch Martin Luther besonders kräftige und nachhaltige Triebe erhielt. In derselben Zeit, in welcher eine begeisterte Schar geistig hochbedeutender Männer die humanistischen Studien mit schwärmerischem Eifer betrieb, in welcher Kunst und Wissenschaft eine glänzende Entwicklung nahmen, flammten die Scheiterhaufen der unglücklichen Opfer eines grausigen Wahns in Deutschland auf. Schier unbegreiflich scheint uns dieser Widerspruch, dieses Nebeneinander einer hohen geistigen Kultur und eines furchtbaren und in seinen Folgen verhängnißvollen Aberglaubens. Aber eben in der Einseitigkeit dieser hohen Kultur liegt die Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs. Eben weil die führenden Geister der Nation sich immer ausschließlicher den außerweltlichen Fragen zuwandten, verloren sie die Grundlagen der Erkenntniß der materiellen, sinnlichen Welt fast gänzlich aus den Augen; in übersinnliche Fragen vertieft, waren sie geneigt, auch in den Vorkommnissen des täglichen Lebens ein beständiges Eingreifen und Walten übersinnlicher Mächte und Kräfte anzunehmen. Wer wüßte nicht, wie sehr Luther selbst in den Stürmen seiner Gewissenskämpfe von der leibhaftigen Existenz und unheilvollen Wirksamkeit des Satans überzeugt war! Wie er trotz der Höhe seiner sittlichen Weltanschauung die Anfechtungen des bösen Prinzips, mit denen er zu kämpfen hatte, nicht auf innere Vorgänge des Geistes- und Seelenlebens, sondern auf unmittelbare Einwirkungen des Satans zurückzuführen geneigt war, so herrschte in jener Zeit höchster religiöser Erregung ganz allgemein die Vorstellung vor, daß besonders schwere und auffallende Unglücksfälle, für die man keine Erklärung fand, auf unmittelbare Einflüsse des Teufels zurückzuführen seien. Von dieser Anschauung aber zu der anderen, daß sich der Teufel zu diesen Einwirkungen bestimmter mit ihm im Bunde befindlicher Menschen bediene, war nur noch ein kleiner Schritt.

[523] Wohl hat es anfangs in dem Lande, welches der Einführung der kirchlichen Inquisition allezeit zähen Widerstand entgegensetzte, nicht an ruhig denkenden Männern gefehlt, welche auch dem Zauberer- und Hexenwesen mit ihren Zweifeln entgegentraten, aber ihre vereinzelten und nur gelegentlich laut werdenden Stimmen verhallten in dem Sturme der leidenschaftlichen Erregung, der das für abergläubische Vorstellungen leicht zugängliche Volk beherrschte. Und als dann gar der eifrig gehegte Wahn in einem im Auftrage des Papstthums verfaßten Buche, dem berüchtigten „Hexenhammer“, eine genaue Formulierung und mit grausamer Folgerichtigkeit durchgeführte Behandlung erfahren hatte, die mit peinlichster Genauigkeit alle die schrecklichen Vergehungen der Zauberer und Hexen in das hellste und verderblichste Licht stellte, da hatte die Sache eine so feste und für jeden „gläubigen“ Christen bindende Gestalt angenommen, daß selbst der Sturm religiöser Reinigung, den die Reformation anfachte, nichts dagegen auszurichten vermochte. Und wie hätte er es auch sollen? Konnten sich doch, wie angedeutet, die Reformatoren selbst vor dem Wahne, den man wohl als eine „Krankheit“ jener Zeit bezeichnet hat, nicht befreien! Mochte der dogmatische Gegensatz zwischen den Anhängern der neuen und der alten Lehre sich auch im Laufe der Entwicklung immer schroffer und schroffer gestalten, in diesem [e]inen Punkte waren die feindlichen Parteien vollkommen einig. Die Hexe wurde verbrannt, gleichviel, ob ihre Richter Protestanten oder Katholiken waren. Je tiefer aber der Wahn sich in dem allgemeinen Bewußtsein des Volkes festsetzte, um so schwieriger wurde es, gegen denselben anzukämpfen, weil jeder, der es wagte, gegen den gewaltigen Strom zu schwimmen, alsbald selbst in den Verdacht kam, mit den Zauberern und Hexen im Bunde zu stehen, oder gar selbst zu ihnen zu gehören. So gewann der Wahn immer unbeschränktere und freiere Bahn, seine verderbliche Wirkung in allen Gauen des deutschen Vaterlandes zu entfalten. Erst die neuere geschichtliche Forschung, die sich mit Eifer dieser ebenso traurigen wie fesselnden Erscheinung der Vergangenheit zuwandte, hat uns von dem Umfange, den die furchtbaren Verfolgungen der Hexen und Zauberer auf dem Höhepunkte ihrer Entwicklung angenommen haben, eine einigermaßen erschöpfende Vorstellung gegeben und gezeigt, daß in der That fast unzählbare Unglückliche in den Flammen des Scheiterhaufens einen qualvollen Martertod gefunden haben. Man stellte fest, daß allein in Genf in drei Monaten 300 Personen, in Quedlinburg im Jahre 1599 an einem Tage 133, in Bamberg und Würzburg in wenigen Jahren 900 Personen hingerichtet wurden!

Ueber viele der Prozesse, welche zu diesen Hinrichtungen führten, besitzen wir nicht nur kurze geschichtliche Angaben, sondern die vollständigen Prozeßakten, welche mit aller wünschenswerthen Genauigkeit über Einleitung und Verfahren der haarsträubenden Justiz, welcher die Unglücklichen unterworfen wurden, Aufschluß geben. Denn alles bewegte sich in scheinbar völlig geregelten und geordneten Bahnen. An dem Dasein von Hexen und Zauberern, an der Wahrheit der gegen sie vorgebrachten Beschuldigungen zweifelten die Richter ebenso wenig wie das übrige Volk. Mit größtem Erstaunen findet man in den Prozeßakten die genauesten Angaben über alle die Dinge, welche man den Angeklagten schuld gab und die thatsächlich natürlich niemals geschehen sein können. Die Aussagen der Zeugen beschränken sich nicht etwa darauf, festzustellen, daß der oder die Angeklagte ein Zauberer oder eine Hexe sei; sie berichten vielmehr mit der größten Ausführlichkeit, wie die Hexe durch den Schornstein gefahren, wie sie auf einem Besen durch die Luft geritten sei, wie sie im Verein mit dem Teufel und anderen Hexen die abscheulichsten Orgien gefeiert habe u. dgl. m. Gerade diese eingehenden Aussagen mußten der Forschung natürlich als das Unbegreiflichste erscheinen, ebenso unbegreiflich wie die Thatsache, daß die Richter auf eine bloße Denunziation hin einschritten und noch dazu dem Angeber volle Geheimhaltung zusicherten. Anfangs versuchte man sich diese Sachlage aus zwei Ursachen zu erklären: einmal aus dem Streben der Kirche, sich unbequemer Ketzer, welchen man nach dem siegreichen Durchdringen der kirchlichen Reformation des 16. Jahrhunderts nicht mehr wegen ihrer religiösen Ueberzeugungen beikommen konnte, durch die populärere Anklage der Hexerei und Zauberei zu entledigen, welche auch bei den Protestanten gläubiges und williges Gehör fand; dann aber aus der Habsucht der Angeber und Richter, welche dadurch angeregt wurde, daß das Vermögen der Verurtheilten in Beschlag genommen wurde und zu einem nicht unbedeutenden Theile jenen zufiel. Für das häufige Vorkommen des letzteren Beweggrundes schien namentlich der Umstand zu sprechen, daß die Veurtheilten zumeist nicht den völlig unbemittelten, sondern den wohlhabenderen Schichten des Volkes angehörten.

Aber es liegt auf der Hand, daß diese Gründe doch nur in vereinzelten Ausnahmefällen zur Erklärung dienen konnten, man hätte denn eben alle Angeber und Richter, die während dreier Jahrhunderte in diesen traurigen Prozessen eine Rolle gespielt haben, für bewußte und schurkische Betrüger erklären müssen. Völlig unerklärlich aber blieb auch in jenen Fällen, in denen man betrügerische Beweggründe annehmen zu dürfen glaubte, die Thatsache, daß die Angeklagten selbst alle das, was man ihnen vorwarf, zugaben und die eingehendsten Geständnisse über ihren Verkehr mit dem Teufel ablegten, welche uns unendlich komisch anmuthen würden, wenn sie nicht so entsetzlich traurig wären.

Gerade über diese letzte scheinbar unverständlichste Frage kam dann freilich die kritische Forschung unserer Tage am schnellsten ins klare, je umfassender das Material wurde, welches in ihren Gesichtskreis trat, und je mehr sie infolgedessen aus den vielen einzelnen Fällen das System erkennen konnte, nach welchem hierbei verfahren wurde. Man fand da in den Prozeßakten, daß die „Geständnisse“ der Angeklagten nicht die während des Verhörs aufgezeichneten Berichte über ihre „Hexerei“ nach deren eigenen freiwilligen Erzählungen enthielten, daß der Inhalt der einzelnen Aussagen vielmehr bereits vor dem Beginn des Verfahrens aufgezeichnet war und dann von dem Angeschuldigten nur durch ein „Ja“ als wahr bezeichnet wurde. Dieses „Ja“ aber erfolgte nicht freiwillig, sondern in fast allen Prozessen erst nach Anwendung der Folterwerkzeuge mit allen ihren endlosen Qualen, mit deren Schilderung wir den Leser nicht ermüden wollen. Wer in unseren Museen und Alterthumssammlungen sich einmal eine klare Vorstellung von den namenlosen Martern gemacht hat, welche diese Werkzeuge, die schrecklichsten Ausgeburten der erfinderischen menschlichen Grausamkeit, den armen Opfern auferlegten, der wird es begreiflich finden, daß die Angeklagten nach dem zweiten oder dritten Grade der Folter, schon mehr tot als lebendig, zu jedem Geständnisse bereit waren, wiewohl sie mit Bestimmtheit wußten, daß ein Geständniß den Tod auf dem Scheiterhaufen zur Folge hatte. Selbst dieser Tod mußte ihnen als eine Erlösung erscheinen gegenüber den namenlosen Qualen der Folter.

Sobald man also über die Art, wie jene Selbstgeständnisse zustande kamen, im klaren ist, schwinden diese aus der Reihe der psychologischen Räthsel; nur die genauen Angaben der Denunzianten bez. Zeugen, unter denen merkwürdig oft auch unmündige Kinder vorkommen, stellen der Erklärung noch immer fast unübersteigliche Hindernisse entgegen. Man kann nur annehmen, daß ein dem Wahnsinn ähnlicher Fanatismus ihre Phantasie so fruchtbar gemacht habe, oder daß sie von religiösen Fanatikern als Werkzeuge benutzt worden seien. Und in der That ist diese einzig mögliche Erklärung auch die richtige, d. h. also, eine große Anzahl der Fälle wird in das Gebiet der geistigen Störungen zu verweisen sein, ähnlich wie die verwandten Erscheinungen des religiösen Fanatismus im Mittelalter, Tanzwuth u. a. m., von denen sich der Hexenwahn des 15. bis 18. Jahrhunderts nur durch die ungleich größere Ausdehnung und die ungleich größere Zahl seiner unglücklichen Opfer unterscheidet.

Vor allem aber muß die lange Zeitdauer, in welcher sich der unselige Irrwahn erhielt, befremden, muß es befremden, daß selbst das Jahrhundert der Aufklärung nur langsam und allmählich den unheimlichen Gast zu verdrängen vermochte. Ja, die Ereignisse der letzten Zeit haben uns gelehrt, daß er heute noch nicht einmal aus unserem eigenen Vaterland verschwunden ist. Kaum vermag man sich es heute noch vorzustellen, daß es noch nicht viel über ein Jahrhundert her ist, daß die letzte Hexenverbrennung in Würzburg stattgefunden hat (1769), welche dann noch am Ende des 18. Jahrhunderts ein trauriges Nachspiel in Polen fand. Um so wunderbarer muß das erscheinen, als es doch schon in der Zeit, in welcher der Hexenwahn in seiner höchsten Blüthe stand, nicht an vereinzelten Stimmen gefehlt hat, welche sich, nicht zwar gegen die Möglichkeit von Zauberern und Hexen überhaupt, wohl aber gegen deren grausame Verhetzung und Hinrichtung nachdrücklich ausgesprochen haben. Ihre Stimmen verhallten wie die des Predigers in der Wüste; trotz des kräftigen und von echt menschenfreundlicher Begeisterung getragenen Einspruches, der von ihnen [524] erhoben wurde, flammten die Scheiterhaufen weiter. Wir Nachlebenden aber, die wir mit unsagbarem Mitleid auf die Opfer einer wahnsinnigen Justiz zurückblicken, schulden doch jenen Männern, welche, wenn auch zunächst noch erfolglos, es wagten, dem fanatischen Treiben entgegenzutreten, Dank und Anerkennung.

Bis vor kurzer Zeit hat man als denjenigen, dem dieses große und weltgeschichtliche Verdienst zukomme, zumeist den Jesuiten Friedrich von Spee bezeichnet. Und in der That gebührt Ruhm und Anerkennung im höchsten Maße diesem Manne, der, in den Gesinnungen eines wie kein zweiter der kirchlichen Autorität ergebenen Ordens aufgewachsen, gleichwohl den Muth fand, einer von allen kirchlichen Autoritäten in gleicher Weise getragenen Verirrung entgegenzutreten. Aber die Ehre, der erste in diesem geistigen Kampfe, der nach seinem Tode noch über ein Jahrhundert vergeblich weiter gekämpft wurde, gewesen zu sein, kann ihm nach den neuesten Forschungen nicht mehr zuerkannt werden. Vielmehr ist man durch die verdienstlichen Forschungen eines Mediziners, des Bonner Professors Binz, auf zwei Vorkämpfer gegen den Hexenwahn aufmerksam geworden, welche erheblich vor Spee den gefährlichen Kampf gegen jenen Irrwahn aufgenommen haben: es sind das der niederrheinische Arzt Johann Weyer (geb. 1515 oder 1516) und der Heidelberger Professor der Mathematik Hermann Wittekind (Pseudonym Augustin Lercheiner, geb. 1522).[1]

Wie sehr der Hexenwahn in der Zeit seines Auftretens alle Geister, auch die erleuchtetsten und mildest denkenden, beherrschte, geht am klarsten daraus hervor, daß die genannten beiden Männer, welche zuerst mit unerschrockenem Muthe der grausamen Justiz entgegentraten, doch das Dasein von Hexen und Zauberern selbst nicht zu leugnen wagten, vielmehr in dem theologischen Glauben an den „Herrscher der Finsterniß“ vollkommen Kinder ihrer Zeit waren. Auch die Gründe, welche sie gegen die Verbrennung der Hexen geltend machen, entstammen keineswegs ausschließlich allgemeiner Menschenfreundlichkeit, bewegen sich vielmehr im wesentlichen auf dem Boden ihrer Gegner, d. h. sie sind in der Hauptsache nicht naturwissenschaftlicher, sondern theologischer Natur. „Der Teufel kann nichts ohne die Zustimmung Gottes“, das ist der Satz, den Weyer in seinem 1563 erschienenen epochemachenden Werke über das Hexenwesen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Damit ist der Teufel selbst unbedingt zugegeben und nur seine unmittelbare praktische Einwirkung auf das Thun der Menschen bestritten. Wie wollte man, so sagt Weyer, mit der Güte und Allmacht Gottes die Meinung vereinbaren, daß kindisch gewordene alte Weiber, welche man Hexen oder Zaubrerinnen nennt, Menschen und Thieren Böses anthun könnten? Dieser Wahn habe, so fährt er fort, mehr Unheil über die Christenheit gebracht als alle die vielfachen religiösen Streitigkeiten und Parteiungen. Und mit bitterer und inniger Klage ruft er aus: „Fast alle Theologen schweigen zu dieser Gottlosigkeit, die Aerzte dulden sie, die Juristen behandeln sie, in alten Vorurtheilen befangen: wohin ich auch höre, niemand, niemand, der aus Erbarmen mit der Menschheit das Labyrinth uns öffnet oder die Hand zum Heilen der tödlichen Wunde erhebt.“

Die logische Folgerung aus dieser Anschauung wäre nun offenbar gewesen, daß Weyer, seiner Zeit um volle zwei Jahrhunderte vorauseilend, das Vorkommen von Hexen schlechthin hätte leugnen und demgemäß jedes gerichtliche Verfahren gegen sie hätte verwerfen müssen. Soweit ist aber weder Johann Weyer gegangen noch sein unmittelbarer Nachfolger auf diesem Gebiet, Hermann Wittekind, der im Jahre 1585 mit einem Werke ähnlichen Inhalts an die Oeffentlichkeit trat. Aber sehr weit davon entfernt ist namentlich Weyer nicht geblieben, während Wittekind sich noch in höherem Grade von der allgemeinen Volksanschauung abhängig zeigt. Die Zugeständnisse, die der erstere dem Zeitgeist macht, sind nicht sehr erheblich. Das wirkliche Vorhandensein von Hexen, welche mit dem Teufel in Verbindung stehen und von diesem die Fähigkeit erlangen, alle möglichen und unmöglichen übernatürlichen Frevelthaten zu begehen, leugnet er fast völlig, dagegen giebt er die Möglichkeit einer auf Verblendung durch den Teufel beruhenden Selbsttäuschung zu, auf Grund deren gewisse Personen sich einbilden, übernatürliche Kräfte zu besitzen und dieselben zum Vortheil oder Nachtheil ihrer Mitmenschen ausüben zu können. Diese Selbsttäuschungen aber ist er in den meisten Fällen auf Störungen der leiblichen Gesundheit zurückzuführen geneigt. An manchen Stellen ist er geradezu der Ansicht moderner Naturforscher und Aerzte, die in der ganzen Bewegung in erster Linie eine geistige Störung sehen wollen, sehr nahe gekommen. Die einzelnen Beispiele aus seiner eigenen langjährigen Erfahrung, die er in seine Erörterungen einflicht, sind zuweilen außerordentlich charakteristisch und nicht selten von drastischer Derbheit. Sie bieten sehr bezeichnende Bilder aus dem Kulturleben seiner Zeit. Hie und da behandelt er den Aberglauben, welcher in den von ihm berichteten Fällen zu Tage tritt, mit offenbarem Spott, den man bei Wittekind nie oder nur selten begegnet. Worin sie aber beide einig sind, das ist der heilige Eifer und die sittliche Entrüstung, mit denen sie gegen die grausame Behandlung vorgehen, die man diesen Unglücklichen bereitete. So verlangt Weyer, daß die Zauberei nur dann bestraft werden solle, wenn sie einen wirklich nachweisbaren Schaden gestiftet habe. Im übrigen solle man die alten Mütterchen, die sich behext oder besessen wähnen, im Glauben unterrichten, nicht aber in den Thurm werfen oder gar verbrennen. Hauptsächlich sei bei allen Prozessen wegen Hexerei und Zauberei ein tüchtiger Arzt zuzuziehen, der untersuchen möge, ob es sich nicht um Geistesverwirrung oder um Giftmischerei handle; denn nirgendwo hätten mehr als hier menschliche Leidenschaften ein freies Feld: Aberglauben, Aufregung, Haß und Tücke.

Wir sagten schon, daß das um 20 Jahre spätere Buch Wittekinds, welches sich in vielen Hauptpunkten auf das Weyersche stützt, do[c]h in manchen Einzelheiten weit mehr als jenes dem Aberglauben der Zeit seinen Zoll entrichtet. Von den vielen, hie und da anekdotenhaft eingestreuten Erzählungen, die das Buch enthält, sind manche so sehr vom Geist der Zeit erfüllt, daß man sich wundert, wenn der Verfasser dann doch sich gegen eine Verfolgung der von ihm selbst als wirklich geschehen bezeichneten Dinge erklärt. Wie tief seine Befangenheit in den Anschauungen seiner Zeit geht, sieht man u. a. daraus, daß er eine Geheimschrift des Abtes von Sponheim, von welcher er erfährt, sich nicht anders als durch Einwirkung des Teufels zu erklären vermag und selbst ein harmloses Kartenkunststück eines Taschenspielers auf übernatürliche Einwirkungen zurückführt. Unter den zahlreichen Geschichtchen von allerhand Zaubereien, die er als vollkommen wahr, weil durch gute Zeugen überliefert, hinnimmt, befindet sich auch eine ganze Reihe solcher, die von dem sagenhaften Doktor Faust erzählt wurden. Wir stoßen da u. a. auf jene von Goethe verwerthete und nach Auerbachs Keller zu Leipzig verlegte Erzählung von den aus einem Tische hervorwachsenden Weinreben; auch der geheimnißvolle zauberische Pudel spielt eine Rolle.

Man wird den Schriften der beiden wackeren Männer eine geradezu weltgeschichtliche Bedeutung zuerkennen dürfen, weil sie zum ersten Male einen umfassenden und planmäßigen Angriff auf einen Wahn unternahmen, der in seinen unsinnigen Folgen ein fast unabsehbares Unglück für die Welt gewesen ist. Zum ersten Male erscheint in ihren Werken nicht eine gelegentliche Mahnung zur Milde und Vorsicht in dem Verfahren gegen die Hexen, sondern eine grundsätzliche Verwerfung des Prinzips, auf dem die Hexenprozesse beruhten. In die scheinbar unüberwindliche Feste eines verhängnißvollen Irrthums ist durch sie zum ersten Male eine deutlich erkennbare Bresche gelegt worden, die durch die gewaltigen Stöße, die der Bau später durch Spee und seine Nachfolger erlitt, allgemach vergrößert werden konnte. Zunächst freilich flammten noch zwei Jahrhunderte lang nach wie vor Tausende von Scheiterhaufen um die Opfer des unseligen Irrwahns. Die Nachwelt aber ist darum nicht weniger verpflichtet, das Andenken der beiden Männer in Ehren zu halten, die zuerst mit heiligem Eifer die Wahrheit der Lüge und dem Irrthum entgegenzuhalten und dem wüthenden Hasse der Mehrheit ihrer Zeitgenossen zu trotzen wagten. Die Geschichte der menschlichen Kultur und Gesittung ist mit den bis vor kurzer Zeit so gut wie völlig verschollenen Namen der beiden edlen Menschenfreunde um so mehr untrennbar verbunden, als alle die, die nach ihnen den Kampf aufnahmen und endlich doch zum Siege durchkämpften, auf den Schultern jener beiden standen, indem sie sich aller der von jenen zuerst aufgestellten Beweisgründe bedienten.




  1. Vergl. die beiden vortrefflichen Werke von Carl Binz über Johann Weyer und Hermann Wittekind (Augustin Lercheiner), deren erstes 1885 in Bonn, deren zweites 1888 in Straßburg erschienen ist. Beide enthalten zugleich neue Ausgaben der Schriften Weyers und Wittekinds gegen das Hexenwesen.