Der Geist Samuels des Propheten
In den Kindheitsjahren der Zauberkunst, zu einer Zeit, da statt trüglicher Gestalten diese ausgeartete Tochter der menschlichen Vorhersehungskraft nur erst dumpfe Stimmen hervorzubringen gelernt hatte, glaubte einer der alten königlichen Geisterseher eine drohende Stimme vom Geiste Samuels gehört zu haben. Von diesem Augenblicke an verfolgt ihn Entsetzen und Verzweiflung, bis er sich in sein Schwert stürzte, und den unversöhnlichen Manen des Demagogen endlich noch mit seinem Blute ein Opfer brachte.
[95] Und wer erschrickt nicht noch jetzt, wenn Samuels Geist in dem Spiegel der Geschichte ohne blendenden Heiligenschein sich vor dem unbefangenen Forscher zu zeigen vorgefordert wird. Und doch hat dieser furchtbare Charakter zugleich so manche Erhabenheit über sein Zeitalter, so viel festes und entschlossenes, so viele Gewandtheit im Benutzen des Augenblicks, ja selbst eine gewisse Größe in der planmäßigen Verkettung seines Eigennutzes mit dem Glück und der Erhebung seiner Nation, daß seine Erscheinung mehr als vieles andere der jüdischen Volksgeschichte, mehr als die Schwächen gutmüthiger Schwärmer zu psychologischer Betrachtung anziehend wird.
Wir wollen diesen Schatten so lange festzuhalten suchen, als zu einer Skitze von einem solchen Prophetengeist nöthig seyn möchte, welchen einige, vorzüglich Morgan in the moral. philosopher ohne hinreichende Kenntniß der Zeitumstände, allzu schlimm geschildert, andere fast noch [96] schlimmer vertheidigt haben. Lassen wir doch einem Mann von Kraft, auch wenn er sie oft selbstsüchtig mißbrauchte, Gerechtigkeit wiederfahren! Als ein aus der Niedrigkeit durch sich selbst früh emporstrebender, ungemeiner Mensch ist er, auch wenn er uns mit Entsetzen füllt, doch weit mehr, als wenn wir ihn in das geduldige Sprachrohr eines unbekannten übermächtigen Wesens verwandelten.
Das erstemal, da Samuel als Organ des Jehova spricht, wirkt er Entsetzen.
Der Oberpriester der Israeliten, damals zugleich die höchste Gerichtsperson über dies Volk, hatte Samuel noch als Knabe nach den Bitten und Gelübden seiner Mutter in die Zeltwohnung des Jehova unter die Layenbrüder, welche den Priestern bey ihrem heiligen Schlachtamt zur Hülfe seyn durften, zur Erziehung aufgenommen. An seinen eigenen Söhnen erlebte dieser Oberpriester, Eli, nicht die Freude, daß sie den Versuchungen zur Volksbedrückung [97] welche von jeher unter allen Himmelsstrichen bey jeder Priestergewalt so groß gewesen sind, glücklich widerstanden hätten. Sie hörten nicht auf, das Volk zu mißhandeln, über das ansehnliche Priesterkontingent von den Festspeisen, mit welchen sich die Leute einen guten Tag machen wollten, das Beste für sich und ihr Haus zu erpressen und besonders auch die Tempeldienerinnen erfahren zu lassen, daß der Priesterornat auch in so alten Zeiten schon ein sehr unsicherer Panzer gegen die unter ihn selbst sich verkriechende Lüsternheit sey. Auch als Obervolksrichter hatte Eli wenige Mittel gegen diese Frevel in der Hand, und diese entwand ihm das Alter und der Vaterblick auf Söhne, die er durch Warnungen noch zu bessern hoffte. Gewaltsamere Anstalten gegen sie, wenn je solche gegen gebohrne Nachfolger des Oberpriesters möglich waren, mußten wenigstens das Oberpriesterliche Amt selbst vor dem Volk in Gefahr zu setzen scheinen. Wie oft ist nicht schon zur Schonung des Standes ein Bösewicht mitunter geduldet [98] worden? Und wie mancher hat nicht durch späte Reue, oder auch nur durch später erworbene schlaue Behutsamkeit eine Schonung zu rechtfertigen geschienen?
Zum Glück war unter den Althebräern, selbst von der Mosaischen Constitution geschützt, eine geheime, oft nützliche, vielleicht aber eben so oft schädliche Hülfe gegen Priestergewalt und Richterunrecht – die Stimme der Propheten. Trat irgend einer vom Volke mit Ermahnungen, Warnungen und Drohungen auf, und wußte er diese für seine Zeitgenossen einleuchtend und herzerschütternd zu machen, so war er, der begeisterte Eiferer für „Gottessache“ auch der Obrigkeit, wenn sie nicht den Fluch der Tyranney auf sich laden wollte, unverletzlich, so lange er nur von dem ersten Grundgesetz des Mosaisch-Israelitischen Staats: der unsichtbare Beherrscher des Volkes ist Jehova! nicht abwich. Der Zusatz: daß der Prophet auch nicht mehr sagen müsse als Jehova ihm befohlen hätte, war dabey ganz natürlich, aber er blieb dabey über alle Prüfung anderer erhaben [99] und selbst wo er von zukünftigen Dingen sprach, sezte ihn die kleine Behutsamkeit, blos bedingungsweise Gutes oder Böses zu verkündigen, ausser aller Verantwortung. 5. B. Mos. 18, 14–22, Ierem. 28, 8. Ueber die Quelle seiner Begeisterung hatte jeder aufgestandene Prophet, wenn er nur dies beobachtete, sich nicht zu rechtfertigen. Nur wenn er von zukünftigen Dingen etwas bestimmt vorher zu sagen gewagt hatte, und dieses zum Unglück nicht eintraf, sollte Jehova’s Ansehen durch seine Unklugheit nicht compromittirt seyn. Man sollte sich nicht Furcht vor ihm zurückhalten lassen, ihn zur Strafe zu ziehen. Die ganze Israelitische Geschichte aber giebt von einer solchen Bestrafung kein Beyspiel.
Ein solcher constitutioneller Schutz wider öffentliche Gewalt, und auf der andern Seite der große Reitz, sich unter dem Volk wichtig zu machen, durch einige Beredsamkeit zu glänzen, oft wohl auch die gute Meynung, nach dem Maas seiner Einsichten, der Nation patriotisch zu nützen, [100] brachte nach Mose’s Zeit in allen Perioden der althebräischen Geschichte eine Menge Propheten hervor. In den späteren Lebensjahren Samuels finden wir Spuren, daß manche schon in Gesellschaften zusammengetreten sind, und andere, welche Prophetenschüler genannt werden, von Jugend auf sich die äusserliche Fertigkeiten, wodurch sie auf das Volk würken konnten, gewisse Arten von betäubender Musik, die Geschicklichkeit, dieselbe mit änigmatischen Gesängen aus dem Stegreif zu begleiten, vieles den Zuschauern erstaunenswürdige Gesticulieren und andere Kunststücke mehr unter Anführung älterer Propheten, wie in einer Schule, zu erlernen. Was solche Leute in Gesellschaften vereint zu würken vermochten, ist aus der Analogie zu vermuthen. Wir werden aber später von Samuels Geist selbst noch zu historischen Entdeckungen darüber hingeleitet werden. Die kleine Bemerkung kann uns indeß nicht leicht entgehen, daß also, was zum Propheten gehörte, damalen gelehrt und erlernt werden konnte, und daß diese [101] Prophetenauftritte nicht erst ein Werk Samuels, nicht einmal eine Stiftung Mose’s waren, sondern von diesem selbst schon vorausgesetzt und zum Gegendruck gegen den Despotismus von Fürsten oder Priestern in seinem Verfassungsplan genutzt worden.
Da also in der Jugendzeit Samuels gegen die Gewaltthaten der jungen Priestern und Volksrichter die Stimme des alternden Vaters zu schwach, da durch äussere Unterdrückungen und durch Mangel an Gemeingeist die Stimme eines patriotischen Volksvereins unhörbar und verächtlich worden war, da die Priestergewalt jetzt von dem Vermögen des armen Volks noch den letzten dürftigen Rest zu verschlingen drohte, den die Streitereien der benachbarten Philistäischen Krieger etwa noch übrig ließen, so fängt der Prophetengeist an, dem allzuharten Druck sich entgegen zu stemmen. Die Propheten waren mehrentheils aus dem Volke selbst; oft würkten sie, nur auf andere Art, was das Veto der Volkstribunen zu Rom für das Volk leistete. [102] In der Folge schadeten sie auch nicht selten beynahe so viel als unruhigere Köpfe unter diesen schaden konnten und würklich geschadet haben.
Ein ungenannter Mann Gottes (Prophet) trat mit der Freymüthigkeit, welche ihm alle die angeführten Umstände möglich machten, vor den Oberpriester und Oberrichter, Eli, und bedrohte ihn mit der gewissen Erwartung der Nation, daß ihr unsichtbarer König, Jehova, in seinem Volke die höchsten Staatsämter nicht lange in den Händen solcher Verwalter, wie seine Söhne seyen, dem Mißbrauch überlassen würde. Glaubte der Sprecher des Volks an eine göttliche Vorsehung unter jener, den Völkern der alten Welt gewöhnlichen Voraussetzung, daß dieselbe in besonderem Grade für seine Nation sich interessire, so ist nichts begreiflicher, als diese Hoffnungen von Rettung der Nation aus den Händen einheimischer Unterdrücker. Zur Zeit des Annalisten aber, welcher uns Samuels Geschichte aufbehalten hat, waren längst über Eli und seine [103] Familie so viele Unglücksfälle gekommen, daß es nun diesem Erzähler nichts anders als nothwendige Deutung dessen, was der alte Prophet im allgemeinen gesagt haben mochte, zu seyn schien, wenn er alles, was würklich bis dahin fatales geschehen war, sogleich mit allen Umständen in dem alten Prophetenspruch selbst ausdrükte und zum voraus in denselben mit der besten Meinung hineinlegte.
Der Mann Gottes und des Volks hatte als Patriot seine Pflicht gethan. Aber nun ergreift der Jüngling Samuel eine Rolle, welche gegen den würdigen Prophetencharakter allzu abstechend auffällt.
Da ihn in einer der folgenden Nächte als Diener die Reihe der heiligen Wache trift, so kommt er zum zweyten und drittenmal mitten in der Nacht zum Oberpriester Eli mit der Anzeige gelaufen, daß eine unbekannte Stimme im Heiligthum ihm namentlich rufe. Mit sonderbarem Diensteifer fragt er das zweytemal wie zuerst: [104] ob Eli ihm gerufen habe? Dieser wußte nichts davon. Endlich ist der gutmüthige Oberpriester selbst auf den Gedanken gebracht: daß die Stimme eine Aeußerung des Jehova seyn könnte. Der gute Alte giebt Samuel die Weisung, der Stimme, wenn sie wieder sich hören lassen würde, entgegen zu rufen: daß er mit der folgsamsten Aufmerksamkeit den Herrn zu hören bereit sey. Dies ist nun für Samuel genug. Eli ist vorbereitet.
Am folgenden Morgen hat der schlaue Jüngling nichts mehr hinzuzuthun, als daß er dem neugierigen Greiß auszuweichen und eine besondere Unterredung mit ihm zu vermeiden den Schein annimmt.
Eli, nachdem er umsonst auf den in seinen Aufwartungen sonst so emsigen Layenbruder gewartet hatte, läßt endlich Samuel rufen. Schon setzt er selbst voraus, daß die Gottheit mit Samuel gesprochen haben werde. Des Propheten Drohungen schallen ihm selbst noch in den [105] Ohren. Er fürchtet auch hier etwas schlimmes zu hören. Aber auch das schlimmste will man doch lieber gewiß wissen als zweifelnd erwarten. Samuel läßt sich beschwören, die Wahrheit, es sey auch was es wolle, zu entdecken. Und während ihn nun der alte gute Vater mit dem zärtlichen Nahmen: Mein Sohn, immer noch Zutrauen und Muth einflößen zu müssen glaubt, schüttet Samuel dem Greis das vollste Maas banger Erwartungen in die Seele, von welchen er selbst voraus sah, daß jedem, der sie hörte, „davon beyde Ohren klingen würden.“ „Jetzt werde ich, (so hatte Jehova – nach Samuel – gesprochen) „was ich von Eli’s Familie habe sagen lassen, ganz über Eli ausbrechen lassen. Ich will mich auf lange Zeiten hin als Richter gegen sein Haus zeigen; denn er wußte, daß seine Söhne, ihm ins Gesicht, ihn für nichts achten. Deswegen“ – so drückt Samuel den Dolch völlig in die Brust des alten Vaters – „deswegen habe ich gegen Eli’s Familie geschworen, daß auf lange Zeiten hin weder Schlachtopfer [106] noch Weihegeschenke ihre Vergehungen versöhnen sollen.“
Mir ist es, wie wenn ich hier Franz Moor neben dem Lehnstuhl seines durch Kummer und Alter niedergebeugten Vaters hinterrücks stehend sähe: „Laßt mich, Vater, ich will zu gelegener Zeit zu euch reden. Diese Zeitung ist nicht für einen zerbrechlichen Körper.“ – Er tritt einen Schritt näher zum zitternden Vater hin: „wir alle würden noch heute die Haare ausraufen über eurem Sarge.“ – Und nun drückt er dem Niedergesunkenen alle Pfeile recht langsam, recht an der tödtlichsten Stelle, ins Herz, bis auf den Scorpionenstich: „Vielleicht könnt ihr noch selbst, ehe ihr zu Grabe geht, eine Wallfahrt zu dem Monumente thun, das euer Sohn, Carl, sich zwischen Himmel und Erden errichtet.
Wäre Eli der verworfenste Mann unter der Sonne gewesen, hätte er seine Söhne nicht nur nie gewarnet, wäre er selbst ihr [107] Zeuge und Mitschuldiger, ihr Erzieher zu Unthaten gewesen, so würde er alsdann kaum die Quaal verdient haben, gerade aus dem Munde eines kindlich erzogenen Lieblings, eines Jünglings, welcher alles, was er war, ihm zu danken hatte, jene schreckenvolle Erwartungen anhören zu müssen. Denn solche Drohungen von zahllosem Unglück sind peinigender als all der kommende Jammer selbst. Aber Eli hatte höchstens durch Nachgiebigkeit gegen seine Söhne, so lange sie noch jünger gewesen waren, gefehlt. Jetzt waren nicht einmal Drohungen von aussen nöthig, um zu bewirken, daß er sie zum Besten des Volks ermahnte, und von ihrem Leichtsinn, vom Mißbrauch ihrer Richtergewalt, von Entheiligung der Priesterwürde abmahnte. Er that alles dies, wie die Geschichte sagt, von selbst; leider! ohne Erfolg. Und wenn Drohungen je noch etwas wirken sollten, so hatte der prophetische Patriot, für welchen dies schiklich und Pflicht war, auch diese schon angewandt. Wozu denn nun die wundersame Wiederholung derselben [108] durch Samuel? Gerade den an Sohnesstatt erzogenen Diener sollte Jehova dazu aufgerufen haben, den schwachen Eli ohne Noth, ohne Nutzen noch weiter zu peinigen. Denn selbst die Möglichkeit der Söhnung, die letzte Rettung durch reuvolle Opfer und Gaben schnitt Samuel ab – raubte die letzte Hoffnung dem Priester, welcher nach den Begriffen seines Amts das äusserste etwa noch von Söhnopfern zu hoffen angewöhnt war. So sollte eine Gottheit den jungen Samuel dazu gebraucht haben, den jammervollen durch die Sache selbst schon so hart bestraften Greis, durch den Mund seines Pfleglings noch vor dem Todesstoss[WS 1] in Verzweiflung zu stürzen. Wenn Eli nicht das bitterste, das unleidlichste verschuldet hatte, so konnte unmöglich Samuel, gerade Samuel von der Gottheit dazu gerufen seyn, ihm dies anzukünden, und an ihm dadurch zum Vatermörder zu werden. Für solche Verletzungen der feinsten Pflichtgefühle des menschlichen Herzens, welche die Römer unter dem eigenthümlichen Nahmen Pietas geheiligt [109] haben, rief die Mythologie der alten Griechen die Furien selbst aus dem Orcus zur Oberwelt herauf. Selbst wenn, den Mord seines Vaters an einer ehebrecherischen Mutter zu rächen, der Sohn gegen diese die Hand erhebt und mehr nicht an ihr zu thun scheint, als sie wohl verdient hatte, so verfolgen ihn, weil er es als Sohn gethan hatte, die Eumeniden bis in die Wälder der fernen Halbinsel Tauriens.
Es zeugt laut genug davon, wie weit die sittlichen Gefühle der alten Hebräer gegen die verfeinerten Empfindungen der Griechen zurück waren, daß nur irgend die Zeitgenossen Samuels und seine spätere Biographen sich überreden lassen konnten, ihre Gottheit könne sich unter solchen Umständen und zu solchen Zwecken das erstemal Samuel geoffenbahrt haben. Unter den Griechen würde es niemand haben wagen dürfen, auf eine solche Art sich das erstemal als einen Begeisterten von einer andern Gottheit hervorzudrängen, als von einer, welche an den unerbittlichen Styx [110] selbst in den Volksmythen verbannt war. Nur die Gewohnheit, solche Geschichten von Kindheit an neben den Ammenmährchen von Unholden und Kobolden so gehört zu haben, macht es begreiflich, wie selbst bey unsern weit gebildeteren sittlichen Gefühlen die Unmöglichkeit davon nicht jedermann beym ersten vernünftigen Anhören ins Auge fällt. That nun aber Samuel das alles, was uns bey dem Charakter dieses Jünglings schauern macht, unter einem Volk, wo er den Befehl dazu sogar der Volksgottheit zuzuschreiben wagen durfte, so ist dann allerdings Samuel selbst dadurch, daß er es thun konnte, bey einem Beurtheiler, welchen Menschenkenntniß Billigkeit lehrt, bey weitem nicht so schwarz, als mit eben diesen Handlungen er als Grieche, oder gar als unser Zeitgenosse uns erscheinen müßte. Der Grieche würde ihn einer härteren Strafe, als die den Orestes verfolgt hat, würdig finden. Nach dem Grad der Sittlichkeit aber, welchen man unter den damaligen Hebräern annehmen darf, kann Samuel gegen Eli [111] die Pflichtgefühle, die er als Mensch gewiß in sich bemerkte, so weit unterdrückt und mit einem solchen Orakel als Prophet zu debütiren gewagt haben, wenn wir ihn blos als einen anschlägigen, nach Ansehen dürstenden, und unter schlimmen Beyspielen erzogenen Jüngling betrachten – wenn er gerade das war, was er in seiner Lage werden mußte, und nach mehreren Zügen seines folgenden Lebens gewiß gewesen ist.
Der erste Theil dieser Schilderung nöthigt uns, in das frühere Leben Samuels einige Blicke zurück zu werfen, ehe wir die Folgen entwickeln, welche jener erste Prophetenschritt für ihn hatte.
Samuels Vater hatte zwey Frauen. Die eine, welche ihn als eine fruchtbare Mutter zum Vater mehrerer Kinder gemacht hatte, bekam dafür keinen andern Lohn, als den bittersten Neid ihrer Nebenfrau, welche ihr die Liebe des Mannes, auch so lange sie noch kinderlos war, [112] größtentheils zu entziehen wußte. Endlich fand sich diese selbst, bald nach einem festlichen Besuch in der Gotteswohnung zu Schiloh, wo gerade die Söhne Eli’s ihren Unfug trieben, schwanger, bekam einen Sohn, und triumphirte nun mit der schadenfrohsten Ueberlegenheit über die unglückliche Peninna (Perle) neben ihr. Alles geschieht jetzt nach der Laune der vorher schon geliebteren Channa (die Holde). Ihr Söhngen wird sogleich dem Tempeldienste geweiht. Denn dadurch erhält es wenigstens so viel Antheil am Heiligthum und seine Vortheile als ein Laye je erhalten konnte; und bekanntlich haben so manche christliche Mütter gerade von dieser nachahmenswürdigen Vorgängerin her die Gewohnheit geborgt, ihre ersten Söhne vor der Geburt schon dem sogenannten Dienst der Religion zu geloben und dann vom ersten Augenblick ihres Lebens an diese Zärtlinge für ihre Bestimmung so untauglich, wie möglich, zu erziehen. Die Hebräerinnen stillen ihre Kinder lange. So sog also der zum künftigen Gehülfen [113] der Priester bestimmte Junge noch einige Jahre seiner Mutter Beyspiel mit der Muttermilch ein, und wurde darauf mit kostbaren Opfern der Aufsicht des Oberpriesters Eli übergeben und in die Gesellschaft seiner Söhne gebracht.
Die Gebete, welche der fromme althebräische Annaliste der Mutter Samuels reichlich in den Mund legt, haben gewöhnlich die Leser der biblischen Geschichte so sehr getäuscht, daß sie an ihr die neidische und eigenwillige Gemüthsart völlig übersahen, welche der Erzähler selbst nicht verhehlt, und sogar in diesen ihren Gebeten ausgedrückt hat.
Aus ihren Händen erhielt ihn das Heiligthum. Was ihm etwa von ihrem Charakter noch nicht ganz eingepflanzt war, das vollendeten wohl ihre öfteren Besuche. Sie bringt Samuelchen jedes Jahr aufs Fest ein besonderes Oberkleidchen und sieht ihn im weißen Leibrock, glücklicher als die [114] Kinder der andern Frau, beym Altar wenigstens halb priesterartig heranwachsen. Den guten Eli hat sie auch ganz für sich und das Söhnchen eingenommen.
Unter Fremden gewöhnt man sich etwas selbstständiger, als zu Haus. So weit war die Entfernung für Samuel gewiß vortheilhaft. Man lernt Geschmeidigkeit und Gefälligkeit, man studirt die Gemüthsart derer, von welchen man abhängt. Selbst Kinder, wenn sie nur Anlagen haben, entdecken unglaublich bald die Zugänge zum Herzen der Aeltern, finden ihre Schwächen auf, versuchen diese zu nützen, und werden mit jedem glücklichen Versuch in dieser Uebung zur List gewandter und auf geheime Befriedigung ihrer besondern Vortheile mehr erpicht. So Samuel gegen Eli. Er lernt die Mißbräuche verabscheuen, gegen welche er den alternden Vater seine Söhne selbst warnen sieht. Aber er bemerkt auch, da er heranwächst, die Gährung des Volks gegen diese um so leichter, [115] weil man gegen ihn als Nichtpriester offener seyn konnte. Er weiß es, daß schon sogar ein Prophet im drohendsten Ton mit Eli über seiner Söhne Vergehungen gesprochen hatte. Diese kennt er als unverbesserlich. Der Vater wankt dem Grabe zu. Jetzt ist der Augenblick, wo er sich selbst dem Volke wichtig machen, und von der Stelle des Dieners und Wächters im Heiligthum sich in den Rang eines von der Gottheit aufgerufenen Vertheidigers der Rechte der Nation hinaufschwingen kann. Eli’s Gemüth kennt er gut genug, um ihm selbst diesen Gottesruf an sich glaublich zu machen. Und wenn ihn der Oberpriester als Propheten anerkannte, wie viel mehr mußte das Volk ihn dafür annehmen, da er gerade ganz sprach, was das Volk selbst zu wünschen Ursache hatte. So trat er mit jenem erschütternden Orakelspruch vor Eli hin. Diesen selbst zu kränken, war sehr wahrscheinlich sein Zweck nicht. „Sage ich ihm nicht ungefähr eben dies,“ konnte Samuel denken, „was ihm [116] schon der Prophet gesagt hatte? Dies wird, da es einmal ein Prophet sagte, doch geschehen, ob ich es noch einmal wiederhole oder nicht. Im Grund ist es also doch Gottes Ausspruch, was ich ihm vorsagen will.“ Alle noch übrige Bedenklichkeiten verzehrte in der Brust des Jünglings die lodernde Flamme der Ehrfurcht. Die Verachtung der durch sich selbst entweihten Söhne Eli’s und vielleicht auch die Eile, mit welcher der Augenblick benutzt werden mußte, vollendeten den Entschluß, welcher ohne all diese Umstände das boshafteste Herz bis zum Abscheu entblößen würde. Unfehlbar würden die Kenner der Bibelgeschichte gerade dieser psychologischen Enthüllung des ersten Prophetenversuchs von Samuel blos durch die nakte Erzählung seines Annalisten nahe gebracht worden seyn, wenn nicht ein, auch in die deutsche Kirchenübersetzung übergegangenes, Mißverständniß eines einzigen Worts so viel Absichtlichkeit bey Samuel unglaublich gemacht hätte, weil er nach dieser [117] Mißdeutung noch als „ein Knabe“ betrachtet wurde. So schien natürlich die Unschuld seines Alters jeden noch so natürlichen Argwohn zu unterdrücken. Aber das Wort, welches durch Knabe übersezt zu werden pflegt, bedeutet bekanntlich dem Hebräer jedes Alter von der Kindheit bis zum Mann, selbst bis jenseits des dreysigsten Jahres. Den lezteren Sinn fordert die übrige Zeitrechnung über die Lebensjahre Samuels.
Er hatte den Zweck, warum er als Prophet gegen Eli selbst und seine Familie aufgetreten seyn konnte, sehr gut berechnet, und erreichte ihn völlig. Die ganze Nation hielt ihn von da an für einen Propheten. Er blieb zu Schiloh, wo damals die jährlichen Feste gefeyert wurden, und also immer einen großen Theil des Volks in jedem Jahre mehreremal dahin zogen. Sein Ansehen wuchs, man hielt seine Aussprüche für unfehlbar. Nach einer unbestimmten Zeit rieth er zu einem Feldzug [118] gegen die Philistäer, welcher zwar sehr unglücklich ablief, aber zugleich die Familie Eli’s aufrieb. Ohne Zweifel wurde der Verlust diesen Schuldigen zugeschrieben und gab also gegen Samuels Vorhersehungsgabe keinen Verdacht. Vielmehr dachte jezt die Nation blos daran, daß sie von ihren geweihten Unterdrückern befreyt worden war, und dies hatte ja Samuel gerade vorausgesagt. Nach dieser Zeit ward Samuel von der Nation wirklich zum Volksoberrichter (Suffeten) erwählt, und fand sie 20 Jahre lang sehr folgsam. Nur da er alterte, also wahrscheinlich gegen sein sechszigstes Jahr hin, findet er in den Volksgesinnungen eine gewaltige Aenderung.
Rechnen wir nach dieser kurzen Uebersicht der Chronologie seines Lebens bis auf die Zeit zurück, da er als Prophet aufgetreten war und bemerken wir den, in der Geschichte nicht mit bestimmten Zahlen angegebenen, Zwischenraum zwischen dem ersten Orakelspruch und dem Anfang seines [119] Suffetenamts, so muß Samuel zur Zeit, da er sich durch jenen Orakelspruch hob, wenigstens dreyßig Jahre alt gewesen seyn. Nach den Sitten der Hebräer war auch nur vom dreyßigsten Jahr an die Unmündigkeit geendigt, und früher pflegte nicht leicht jemand als öffentlicher Rathgeber des Volks hervorzutreten oder gehört zu werden, wie dieses Stufenjahr deswegen selbst aus der Lebensgeschichte von Jesus bekannt ist.
So konnte Samuel damals allerdings Plane auf das Ansehen eines Volksanführers machen. Auch Jugend hinderte ihn nicht, die Früchte davon zu genießen. Da durch die beynahe gänzliche Erlöschung der Familie von Eli, welche theils in der Schlacht gegen die Philistäer, theils aber auch zu Haus durch Jammer dahingerafft wurde, die Nation ohne einen ordentlich bestimmten Oberrichter war, gerade jetzt am meisten ein gemeinschaftliches Haupt bedurfte, und dies in niemand besser, als [120] in dem bisherigen Vertheidiger ihrer Rechte finden zu können glaubte: so waren nach wenigen Monaten die Stimmen der hebräischen Cantone für Samuel als Suffeten (Volksoberrichter) entschieden.
Nach dieser Wahl zeigt sich Samuel in der That als einen Mann, welcher ihre Wahl in vielen Rücksichten rechtfertigte, und selbst da, wo er in der Folge den Vortheil seiner Familie zum Zweck hatte, dabey doch den wahren Nutzen der Nation selbst zu begründen suchte.
Mose, da er während der sauren Arbeit, aus seinen unter das Egyptische Sklavenjoch gebeugten Landsleuten eine Nation zu schaffen und 40 Jahre lang zu erziehen, dieses Werk seines Geistes nach und nach mit ganzer Seele lieb gewann und in der Gründung ihres Wohlstands auch bis über seinen Tod hinaus die Belohnung seines sorgenvollen Lebens suchte, nützte zu diesem Zwecke vorzüglich den glücklichen [121] Umstand, daß die Landschaft, welche für sie bestimmt war, durch ihre Lage zur Sicherung jenes Volksglüks von selbst sehr vieles anbot. Dieses Land hatte in seinem Schoos alles, was ein solches Volk bedurfte; es war durch natürliche Gränzen von Gebürgen, Flüssen und Wüsteneyen vor Auswärtigen, sobald es von seinen jetzigen mit dem hebräischen Staat nie vereinbaren Bewohnern ganz gereinigt war, geschützt, und auf diese Art noch weit mehr als das Gebiet von Sparta gleichsam durch die Natur selbst dazu gemacht, die Erziehung eines Volks zu vollenden, dessen unbiegsamen Charakter sein Gesetzgeber zur Grundlage einer von andern Nationen unabhängigen Selbstständigkeit zu benutzen und durch Gottesdienst sowohl als Sitten noch mehr zu nähren bemüht war.
Zu diesem Zwecke sollte sein Pflegling, die Hebräische Nation, in jenem unzugänglichen doch sehr fruchtbaren Gebürgsland aufwachsen, erstarken und einst vielleicht, [122] wenn er das Mannes Alter erreicht haben würde, die Grundsätze Mose’s siegreich über andere Nationen ausbreiten.
Nichts fehlte der Ausführung dieses Entwurfs, welcher zum Theil auch dem Geiste des Lycurgus wie Mose vorgeschwebt zu haben scheint, als eine Reihe von Männern, wie der Erfinder des Plans war, für die nächste Generationen nach ihm. Aber leider! – eine Strecke von vier Jahrhunderten hindurch war die Nation, ich will nicht sagen, ohne einen solchen Kopf, doch zum wenigsten ohne daß das Zusammentreffen der unentbehrlichsten Umstände einem solchen Kopf den Weg, an die Spitze des Volks zu treten, geöffnet hätte. Bis nach einer so langen Zwischenzeit Samuel sich diesen Weg bahnte, konnten von Mose’s Entwurf nur noch diejenigen einige Ahnung erhalten haben, welchen als Priestern oder Propheten die Ueberlieferungen der alten Geschichte bekannter seyn konnten als dem gemeinen Volke. [123] Diese faßten von Mose’s Hauptgedanken so viel, als jeder vermochte und durch die ganze Geschichte der hebräischen Nation herab ist, wiewohl unter mancherley Gestalten, jenes Streben nach einem Zweck, wie wir ihn bey Mose schon entdecken können, sichtbar.
Zu seiner Ausführung war Verbannung fremder Gottheiten und Festhalten an einem einzigen Nationalgottesdienst höchstnothwendig, und man miskennt die denkendere Männer des hebräischen Alterthums ganz, wenn man ihnen – diesem geistigeren Theil der sonst freilich meist ungebildeten Nation – die Caprice zuschreibt, daß sie an dem bloßen Namen Jehova gehangen und sich in den Kopf gesetzt haben sollten, nur unter diesem Laut dem Schöpfer der Erde und des Himmels angenehme Gebete und Opfer bringen zu können.
[124] Jedes der umherliegenden Völker hatte zur Zeit Mose’s ihre Schutzgötter. Glück und Unglück im Ganzen und Einzelnen leiteten sie von diesen ab, für ihre Altäre und Opferheerde gaben sie so gerne als für ihre eigene Hütten, Kinder und Weiber ihr Leben hin. Hier befeuerten die Orakel des Priesters den Muth des Heers gegen auswärtige Feinde. Geheiligte Volkssänger sangen die Siegeshülfe ihrer Götter gegen jede andere Gottheit, und begleiteten oft selbst das Volk zur Feldschlacht, in welcher man von dem Bilde Dagons so gut, als die Hebräer von der Gegenwart ihres Gottesthrons (der sogenannten Bundeslade), Sieg und Uebermacht erwartete. Und kam dann der Feldherr im Triumph, mit Beute zu den Altären seiner Nationalgötter zurück, verwandelten sich nun wieder die Schwerdter in Sicheln und war jetzt die bedachtsame Klugheit des friedfertigen Volksregenten nöthig, so inspirirte ihn die Erfahrung des Priesters im Namen der Volksgottheit bey all jenen übrigen Nationen [125] eben so, wie schon der hebräische Feldherr Josua nach Mose’s Verordnung unter dem bedeutenden Rath des Oberpriesters von Jehova stund.
Sollten die aus Aegypten entflohene und in den arabischen Wüsten gesammelte hebr. Hirtenstämme sich nach der Denkart jener Zeit unter Mose in eine Nation zusammenfügen, so war es nicht genug, daß sie alle von ihren Voreltern her schon den Gedanken von einem einzigen Schöpfer des Himmels und der Erde (der Geschichte nach) geerbt hatten. Das Dogma der Einheit Gottes hat erst im Christenthum, erst in dem Geiste des Apostels Paulus praktische Folgen für die späten Nachkömmlinge dieser Urväter zu haben angefangen. Schon vor Mose hofften die Israelitischen Nomadenstämme von dem Weltschöpfer eine besondere Vorliebe für sich, und so oft es ihnen wohl gieng, glaubten sie daran. Nichts unterstützte den Plan Mose’s, die verschiedene Horden, welche alle ihre Stammfürsten und [126] eigene Verfassung behalten wollten, durch ein unverlezliches Band in ein Ganzes vereint zu umschlingen, so mächtig, als jener Volksglaube, welchen die einzelne Truppen unter seine Fahne mitbrachten. Leicht, aber sehr bedeutend, war nun die neue mosaische Versinnlichung, daß jener von ihnen einzeln schon anerkannte Schuzgott ihrer Väter sich am Fuß des Donnerberges Sinai als gemeinschaftlichen König ihnen anbieten, und von ihnen sich förmlich dazu wählen und annehmen ließ. Nun waren sie, so bald diese Idee herrschend wurde, Eine Nation, ein Ganzes, so heterogen auch die einzelne Theile desselben waren und lange noch bleiben mußten.
Diesen Volksverein zu nähren, den Glauben, auf welchen er sich bezog, und welcher nicht mit einem Hauch den verschiedenartigen Horden eingeblasen werden konnte, zu befestigen, war der Zweck vieler Mosaischer Anstalten, und sollte das Augenmerk aller seiner Nachfolger seyn, [127] wenn sie seinen Geist gefaßt hatten. So ward der ganze hebräische Gottesdienst ein nothwendiger Theil der Constitution, besonders seine Feste sollten soviel oder mehr zu Erhaltung der Einheit wirken, als die mancherley geweihte Volksversammlungen der griechischen Staaten. Die Propheten hatten alle mögliche patriotische Ursachen, alles, alles immer auf Jehovah zurück zu führen.
Ein scharfsichtigerer und unternehmenderer Mann war seit Mose nicht an die Spitze der Nation getreten, als Samuel. Sollte das Volk irgend einige Stärke erhalten, sollte es für ihn selbst der Mühe werth seyn, sich mit der Sorge für die nach allen Seiten von räuberischen Völkern umgebene Heerde zu belasten, so mußten die Volkskräfte endlich einmal wieder in Eines zusammengezogen werden. Alle Volksstämme mußten den Glauben unter sich erneuern lassen, daß sie nur Einen Schutzgott hätten, welcher sich so [128] sehr für sie interessire, daß er ihnen statt aller sichtbaren Könige seyn wolle. Samuel gewann, indem er dies an einem Volkstage feierlich durchsetzte, nicht nur die Vereinbarkeit der Kräfte der Nation gegen auswärtige Feinde. Als anerkannter Sprecher jenes unsichtbaren Königs hatte er allen gemeinschaftlich desto mehr zu gebieten. Seine erste Bedingung also, unter welcher er das Suffetenamt übernimmt, ist erneuerter Gehorsam gegen den gemeinsamen König Jehovah – und was schon allein daraus folgte, Verbannung jedes Zeichens, jeder Verehrung eines Schutzgottes, welchen eine andere Nation eigenthümlich zu haben glaubte.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Todesstoff