Der Frühling (Lavant)
Gehst du im frühen Lenze durch den Wald,
Des Lebens froh im erst so stillen Reiche,
So hasten sinnend deine Blicke bald
Am frischen Wuchs der nächsten jungen Eiche;
Das aus den Knospen bricht in krauser Fülle,
Ist fahles Laub an jedem Zweig zu schau’n –
Vom letzten Jahr die abgestorbne Hülle.
Es haftet fest und zäh an seinem Ort,
Nur ab und zu führt lose Blätter fort
Der laue Frühlingswind als Siegeszeichen,
Das letzte Blatt vermodert und verrottet,
Hat es den Frühling hundertmal verspottet.
Und soll das fahle, winterliche Laub
Nicht bis zum Sommer seinen Platz bewahren,
So muß mit sieghaft-fröhlichem Geschnaub
Das thut es nicht, das kosend-linde Wehn,
Vor dem die Knospen aller Blumen springen;
Vor sanftem Hauch wird welkes Laub bestehn –
Der Sturm allein kann grüne Eichen bringen!
Der Regen auch in dichten schweren Güssen;
Dann wird das Laub, das zagend sich und sacht
Herausgewagt, gewaltig wachsen müssen.
Dann hat für Welkes keinen Platz der Baum,
Zu bloßem Spuk, zu bloßem bangen Traum
Wird jenes für den Wald nach wenig Tagen.
Und ist es anders wohl in der Natur,
Als in der Völker, in der Menschheit Leben?
Das trotzig sucht am alten Ort zu kleben,
Und in den Frühling einer neuen Zeit
Siehst du, gespenstisch fast, das Alte ragen
Und höhnend macht ein Überrest sich breit
Hinwegzufegen, was da hemmt das Sprießen,
Mit milder Fluth in lauer Frühlingsnacht
Das junge Laub, das zage, zu begießen;
Herauf des Jahres heißersehnte Wende,
So sei auch aufgeräumt mit dem, was todt,
Und nicht verzögert sei des Alten Ende!
Die Zeit verlangt ein männlich-kühnes Wort –
Die rechts und links bedenklich immerfort,
Die vor- und rückwärts ängstlich-zaudernd schauen.
In unsre Zelte laden die wir ein,
Die’s mit dem Neuen treu und ehrlich halten;
Dem Neuen Freund, doch Feind dem Todten, Alten!
Anmerkungen (Wikisource)
Ebenfalls abgedruckt in:
- "Die Neue Welt" Nr. 20, S. 483 (Titelseite, 1884)
- Lavant, Rudolf (d. i. Richard Cramer): Gedichte. Hrsg. v. Hans Uhlig. Berlin, Akademie Verlag 1965 (Seite 62).