Der Binger Kurverein in seiner verfassungsgeschichtlichen Bedeutung

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Autor: Erich Brandenburg
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Titel: Der Binger Kurverein in seiner verfassungs-geschichtlichen Bedeutung
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 11 (1894), S. 63–89.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. B. und Leipzig
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[63]
Der Binger Kurverein
in seiner verfassungsgeschichtlichen Bedeutung.
Von
Erich Brandenburg.


Der Binger Kurverein von 1424, der seit Droysen allgemein als ein revolutionärer Act, als eine der wichtigsten Stufen im Kampfe des Kurfürstencollegiums gegen das Königthum, angesehen wurde, hat neuerdings mehrfach die Forschung beschäftigt. Lindner hat es unternommen nachzuweisen[1], dass er im Grunde nichts gewesen sei als eine ganz harmlose Verabredung der Kurfürsten, dem Könige gegen die Husiten zu helfen; nicht einmal gegen den regierenden König, geschweige gegen das Königthum sei er gerichtet gewesen; nur aus persönlichem Groll gegen zwei der Betheiligten habe der reizbare Sigmund die Sache übel genommen, und erst dadurch sei der ganze Conflict zwischen König und Kurfürsten entstanden, der also keineswegs ein Principienkampf gewesen sei, sondern „erst die Folge persönlicher Verhältnisse, dann gesteigerter Ueberreizung und Missverständnisse“. Und alles das behauptet Lindner, obwohl er gleichzeitig nachweist, dass nicht, wie man bisher annahm, die mildere von den beiden auf uns gekommenen Fassungen (B), sondern die schärfere (A) in Bingen am 17. Januar 1424 von den sechs Kurfürsten verabredet worden ist.

Dieser Nachweis ist Lindner vollständig gelungen; aber schon seinen Versuch, die Entstehungszeit der milderen Fassung auf den April 1427 zu bestimmen, glaube ich als verfehlt bezeichnen [64] zu müssen. Heuer’s[2] Gründe dafür, dass diese Fassung spätestens im Herbst 1424 entstanden sein müsse, halte ich für zutreffend; er hat es auch sehr wahrscheinlich gemacht, dass dies schon auf dem Mainzer Kurfürstentage Anfang Juli 1424 geschehen sei. Lindner hat ihm zwar widersprochen, aber, wie mir scheint, keinen seiner Gründe widerlegt.

Auch die völlige Harmlosigkeit der Binger Vereinbarungen will Heuer nicht zugeben, meint aber, ebenso der früher herrschenden Ansicht entgegentreten zu müssen, dass man im Princip und mit Bewusstsein die Reichsverfassung habe ändern wollen. Da er sein Hauptaugenmerk auf die Datirungsfrage gerichtet und die Frage nach der verfassungsgeschichtlichen Bedeutung der Binger Einung nur gestreift hat, so dürfte es nicht überflüssig sein, auch diese eingehender zu erörtern. Um aber für den ganzen Vorgang die richtige Würdigung zu gewinnen, dürfen wir nicht von dem Wortlaute des Binger Vertrages, sondern müssen von einer Betrachtung des Verhältnisses zwischen König und Kurfürsten im 14. Jahrhundert ausgehen.


I.

Die Entstehung des Kurcollegiums ist noch immer nicht ganz klargelegt worden; jedenfalls war sie um die Mitte des 13. Jahrhunderts beendet. So wollen wir denn die Zeit Rudolf’s von Habsburg zum Ausgangspunkte nehmen. Damals besassen die Kurfürsten, ausser ihrem jetzt gesicherten Wahlrecht, kein anderes Mittel, auf die Reichsregierung bei Lebzeiten des Königs einen den der übrigen Fürsten übersteigenden Einfluss auszuüben, [65] als die Willebriefe[3]. Wollte der König einen Regierungsact von besonderer Wichtigkeit vollziehen, insbesondere Reichsgut veräussern oder ein erledigtes Fürstenthum neu verleihen, so war er durch das Reichsherkommen gebunden, dazu die Zustimmung der Kurfürsten einzuholen; es stand zu Rudolf’s Zeiten fest, dass Veräusserung von Reichsgut nur Gültigkeit hatte, wenn die Mehrzahl der Kurfürsten derart ihre Einwilligung erklärt hatte[4]. Es ist klar, dass diese Einrichtung einen kurfürstlichen Einfluss nur in vereinzelten Fällen zuliess, und dass sie diesen Einfluss nur den einzelnen Kurfürsten, nicht dem Collegium einräumte. Gerade weil der König von jedem einzeln durch Separatverhandlungen den Willebrief erlangen konnte, war die Einrichtung dem Königthum nicht sehr gefährlich.

Aber bald suchte das Collegium aus seinem Wahlrechte ein Absetzungsrecht herzuleiten, oder sagen wir besser, es zu usurpiren. König Adolf, den man des Thrones beraubt hatte, fiel zwar im Kampfe, aber sein Nachfolger Albrecht, zu dessen Gunsten der revolutionäre Act vorgenommen war, liess sich jetzt, nachdem das Reich durch Adolf’s Tod auch rechtlich erledigt war, noch einmal wählen; er erkannte also das Absetzungsrecht der Kurfürsten nicht an.

Kurz darauf schlossen die vier Rheinischen Kurfürsten einen Bund gegen den König (14. Oktober 1300); mit Waffengewalt musste Albrecht sie zum Gehorsam zwingen. Dieses Sonderbündniss entsprang zwar aus der Gemeinsamkeit rein materieller Interessen und war ohne Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung der Kurfürsten, erregt aber als Vorläufer einer späteren Entwicklung unsere Aufmerksamkeit.

Wieder waren es drei Rheinische Kurfürsten, welche sich bald nach der Doppelwahl von 1314 dahin vereinigten, obwohl sie zu verschiedenen Königen hielten, sich unter einander nicht zu bekämpfen[5]; freilich handelten sie nicht darnach; der Thronstreit liess zunächst eine Einigkeit unter den Kurfürsten nicht aufkommen. Aber aus den Parteikämpfen, welche Ludwig’s des [66] Baiern Regierung erfüllen, ragt uns eine imposante Kundgebung des gesammten Kurcollegiums entgegen, der sogenannte Kurverein von Rense vom Jahre 1338.

Man fasst ihn gewöhnlich als den Ausgangspunkt der Entwicklung auf, welche die Kurfürsten anstatt des Königthums zur eigentlichen Centralgewalt machen zu wollen schien. Aber was geschah denn eigentlich zu Rense? Der König kam mit den Kurfürsten zusammen, um über eine dem bevorstehenden Reichstage zu machende Vorlage ihr Gutachten zu hören, welches in dem bekannten Weisthum vorliegt. Das war ungewöhnlich, erklärt sich aber daraus, dass diese Vorlage sich eben auf das kurfürstliche Specialrecht, die Königswahl, bezog. Im Beisein des Königs verbündeten sich die Kurfürsten zum Schutze ihrer Rechte gegen jeden, der sie etwa verletzen würde. Dass dieser ungenannte Gegner Niemand anders als der Papst war, ist allgemein anerkannt; also konnte mit den Rechten, die man gegen ihn schützen wollte, nur das Wahlrecht gemeint sein, zumal von anderen bedeutenden kurfürstlichen Sonderrechten damals nichts bekannt war[6]. Der König hatte natürlich gegen diesen zu seinen Gunsten unternommenen Schritt nichts einzuwenden; er drückte eben durch seine Gegenwart seine Zustimmung dazu aus.

Somit ist das Bündniss von Rense kein „Kurverein“ im späteren Sinne des Wortes; denn ein solcher war eine Verbindung der Kurfürsten zur gemeinsamen Durchführung von Beschlüssen, die sie in geheimer Berathung ohne Wissen oder Beisein des Königs oder seiner Vertreter mit Stimmenmehrheit gefasst hatten[7]. Die spätere Entwicklung, die, wie wir sehen werden, gerade im Gegensatze zum Königthume erfolgte, kann man also nicht als eine directe Fortsetzung der Beschlüsse von Rense ansehen.

Aber auch so diente der ganze Vorgang zur Hebung der [67] kurfürstlichen Stellung; schien doch der König, indem er das Kurcollegium fast zum Beschützer, mindestens zum Bundesgenossen gegen den Papst anrief, dasselbe als eine gleichberechtigte Macht anerkannt zu haben.

Das grosse verfassungsgeschichtliche Ereigniss des 14. Jahrhunderts war das Zustandekommen der Goldenen Bulle; sehen wir uns nun die Stellung an, welche diese den Kurfürsten einräumte. Sie regelt genau das Verfahren bei der Königswahl, setzt den Kreis der Theilnehmer endgültig fest, gibt den einzelnen Kurfürsten manches wichtige Privilegium für die Ausgestaltung der Landeshoheit in ihren Territorien, aber sie weiss nichts davon, dass die einzelnen Kurfürsten oder das Collegium in anderer Weise wie die übrigen Fürsten bei der Reichsregierung mitzuwirken hätten; sogar das Institut der Willebriefe, das auch nach ihrem Erlass fortbestand, erwähnt sie mit keinem Worte. Eine Ausnahme macht allein der Paragraph, welcher festsetzt, dass die Kurfürsten alljährlich einmal mit dem Könige zur Berathung über Reichsangelegenheiten zusammenkommen sollen; jede Versammlung soll Ort und Zeit für die nächste bestimmen[8]. Dadurch erhielten die Kurfürsten freilich Gelegenheit, dem Könige etwaige Wünsche mitzutheilen; ein Recht zu anderweitigen Kurfürstentagen ohne den König, zu Beschlüssen und Bündnissen irgend welcher Art erhielten sie nicht; von der Festsetzung der Goldenen Bulle, dass alle Bündnisse, die nicht nur die Aufrechthaltung des Landfriedens bezweckten, verboten seien[9], sind die Kurfürsten nicht ausgenommen.

So erscheint auch in der Goldenen Bulle das Kurcollegium ausschliesslich als Wahlcollegium; bei Lebzeiten des Königs ruhte seine Thätigkeit, nur die einzelnen Mitglieder genossen bestimmte Vorrechte vor den übrigen Fürsten[10]; das ist die rechtliche und thatsächliche Lage während des 14. Jahrhunderts.

[68] Eine Aenderung trat ein, seit durch Wenzel der Schwerpunkt der königlichen Hausmacht und die Residenz des Herrschers endgültig an die Ostgrenze des Reiches verlegt war. Es war unvermeidlich, dass, seit in erster Linie osteuropäische Interessen für die Könige massgebend waren, der Westen Deutschlands, das eigentliche Reich, sich vernachlässigt fühlte. Kam noch, wie es bei Wenzel der Fall war, hinzu, dass der König sich nur selten im Reiche blicken liess und eine Regierung kaum noch führte, so griff eine Missstimmung Platz, die ihre Häupter naturgemäss in den westlichen, den vier Rheinischen Kurfürsten fand. Sie erschienen sich als die wahren Vertreter der Reichsinteressen gegenüber dem Könige; so lag es in der Natur der Sache, dass ihre Opposition bald in die Revolution überging.

König Wenzel wollte seinen Bruder Sigmund zu seinem Stellvertreter im Reiche, zum Reichsvicar bestellen; die Rheinischen Kurfürsten bestritten, dass er das ohne ihre Einwilligung dürfe; sie verbündeten sich am 13. April 1399 gegen Wenzel zu Boppard, ja sie schritten endlich zu seiner Absetzung. Das war offene Rebellion; auch betheiligten die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg sich nicht daran, sondern blieben Wenzel treu. Da auch die Rheinischen Kurfürsten mit ihrem neugewählten Könige Ruprecht und unter sich, besonders durch ihre verschiedene Stellung zum grossen Schisma, sehr bald in Uneinigkeit geriethen, so blieb der in Boppard eingeleitete Versuch, die kurfürstlichen Rechte weiter auszudehnen, zunächst ohne Folgen. König Sigmund, der nach Ruprecht’s Tode durch Pactiren mit den einzelnen Gruppen der Kurfürsten und mit seinem Bruder Wenzel zur Krone gelangt war, konnte in den ersten Jahren seiner Regierung herrschen, ohne dass er irgend welchen Ansprüchen der Kurfürsten auf Theilnahme am Regimente begegnet wäre.

Aber die Bestrebungen, die in Boppard zum Ausdruck gekommen waren, lebten im Stillen weiter; sie wagten sich nicht hervor, so lange Ludwig von der Pfalz und Friedrich von Brandenburg des Königs vertraute Rathgeber und enge Verbündete waren. Es war verhängnissvoll für Sigmund, dass er sich noch vor Schluss des grossen Concils mit dem Pfälzer überwarf; so wurde dieser den antimonarchischen Bestrebungen in [69] die Arme getrieben, die gerade durch die Machtstellung Sigmund’s neue Nahrung erhielten. Die Rheinischen Kurfürsten schlossen nun am 7. März 1417 einen Vertrag[11], in dem sie sich verpflichteten, auf jede Forderung, welche ein Römischer König an sie alle oder an einen von ihnen richte, nur gemeinsam zu antworten; sie wussten, dass der König nichts gegen sie vermöge, wenn sie einig seien. Dieser Vertrag, an und für sich schon rechtswidrig, bildete den Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung. Freilich noch umfasste er nicht alle Kurfürsten, und es war ein Abweichen von der eingeschlagenen Richtung, dass man sich 1418 auch mit ausserhalb des Collegiums stehenden Fürsten zum gegenseitigen Schutz aller Rechte und Privilegien gegen Jedermann verbündete.

Als nun Sigmund im Sommer 1418 gegen den Pfalzgrafen vorging, leistete dieser bewaffneten Widerstand, und seine Verbündeten traten in einem gemeinsamen Schreiben an den König für ihn ein; Sigmund besass nicht die Macht, durch Anwendung von Gewalt seine Autorität zu wahren, zumal da ihn andere Interessen dringend nach Ungarn riefen; so musste er, ohne die geringste Genugthuung erhalten zu haben, das Reich verlassen; die Rebellion blieb straflos.

Der König wurde nun durch Türken- und Husitenkriege dem Westen des Reiches dauernd fern gehalten; es ist gewiss nicht zu verkennen, dass es schwierig für ihn war, den vielen Anforderungen, die seine verschiedenen Gebiete an ihn stellten, gleichmässig nachzukommen; aber sein persönliches Auftreten trug erheblich dazu bei, diese Schwierigkeiten zu vermehren. Mit seiner Entfernung aus dem Reiche wuchs natürlich der Muth der Rheinischen Kurfürsten, zumal da der vom König zum Statthalter bestellte Friedrich von Brandenburg es für gerathen hielt, sich mit ihnen in gutes Vernehmen zu setzen. So thaten sie denn im Januar 1419, diesmal in Gemeinschaft mit dem Hohenzollern, wieder einen Schritt, zu dem sie rechtlich nicht befugt waren: sie ertheilten ungefragt dem Könige mahnende Rathschläge betreffs seiner auswärtigen Politik.

Als dann Sigmund nach dem Breslauer Reichstage im Frühling [70] 1420 abermals das Reich verliess, diesmal, ohne einen Vertreter zu bestellen, als so gar keine Centralgewalt vorhanden zu sein schien, da wurden bei den Rheinischen Kurfürsten wieder die Bopparder Erinnerungen lebendig, sie begannen sich wieder als die Vertreter der Reichsinteressen zu fühlen. Bereits im Jahre 1421 begehrten sie von einigen Reichsstädten Auskunft über deren Bereitwilligkeit zum Husitenkriege, und zwar „von des Reichs wegen“. Es war das erste Mal, dass sie sich offen einen Antheil an der Regierungsgewalt anmassten, und ihr Schritt erregte bei den Städten natürlich Befremden. Im Herbste desselben Jahres tauchten schon Absetzungspläne auf; bald darauf erhielt die kurfürstliche Opposition an dem nun ebenfalls mit Sigmund entzweiten Friedrich von Brandenburg einen werthvollen Bundesgenossen.

Vergebens versuchte der König, ihren revolutionären Bestrebungen dadurch die Spitze abzubrechen, dass er ihnen die weitgehendsten Vollmachten für die Leitung des Husitenzuges übertrug; wir finden nicht, dass sie sich dieser Vollmachten bedient hätten.

Im Jahre 1422 wagten sie es bereits, einen Reichstag zu berufen und den widerstrebenden König zum Erscheinen daselbst und zu allerlei anderen Demüthigungen zu zwingen; ja sie verkündeten sogar im eigenen Namen die Beschlüsse des Nürnberger Tages dem Reiche; der König drückte nur seine Zustimmung aus. Zum ersten Male wirkten hier alle sechs Kurfürsten zusammen; der Rheinische Bund von 1417 hatte sich in einen Bund aller Kurfürsten verwandelt. Als sie endlich im Frühling 1423 den vom König ernannten Reichsverweser, Erzbischof Konrad von Mainz, zur Niederlegung seines Amtes zwangen und dadurch kraft eigener Machtvollkommenheit einen Regierungsact des Königs einfach umstiessen, da hatte die revolutionäre Praxis ihren Höhepunkt erreicht.

Ganz unbefangen, als verstehe sich das von selbst, hatten die Kurfürsten in den letzten Jahren eine Reihe von Regierungshandlungen ausgeübt, zu denen ihnen keinerlei Recht zustand; der König, ohnmächtig und ihrer Hilfe bedürftig, hatte es ohne Widerspruch geschehen lassen müssen. So war ein ganz neues Herkommen entstanden, eine Reihe von Präcedenzfällen, auf welche die Kurfürsten sich berufen konnten, wenn sie für ihre [71] Gesammtheit ein Recht auf Mitregierung, ja, wenn der König abwesend war, auf selbständige Ausübung von Regierungshandlungen, beanspruchten. Aber, was sie praktisch ausübten, auch theoretisch zu formuliren, dazu hatte bisher ein Anlass gefehlt; er bot sich jetzt.


II.

Seit dem November 1422 war die Sächsische Kur erledigt; Sigmund hatte sie bereits dem Markgrafen Friedrich von Meissen zugesagt, aber Herzog Erich von Sachsen-Lauenburg erhob als Agnat des ausgestorbenen Zweiges der Askanier Erbansprüche. Es war nun die Frage, ob die Kurfürsten zur Belehnung Friedrich’s mit Sachsen ihre Willebriefe geben würden oder nicht. Sie versammelten sich, alle fünf persönlich, im Januar 1424 zu Bingen, und hier erschienen auch die beiden Bewerber, um ihre Ansprüche vorzutragen.

Die Kurfürsten erkannten den Wettiner an; da sie aber wussten, dass dieser in nahen Beziehungen zu Sigmund stehe, so lag die Befürchtung nahe, er könne seine Betheiligung an den gegen König und Königthum gerichteten Bestrebungen versagen. Man musste ihn daher zu einer bindenden Erklärung verpflichten, dass er diese Bestrebungen unterstützen werde und musste die Abgabe dieser Erklärung zur Bedingung seiner Anerkennung machen. Es versteht sich von selbst, dass, bevor dies geschehen konnte, die Bestrebungen fest formulirt, ein Programm entworfen werden musste, auf das man jenen verpflichten konnte. Schon von dieser Erwägung aus muss man erwarten, in der zu Bingen vereinbarten Urkunde eine theoretische Feststellung der vom Kurcollegium in Bezug auf die Reichsregierung beanspruchten Rechte zu finden.

Der Wortlaut bestätigt diese Erwartung vollkommen. Aber nun tritt uns Lindner mit der eigenthümlichen Behauptung entgegen, dieser Wortlaut entspreche gar nicht den eigentlichen Absichten der Binger Contrahenten. Um das zu beweisen, geht er von der alten Beobachtung aus, dass bei der Abfassung eines Theiles der Urkunde der Bopparder Vertrag vom 11. April 1399 als Vorlage gedient hat; er behauptet nun, die aus dieser Vorlage entnommenen Artikel seien sinnlos abgeschrieben; so sei durch die sklavische Benutzung des älteren Vertrages gegen [72] den Willen der Vertragschliessenden ein revolutionärer Ton in die Binger Urkunde hineingekommen.

Es ist an und für sich schon sehr unwahrscheinlich, dass die zu sorgfältiger Berathung mit ihren Räthen mehrere Tage lang in Bingen versammelten Kurfürsten gar nicht gemerkt haben sollten, welch’ eigenthümliche Färbung ihr ganz harmlos gemeinter Vertrag auf diese Weise erhielt; jedenfalls aber muss eine derartige Behauptung bewiesen werden. Lindner meint, zum Beweise diene der Umstand, dass mehrere der übernommenen Artikel, welche 1399 wohl begründet waren, jetzt, 1424, keinen Sinn mehr gehabt hätten; man habe folglich mechanisch abgeschrieben, ein Plagiat begangen. Als solche Artikel führt er drei an, den über die Kirchensache, das Vicariat und die Entgliederung des Reiches.

Der Artikel über die Kirchensache bestimmte 1399, zur Zeit des grossen Schismas, man wolle in allen Fragen, welche die Kirche und den Römischen Stuhl beträfen, nur gemeinsam handeln. Im Jahre 1424 bestand aber kein Schisma, und so scheint der Artikel in der That nicht mehr recht zu passen. Aber er ist doch nicht ganz wörtlich abgeschrieben, sondern enthält den Zusatz „ob ein scisma worde“, dann solle dieses gemeinsame Handeln eintreten. Man war sich also in Bingen völlig klar darüber, dass der alte Wortlaut nicht mehr ganz passe, und änderte ihn dementsprechend.

In Betreff des Reichsvicariates war 1399 festgesetzt worden: wenn Jemand ohne die Zustimmung sämmtlicher Kurfürsten nach dieser Würde strebe, so sollten alle Contrahenten dagegen auftreten und keiner seine Einwilligung geben. Lindner meint, auch diese Bestimmung habe 1424 keine rechte Bedeutung mehr gehabt. Aber war denn nicht eben wegen der Ernennung Konrad’s von Mainz zum Reichsvicar[12] ein heftiger Streit unter den Kurfürsten selbst über die Zulässigkeit dieses Verfahrens geführt worden? Solchen Vorkommnissen musste man doch vorbeugen. Und auch hier begegnet uns ein Zusatz „doch beheltenisz unser iglichem sines rehten nach ußwijsunge der [73] gulden bulle“. Wenn man bedenkt, dass der ganze eben beendete Streit dadurch entstanden war, dass der Pfalzgraf die Bestimmung der Goldenen Bulle, bei erledigtem Reiche stehe das Vicariat Pfalz und Sachsen zu, dahin ausgelegt hatte, dies gelte auch bei dauernder Abwesenheit des Königs vom Reiche, dass ferner diese Auslegung auch später von den Pfälzischen Kurfürsten auf’s zäheste festgehalten worden ist, so wird man nicht zweifeln, dass gerade mit Rücksicht darauf der Pfalzgraf auf diesem Zusatze bestanden hat.

Bezüglich der Entgliederung des Reiches verpflichtete der Vertrag von 1399 die Verbündeten, dagegen aufzutreten, wenn der König oder Jemand in seinem Namen oder Jemand anders Stücke vom Reiche abzubrechen versuche. Damals hatte Wenzel’s Verhalten gegen den Mailänder Herzog den Anlass dazu gebildet; aber 1424, meint Lindner, habe jede Veranlassung zu einem solchen Paragraphen gefehlt. Es habe zwar angeblich König Erich von Skandinavien damals die Neumark erwerben wollen; man habe aber gar nicht gewusst, wie Sigmund sich dazu stellen werde. Nun hatten die Kurfürsten in Erwägung der grossen Interessengemeinschaft zwischen Sigmund und Erich in der Polnischen Thronfolgefrage zwar allen Grund, hier sehr misstrauisch zu sein; aber noch ein anderes Glied des Reiches stand damals in beständiger Gefahr, ganz verloren zu gehen, das Gebiet des Deutschen Ordens, Preussen. Zieht man in Rechnung, dass die Kurfürsten erst unlängst warm für die Vertheidigung dieses Grenzlandes eingetreten waren, auch gerade mit dem Hinweise darauf, dass der Orden zum Reiche gehöre[13], dass Sigmund aber schon ernstlich eine Theilung des Ordenslandes mit Polen geplant hatte, so begreift man vollkommen, dass den Binger Contrahenten die Aufnahme jenes Artikels sehr nothwendig erschien.

Wenn also Lindner erwiesen zu haben glaubt, dass alle aus dem Vertrage von 1399 herrührenden Artikel für die Ermittelung der wahren Absichten der Kurfürsten in Bingen nicht [74] mit in Betracht zu ziehen seien, so ist ihm dieser Beweis, wie ich gezeigt zu haben glaube, völlig misslungen. In dem selbständigen Theile der Bundesurkunde aber, so argumentirt er weiter, ist ausser nebensächlichen Bestimmungen nur die Verabredung zum Husitenkriege enthalten; also ist diese der eigentliche Zweck des Bündnisses. Das ist aber gar nicht der Fall; der selbständige Theil umfasst die Einleitung und 5 Artikel (1–3 und 9–10); in der Einleitung wird die Husitennoth als der Anlass zum Abschlusse des Vertrages bezeichnet[14], sonst ist davon nur in Artikel 2 die Rede. In den übrigen Paragraphen sind aber gerade die Bestimmungen enthalten, die den Binger Vertrag von allen ähnlichen Bündnissen, insbesondere auch von dem Bopparder Vertrage, so scharf unterscheiden, nämlich das Versprechen, ein angegriffenes Bundesglied gegen Jedermann zu schützen, sobald es vor den Kurfürsten zu Recht zu stehen bereit ist, und die Abmachung, dass nach dem Tode eines Verbündeten dessen Nachfolger in den Bund genommen werden, dieser also eine dauernde Institution sein soll.

Aber es ist sogar direct zu erweisen, dass der Hauptzweck der Verbindung nicht die Husitenbekämpfung gewesen sein kann; denn kurz vor und kurz nach dem Binger Tage haben die Kurfürsten es offen ausgesprochen, dass sie zu einem neuen Husitenzuge sehr wenig Lust hätten. Als nämlich Sigmund 1423 einen Aufruf zum Kriege erliess, theilten die Kurfürsten dies zwar den übrigen Reichsständen mit, fügten aber hinzu, diese möchten sich durch nichts, also auch durch jenen Aufruf nicht, vom Besuche [75] eines angesetzten Tages abhalten lassen[15]. Ja, sie theilten damals einigen Städteboten im Geheimen mit, „das ire meinunge nit si an die Hussen zu dienen“[16]. Dieselbe Stimmung beherrschte sie noch, als sie im Juli 1424 zu Mainz einer Gesandtschaft an den König die Instruction zu geben beschlossen: wenn die Husitenfrage erwähnt werde, sollten sie erst auf eine eingehende Vorberathung dringen, „nach dem dan jederman vast verdroßen und unwillig ist worden, das man als dick umbsunst und ungeendet auf si gezogen hat“[17]. Demnach wird man ohne zwingende Gründe nicht annehmen können, dass in der Zeit zwischen diesen beiden gleichlautenden Aeusserungen grosse Kriegslust die Kurfürsten beseelt habe.

Wenn Lindner weiter noch gegen die revolutionäre Tendenz des Vertrages geltend macht, die Kurfürsten hätten doch unmöglich so unsinnig sein können, gegen die Böhmen und deren rechtmässigen König gleichzeitig Krieg führen zu wollen, so erledigt sich dieser Einwand dadurch, dass sie, wie wir ja gesehen haben, an einen Krieg gegen die Böhmen zunächst nicht dachten. Ebenso wenig dachten sie in Bingen an ein gewaltsames Vorgehen gegen den König; sie wussten wohl, dass dieser gar nicht in der Lage sein werde, sie an der ruhigen Durchführung ihrer Beschlüsse zu hindern. Freilich brauste er heftig auf, als er von dem Geschehenen Kunde erhielt; „do was der Romsch konig gar zornig“, berichtet uns ein Augenzeuge[18], „und schrei lute und gab in zorniclich antwurt und sprach: hetten wir den korfürsten also hoch gesworn als sie uns geton haben, wir wolten wol anders mit in umbgon danne sie mit uns tunt.“ War das Bündniss von solcher Tendenz, wie wir behaupten, so ist des Königs Zorn ja auch sehr begreiflich; wenn sich aber sogar seine Feinde mit den übrigen Kurfürsten, wie es Lindner ansieht, verbündet hatten, um ihm gegen die Böhmen zu helfen, so ist gar nicht einzusehen, warum die Nachricht davon ihn so erbitterte.

[76] Noch einen letzten Einwand Lindner’s dürfen wir nicht übergehen; er macht geltend, mit unserer Auffassung des Kurvereins stehe die Bedingung nicht im Einklang, welche die Kurfürsten der vorläufigen Aufnahme des Wettiners in ihr Collegium beifügten. Es wurde diesem nämlich auferlegt[19], dem Lauenburger, seinem Concurrenten, binnen eines Jahres vor dem König als Frager und den Kurfürsten als Urtheilern zu Recht zu stehen; versäume es der König, oder werde er daran gehindert, innerhalb der Frist den Gerichtstag abzuhalten, so sollten beide Bewerber sich, wieder innerhalb eines Jahres, von den Kurfürsten allein ihre endgültige Entscheidung holen. Dass hier in dieser Weise des Königs erwähnt wird, während der Binger Vertrag sein Dasein eigentlich ganz ignorirt, muss ja auffallen; aber die Erklärung liegt doch nahe genug. Der Kurverein war eine Abmachung der Kurfürsten unter sich, eine Norm für ihr ferneres Handeln, und den Wortlaut davon brauchte Niemand als sie und ihre Räthe zu erfahren; hier konnten sie also ganz offen sagen, was sie eigentlich wollten[20][WS 1]. Hingegen war die Festsetzung über die Sächsische Kur bestimmt, mindestens dem Könige und dem Herzoge von Lauenburg officiell mitgetheilt zu werden. Bedenkt man das, so erscheint es schon kühn genug, dass die Kurfürsten für den höchst wahrscheinlichen Fall, dass der König den Tag in einem Jahre nicht abhalte, die Entscheidung für sich allein in Anspruch nahmen, wozu sie auch nicht das geringste Recht hatten.

Fassen wir nun die Bestimmungen des Vertrages möglichst kurz zusammen. Die Kurfürsten, die von Gott zur Sorge für Ruhe und Ordnung im Reiche verordnet sind, und denen es gebührt, hierzu die übrigen Reichsstände mit heranzuziehen, constituiren sich zur Erfüllung dieser Aufgaben, wozu auch die Bekämpfung der Husiten gehört, als eine dauernd thätige Körperschaft. Sie treten zusammen, sobald einer von ihnen [77] einen Angriff auf seine Rechte oder Besitzungen erfährt, und zur Beschlussfassung über alle Angelegenheiten, die das Reich, die Kirche oder die Kurfürsten als solche betreffen. Im ersteren Falle tritt bewaffnete Intervention aller für das angegriffene Bundesglied ein, sobald dieses sein Recht vor dem Collegium nachgewiesen hat; im letzteren wird ein gemeinsames Vorgehen aller in der betreffenden Angelegenheit festgesetzt. Als besondere Fälle, in denen alle gemeinsam den Anordnungen des Königs entgegenzutreten haben, werden vorgesehen: jeder Versuch des Königs, das Reich zu schmälern, oder einen Reichsvicar ohne vorherige Zustimmung des Kurcollegiums zu ernennen. Stirbt ein Kurfürst, so wird sein Nachfolger in die Vereinigung aufgenommen.

Dass die Gedanken eines Theiles der Kurfürsten noch bedeutend weiter gingen, ersehen wir daraus, dass im Juli 1424 auf der Mainzer Versammlung vorgeschlagen und, wie es scheint, anfangs beschlossen wurde[21], vom Könige eine schriftliche Erklärung zu verlangen, dass, falls er seinen Pflichten nicht in richtiger Weise nachkomme, die Kurfürsten berechtigt sein sollten, ihn darauf aufmerksam zu machen, und sich zu versorgen und zu bewahren, wie sie dem Reiche schuldig seien, falls der König sich dann nicht bessere. Mit dürren Worten wurde hier verlangt, der König solle ein Aufsichtsrecht des Kurcollegiums über seine Amtsführung und ein Recht der Gehorsamsaufkündigung anerkennen.

Solche Ansprüche erwachen nicht über Nacht; wer sie im Juli 1424 vertreten hat, dem werden sie auch im Januar nicht fremd gewesen sein. Erwägt man noch, dass die weitgehendsten Rechte, welche die Kurfürsten sich 1422 zu Nürnberg angemasst hatten, in das Binger Programm keine Aufnahme gefunden haben, so erkennt man, dass bereits diese schärfere Fassung der Bundesurkunde auf einem Compromiss zwischen radicaleren und gemässigteren Elementen innerhalb des Collegiums beruht.

Aber wenn auch die schärfere Tonart nicht durchdrang, die Binger Beschlüsse waren auch so weittragend genug. Es war bisher ein Vorrecht der einzelnen Kurfürsten gewesen, dass [78] sie zu bestimmten Reichsangelegenheiten herangezogen werden mussten, wo andere Fürsten nicht mitzusprechen hatten. Von jetzt an sollte die Betheiligung an allen Reichsangelegenheiten Sache des Collegiums, der Gesammtheit der Kurfürsten sein. Bisher waren die alleinigen Factoren der Reichsregierung König und Reichstag gewesen; jetzt versuchte das Kurcollegium sich zwischen beide zu schieben. Wäre ihr Programm voll durchgeführt worden, so wäre der Schwerpunkt der Reichsregierung aus den Reichstagen in die Kurfürstentage verlegt worden; denn einen Vorschlag, über den der König nicht vorher mit dem Collegium eine Vereinbarung erzielt hätte, überhaupt an den Reichstag zu bringen, wäre, da hier die Stimmen gewogen und[WS 2] nicht gezählt wurden, ganz aussichtslos gewesen. Der König würde von diesen Kurfürstentagen beständig in seinem Thun und Lassen controlirt worden sein, und für bestimmte Fälle war es ja klar ausgesprochen, dass das Collegium ihm offenen Widerstand leisten wolle. Wollte der König es also nicht auf einen Krieg ankommen lassen, so hätte er nach dem Willen des Kurcollegiums regieren müssen. Das Wahlcollegium hatte sich durch Feststellung dieser Principien in „des Reiches innersten Rath“ verwandelt.

Dass die Kurfürsten diese Tragweite ihrer Massnahmen nicht erkannt hätten, wird Niemand behaupten wollen, der die in Mainz vorgebrachten, noch weiter gehenden Absichten eines Theiles von ihnen kennt. Aber vielleicht glaubten sie nur, ihnen wirklich zustehende Rechte zu formuliren, waren sich nicht bewusst, dass sie etwas gänzlich Neues schufen? Da erst die letzten 6 Jahre Präcedenzfälle[WS 3] boten, so ist das nicht recht wahrscheinlich; aber wir können sogar den Gegenbeweis liefern.

Die Kurfürsten schalteten nämlich, als sie zu Bingen Friedrich dem Streitbaren ihre Willebriefe gaben, in den bisher üblichen Text einige Worte ein. Noch in den Willebriefen zur Belehnung des Hohenzollern mit Brandenburg aus dem Jahre 1415 lautete der Text[22]: „das wir als ein churfurste zue derselben gabe und verschreibunge unsern gueten willen und verhengnuß gegeben und auch den vorgenanttenn burggraffen Friderichen zue unserm mitchurfursten aufgenomen haben“ etc. [79] Dagegen sagen die Binger Briefe für den Wettiner[23]: „das wir als ein kurfurste mit wissen und willen anderer unser mitkurfursten denselben herrn Friderichen zu unserm mitkurfursten und in unser mitkurfursten rad ufgenomen und emphangen haben.“ Dass diese Zusätze keine zufälligen sind, folgt daraus, dass sie sich in allen fünf Briefen finden; sie beruhen also auf einem Beschluss des Collegiums. Die Einschiebung des ersten Passus ist eine directe Folge der eben vereinbarten Bestimmung, in allen Reichssachen nur gemeinsam zu handeln; die des zweiten zeigt, dass die Kurfürsten sich bewusst waren, der „Kurfürstenrath“ sei eine neue, bisher in dieser Weise nicht bestehende Vereinigung, in der der neue College noch ausdrücklich aufgenommen werden musste. Genau das, was wir oben als die in Bingen sanctionirte Neuerung nachwiesen, die Errichtung eines ständigen Kurfürstenrathes, sahen sie also selbst als ihre Neuschöpfung an; wozu hätten sie sonst jene Worte hinzugefügt?

Es wird also dabei bleiben müssen, dass die Kurfürsten in Bingen mit Bewusstsein eine Aenderung der Reichsverfassung anstrebten. Aber das Binger Programm kam in seiner ganzen Schärfe nicht zur Durchführung; erst wurde der Bündnisstext umgeändert, dann schien es sogar eine Zeit lang, als solle der ganze Bund aus einander fallen. Wodurch wurde diese Entwicklung bedingt, und wie kam es, dass sich die Bundesglieder doch so bald wieder zusammenfanden und thatsächlich grosse Erfolge erzielten? Das wollen wir jetzt noch untersuchen.


III.

Heuer meint, die Einigkeit unter den Kurfürsten sei von so kurzer Dauer gewesen, weil nicht eine gemeinsame Idee, sondern Privatinteressen ihren Bund veranlasst hätten; sobald diese andere Combinationen bedingten, fiel der Bund naturgemäss aus einander. Ich kann ihm darin nicht ganz Recht geben; denn eine gemeinsame Idee war allerdings vorhanden; verlangt doch gerade ihr Vertrag Unterordnung des Einzelnen unter die Gesammtheit der Verbündeten. Diese Idee war eben die, dass, wenn der König für das Reich nicht sorge, das Kurcollegium [80] das thun müsse; sie war ihnen durch die Lage des Reiches nahegelegt, ja fast aufgedrungen worden. Das Gedeihen oder Nichtgedeihen der neuen Einrichtung hing also wesentlich davon ab, ob das gemeinsame oder das Einzelinteresse stärker sein werde; und auch dafür waren nicht allein persönliche Bestrebungen oder Verwicklungen massgebend, sondern tiefer liegende Gründe.

Innerhalb des Kurcollegiums bildeten einen engeren Kreis die vier Rheinischen Kurfürsten. Ihre Gebiete lagen eng bei einander, so hatten sie viele gemeinsame Interessen. Aber lag der Schwerpunkt ihrer Stellung etwa in diesen Gebieten? Gewiss nicht; denn was war ein Erzbischof von Mainz, ja selbst ein Kurfürst von der Pfalz als Territorialherr? Es gab Fürsten genug, die über weit bedeutendere Gebiete verfügten, obwohl sie im Kurcollegium nicht vertreten waren. Für sie war vielmehr die Grundlage ihrer Machtstellung ihre Kurwürde mit den daran haftenden Rechten; jede Ausdehnung der kurfürstlichen Befugnisse befestigte die Stellung des Einzelnen; dafür liess sich eine etwas straffere Disciplin wohl ertragen.

Ganz anders bei den beiden östlichen Kurfürsten. Für den Markgrafen von Brandenburg und seit der Vereinigung der Wettinischen Marken mit den Askanischen Besitzungen auch für den Herzog von Sachsen war die Hauptquelle ihrer Macht ihr ausgedehntes Territorium; konnte es doch schon der erste Hohenzoller unternehmen, eine von Kaiser und Reich ganz unabhängige, nur von den Interessen seines Territoriums beeinflusste Politik zu treiben. Zu ihrer landesfürstlichen Stellung waren die kurfürstlichen Rechte eine werthvolle Zugabe, aber weiter nichts. Und nun wurde ihnen zugemuthet, eine Erweiterung dieser kurfürstlichen Rechte durch Einbusse an landesherrlicher Selbständigkeit zu erkaufen; sie sollten ihre Politik der Aufsicht ihrer Rheinischen Collegen unterstellen, für welche andere territoriale Interessen massgebend waren, und auch diese erst in zweiter Linie; jeden Augenblick konnten sie von diesen überstimmt werden und hatten sich dann zu fügen.

Es ist klar, wie sehr bei strenger Durchführung der Binger Beschlüsse die Rheinischen Kurfürsten gewonnen, die östlichen verloren haben würden. Aber warum haben sie sich denn auf den Bund überhaupt eingelassen? Weil sie beide augenblicklich [81] der Hilfe der Rheinischen Collegen dringend bedurften, der Wettiner zur Anerkennung seiner Kurwürde, der Hohenzoller zur Abwehr der ihm durch die Verbindung zwischen Sigmund und Erich von Skandinavien drohenden Gefahr. Fasst man die Entstehung der Einung so auf, so ist zweierlei klar: zuerst, dass Friedrich von Brandenburg unmöglich ihr eigentlicher Stifter gewesen sein kann; ferner, dass die beiden östlichen Kurfürsten zum Abfalle neigen mussten, sobald die Vortheile, die sie von dem Bunde erwarteten, die Einbusse nicht mehr aufwogen, die sie durch ihn in ihrer politischen Bewegungsfreiheit erlitten.

Nun waren eigentlich die beiden östlichen Kurfürsten auf ein Zusammengehen mit Sigmund angewiesen; des Hohenzollern Unternehmen, einen Nordostdeutschen Grossstaat zu gründen, war in Uebereinstimmung mit dem Könige unternommen und nur in Uebereinstimmung mit ihm durchzuführen; der Wettiner war Sigmund’s natürlicher Bundesgenosse gegen die Böhmen. Beide waren nur augenblicklich aus ihrer politischen Bahn geworfen, der eine durch des Königs persönlichen Groll gegen ihn, der andere durch die Nothwendigkeit, die kurfürstlichen Willebriefe zu erlangen. Es war daher sehr geschickt, dass Sigmund, nachdem sein erster Zorn über den Abschluss des Bundes – von dessen genauem Wortlaute er natürlich keine Kenntniss hatte[24] – verraucht war, durch eine Versöhnung mit dem Brandenburger den Bund zu zersprengen suchte. Friedrich ging auf das königliche Anerbieten bereitwillig ein, erklärte sich sogar bereit, an den königlichen Hof zu kommen, traf aber doch keine bindenden Abmachungen, bevor er sich mit seinen Collegen, wie es der Vertrag verlangte, darüber berathen hatte. So kam er jedenfalls in einer für den König sehr versöhnlichen Stimmung im Juli 1424 zu dem Mainzer Tage, und mit Recht hat Heuer betont, dass er und Friedrich von Sachsen jetzt das lebhafteste Interesse daran hatten, den Binger Vertrag so umzugestalten, dass er kein absolutes Hinderniss einer Versöhnung mit Sigmund bilde.

Es war also jedenfalls ein äusserst ungeeigneter Zeitpunkt für die extreme Richtung, gerade hier in Mainz mit jenem Verlangen [82] hervorzutreten, man solle vom Könige die Anerkennung des kurfürstlichen Aufsichtsrechtes fordern. Auf welche Art sich der Kampf beider Parteien vollzogen hat, darüber wissen wir nichts Näheres, aber das Resultat war, wie das neue Bundesdocument ausweist, ein fast vollständiger Sieg Brandenburgs und Sachsens. Vermuthlich haben sie einfach erklärt, wenn man sie an der Aussöhnung mit Sigmund hindern wolle, so würden sie aus dem Bunde überhaupt austreten, und haben dadurch die Aenderung erzwungen.

In der Würdigung des neuen Vertrages stimme ich mit Heuer im wesentlichen überein; nur folgende Punkte möchte ich betonen. Die Principien blieben völlig gewahrt, nur trat an die Stelle der revolutionären Form eine loyale, die Empfindlichkeit des Königs möglichst schonende Ausdrucksweise; man liess die Fiction, als gebe es eigentlich keinen König, fallen, und stellte sich, als ständen alle die beanspruchten Rechte mit denen des Königthums in gar keinem Widerspruche. Ja, man ging so weit, durch die Einfügung des „Gemeiners“ dem Vertrage den Schein eines Landfriedensbundes zu geben, um seinen Abschluss als eine rechtlich erlaubte Handlung hinstellen zu können. In dieser Form sollte der Vertrag dem Könige als der zu Bingen geschlossene mitgetheilt werden und erhielt desswegen das Datum des früheren.

Als Aequivalent für diese Zugeständnisse erlangten die Rheinischen Kurfürsten die ausdrückliche Betonung des Majoritätsprincips für alle Berathungen des Collegiums, das, wie wir sahen, so sehr in ihrem Interesse lag, und die Festsetzung der ihnen bequem gelegenen Städte Mainz und Aschaffenburg als Versammlungsorte. Endlich musste der Hohenzoller seine geplante Reise nach Wien verschieben, bis alle Kurfürsten, wie man ausmachte, zum Reichstage sich dorthin begeben würden. Man sieht, ein Separatfriede Friedrich’s mit dem Könige sollte verhindert werden. Nachdem man sich noch dahin geeinigt hatte, dass die kurfürstliche Zusicherung, den Wiener Reichstag besuchen zu wollen, dem Könige durch eine Gesandtschaft mitgetheilt werden solle, reisten die beiden östlichen Kurfürsten ab, ihren Collegen die genauere Instruction der Gesandten überlassend.

Zu diesem Zwecke tagten die Rheinischen Kurfürsten bald [83] nachher in Lahnstein; hier kam ihnen ein Brief der beiden anderen zu, worin diese in Folge neuer schlechter Nachrichten aus Böhmen baten, in Bezug auf die Husitenfrage möge die Instruction etwas tröstlicher für den König gefasst werden, als in Mainz verabredet war. Aber jene gaben dieser Bitte keine Folge; ja, sie missbrauchten ihre Vollmacht, um den Gesandten eine von den Mainzer Abmachungen ganz abweichende Instruction zu geben[25]. Sie liessen dem Könige sagen, nach Wien zum Reichstage könnten sie nicht kommen; er möge sich zu einem solchen nach Regensburg oder Nürnberg bemühen, oder doch seine Vertreter dahin senden. Sie waren ja die Majorität, brauchten also den Widerspruch der Abwesenden nicht zu fürchten. Ihr Zweck war natürlich, das Zustandekommen des Reichstages überhaupt zu hintertreiben, damit die Aussöhnung des Hohenzollern mit Sigmund verhindert werde.

[84] Diesen Zweck haben sie, wie Heuer ausführt, völlig erreicht. Der König stellte, nachdem er die kurfürstliche Botschaft vernommen, so weitgehende Forderungen, dass Friedrich darauf nicht eingehen konnte, und den Gedanken, den er offenbar schon gefasst hatte, die Lahnsteiner Beschlüsse durch einen Separatfrieden mit Sigmund zu beantworten, nothgedrungen fallen lassen musste. Aber man kann sich denken, wie wenig erbaut er von dem Verfahren seiner Verbündeten war; wahrscheinlich auf seine Veranlassung wurde ein neuer Bundestag im November 1424 nach Aschaffenburg berufen. Hier zeigten sich die Rheinischen Kurfürsten, nachdem sie ihren Zweck erreicht hatten, wieder ganz willfährig; sie liessen sich bereit finden, in einem neuen Briefe an den König zu erklären, sie seien jetzt bereit, nach Wien zu kommen, und bisher nur durch starke und merkliche Ursachen daran gehindert worden[26]. Wie man sich denken konnte, wies Sigmund jetzt das Anerbieten zurück, und Friedrich von Brandenburg war wieder auf ein Zusammengehen mit den Collegen angewiesen.

Dieser Sieg machte der extremen Richtung wieder Muth. Als der König auf dem Wiener Tage, den er ohne die Kurfürsten abhielt, an den Städten und Reichsrittern Bundesgenossen gegen diese zu erhalten suchte, als er Andeutungen fallen liess, dass er einen ernstlichen Kampf beabsichtige[27], da tauchte der [85] Gedanke auf, diesen Plänen durch die Absetzung des Königs zu begegnen. Konrad von Mainz liess im April 1425 ein Schreiben an die Kurfürsten abgehen, wodurch er sie auf den 7. Juni nach Würzburg entbot „sub pena privacionis jurisdiccionis sue quam in eleccione obtinent“; ich kann das trotz Lindner’s[28] Widerspruch nicht anders übersetzen als „bei Verlust des Rechtes, das ihnen bei der Königswahl zusteht“.

Aber diesmal machte der Sächsische Kurfürst seinen Collegen einen Strich durch die Rechnung. Bei dem immer bedrohlicheren Anwachsen der Husitengefahr konnte er wohl die Kurfürsten, aber nicht Sigmund entbehren; er entschloss sich, offen zum Könige überzutreten. Ende Mai reiste er nach Ungarn ab, um das Bündniss von Waizen mit ihm abzuschliessen und die Belehnung mit Sachsen zu empfangen.

Sein Abfall scheint den übrigen Kurfürsten die Absetzungspläne verleidet zu haben; sie versuchten wieder einzulenken, indem sie dem Könige von neuem ihr Erscheinen zu einem Reichstage anboten[29], und der König ging diesmal darauf ein. Als dann im Herbst 1425 der Hohenzoller, von den Verbündeten im Stiche gelassen, seinen nordischen Gegnern erlag und bald nachher auch seinen Separatfrieden mit Sigmund schloss, da schien die Binger Einung zersprengt zu sein.

Wäre damit die Geschichte dieses Kurvereins zu Ende, so wäre seine Bedeutung für die Entwicklung der Reichsverfassung [86] so hoch nicht anzuschlagen. Aber da das Bündniss formell nie gelöst war, hatten die Theilnehmer stets die Möglichkeit, darauf zurückzugreifen, sobald die gemeinsamen Interessen wieder mehr in den Vordergrund traten; und das geschah sehr bald. Denn die Gründe, welche zum ersten Zusammenschliessen des Collegiums den Anlass gegeben hatten, die dauernde Abwesenheit des Königs und der Mangel jeder Centralgewalt, bestanden fort. Sie veranlassten schon auf dem Frankfurter Tage vom April 1427 die Kurfürsten zu gemeinsamem Auftreten, und zur gütlichen Begleichung der entstandenen Streitigkeiten. Und gerade damals mussten sie empfinden, dass ihre Uneinigkeit nur dazu führe, dass fremde Mächte die Leitung der Reichsangelegenheiten in die Hand bekamen; denn gerade hier ergriff bei dem Mangel jeder anderen Autorität ein ausländischer Priester, der Cardinal von Winchester, die Führung, schrieb den Reichstag aus und redete mit den Reichsständen in einem Tone, wie es lange kein König gethan hatte[30].

Es kam hinzu, dass Friedrich von Brandenburg, seit er 1426 die Regierung der Mark seinem Sohne übergeben und seine nordische Vergrösserungspolitik endgültig aufgegeben hatte, durch territoriale Interessen nicht mehr in dem Masse gebunden war wie früher; dass ferner die Rheinischen Kurfürsten mehr und mehr aus der rein antiköniglichen Richtung in die gemässigtere einlenkten, welche wohl alle occupirten Rechte behaupten, es aber dem Könige durch Wahrung der äusseren Ehrerbietung ermöglichen wollte, das ohne Widerspruch geschehen zu lassen.

So konnte nach dem Tode Friedrich’s des Streitbaren (1428) die Aufnahme seines Sohnes in den Bund erfolgen[31], als sei dieser inzwischen in unveränderter Thätigkeit geblieben.

Gerade weil sich die Kurfürsten nach allem Vorgefallenen doch wieder zusammenfanden, war anzunehmen, dass sie aus den Ereignissen gelernt hätten, dass die Rheinischen ihre Majorität nicht wieder zur Vergewaltigung der Collegen benutzen würden, und dass diese ihrerseits fester zum Bunde halten [87] würden als früher. Und auf der anderen Seite wurde die ruhige Entwicklung dadurch sehr gefördert, dass Sigmund jetzt in der That die Kurfürsten ruhig gewähren liess; jetzt lenkte er in die Richtung ein, welche Lindner dahin charakterisirt, dass er die inneren Reichsangelegenheiten den Kurfürsten fast allein überlassen und sich nur die auswärtige Politik vorbehalten habe. Er hatte eben einsehen gelernt, dass er in Feindschaft mit dem Kurcollegium in Deutschland machtlos sei.

Dieses Verhalten des Königs sicherte den Kurfürsten die Ausübung der hauptsächlichsten usurpirten Rechte: dass sie zur Schliessung von Kurvereinen und Mitregierung im Reiche berechtigt seien, galt von jetzt an als ausgemacht und wurde bald als altes Herkommen angesehen. Sogar dem Wortlaute nach bildet die zweite Fassung des Binger Vertrages die Grundlage späterer Kurvereine[32].

Wenn auch die weitere Wirksamkeit des Collegiums immer dadurch behindert wurde, dass die theoretisch festgesetzte Einhelligkeit in allen Fragen thatsächlich recht oft nicht zu erzielen war, so wurden doch allmählich eine Reihe von weiteren Consequenzen aus dem Binger Principe gezogen und gewohnheitsrechtlich festgelegt. Zwar der Versuch der Kurfürsten, in die Europäische Politik nach Sigmund’s Tode durch ihre Neutralität während des Baseler Concils entscheidend einzugreifen, schlug fehl; aber desto erfolgreicher zogen sie die Schlussfolgerungen aus ihrer neuen Organisation auf den Reichstagen und bei den Vorverhandlungen zu den Königswahlen.

Auf den Reichstagen war es noch zu Sigmund’s Zeit die Regel, dass alle Fürsten gemeinsam die königlichen Vorschläge in Berathung nahmen[33]. Ueber vorher bekannte Anträge konnten sich nun die Kurfürsten, wenn sie gemäss dem Binger Vertrage gleichartig darauf antworten wollten, vor Beginn des Reichstages verständigen; wie aber, wenn eine unvorhergesehene Vorlage an die Versammlung herantrat? Dann mussten sich die Kurfürsten oder ihre Gesandten, um ein gleichlautendes Votum herbeiführen zu können, zunächst zu gesonderter Berathung und Abstimmung [88] zurückziehen. Das scheint thatsächlich schon unter Sigmund ausnahmsweise, aber erst nach dem Binger Kurvereine, vorgekommen zu sein[34]. Als es öfter geschah und endlich Regel wurde, nahmen die Kurfürsten dies als ihr Vorrecht in Anspruch. So entstand allmählich die Kurfürstencurie der Reichstage, welche nichts anderes war, als eine specielle Form des in Bingen gegründeten Kurfürstenrathes. Welche Umwälzung gerade dieser Vorgang in der ganzen Reichstagsverfassung hervorgebracht hat, ist bekannt; er führte dazu, dass schon am Ende des Mittelalters die Stimmen der Kurfürsten denen aller übrigen Fürsten, Grafen und Herren gleichwerthig gerechnet wurden. Dass diese Veränderung vom Binger Kurverein ausgeht, scheint mir klar zu sein.

Vor den Wahlen hatten bisher die Kurfürsten einzeln oder ein paar gleichgesinnte zusammen dem Candidaten ihre Bedingungen gemacht; so war es noch bei Sigmund’s Wahl gewesen. Das hörte auch jetzt nicht auf; aber ausserdem legte jetzt das Collegium seine Bedingungen vor, die Wahlcapitulation. Schon Albrecht II. legte das Collegium eine Reihe von Forderungen vor[35]; so sollte er Privilegien nur mit kurfürstlicher Bestätigung erneuern und einen von den Kurfürsten ausgearbeiteten[WS 4] Landfriedensentwurf sanctioniren. Aber noch traten diese Forderungen in der bescheidenen Form von Rathschlägen auf, und Albrecht hat sich nicht viel um sie gekümmert. Aber wir sehen hier den Ansatz zu der Entwicklung, welche seit der Zeit Karl’s V. den Wahlcapitulationen die Geltung von Reichsgesetzen verschaffte. Und gerade diese Wahlcapitulationen wurden nun das Mittel, die durch Herkommen geheiligten kurfürstlichen Rechte auch gesetzlich festzulegen. Schon Karl V. musste versprechen[36], kein Bündniss mit fremden Mächten abzuschliessen, keinen Krieg zu beginnen, keine neuen Steuern oder Zölle einzuführen, keinen Reichstag zu berufen, ohne vorher die Kurfürsten befragt zu haben, und zwar nicht die einzelnen, sondern, [89] wie ausdrücklich betont wird, das zu einer Versammlung berufene Collegium, das mit Stimmenmehrheit entscheidet.

Aus dem Gange unserer Untersuchung erhellt, dass die spätmittelalterliche Entwicklung der kurfürstlichen Vorrechte darin bestand, dass an die Stelle der Theilnahme Einzelner an gewissen Regierungshandlungen die Theilnahme des Collegiums an allen wichtigeren Regierungshandlungen gesetzt wurde. In dieser Entwicklung aber bilden die beiden Fassungen des Binger Kurvereins die entscheidenden Punkte; die erste, weil in ihr die Kurfürsten das Ziel klar bezeichneten und mit Bewusstsein zu verfolgen beschlossen; die zweite, weil in ihr dem Vertrage seine revolutionäre Form genommen, und es so dem Königthum ermöglicht wurde, ihn stillschweigend hinzunehmen.



Anmerkungen

  1. Mitthh. d. Inst. f. Oest. G.-Forschung XIII S. 394–410; DZG IX S. 119–122; Dt. G. unter d. Habsb. u. Luxemb. II S. 338–342 u. passim.
  2. DZG VIII, 207–225 und IX, 122–123. Ich möchte seiner Beweisführung noch folgendes hinzufügen: Dass B sicher nicht im April 1427 auf dem Frankfurter Tage entstanden ist, scheint mir daraus hervorzugehen, dass damals noch Mainz und Pfalz in Streitigkeiten lagen, die erst nach Schluss des Tages, am 15. Mai, ausgeglichen wurden, und zwar durch Schiedspruch dreier ausserhalb des Collegiums stehender Fürsten, während doch nach B der „Gemeiner“ des nächsten Jahres (da in diesem Falle die eine Partei, Mainz, nach Lindner’s Ansicht Gemeiner des laufenden Jahres gewesen sein müsste) das hätte thun müssen. Man hätte also den eben erst geschlossenen Vertrag völlig ignorirt. Hingegen scheint für Heuer’s Ansicht zu sprechen, dass der erste Tag nach der Mainzer Juliversammlung in Aschaffenburg stattfand, den Anordnungen von B entsprechend.
  3. Lamprecht in Forsch. z. Dt. G. XXI, S. 1–19; Ficker in MInstOestG III, 1–62.
  4. Vgl. Mon. Germ. Leges II, 435.
  5. Böhmer, Regesten Kaiser Ludwig’s d. Baiern; Wahlacten und andere Reichssachen Nr. 52 (23. Aug. 1318). S. 239.
  6. Vgl. über den Renser Bund Ficker in Sitzber. d. Wiener Ak. XI S. 673–710, der auch nachweist, dass die allgemeinen Ausdrücke in der Bundesurkunde ihre Erklärung finden in dem Widerstreben, das Boëmund von Trier einer ausdrücklichen Erwähnung des Papstes entgegensetzte.
  7. Gerade, dass der König nicht einmal einen Vertreter zu den Verhandlungen schicken dürfe, liessen sich die Kurfürsten in den Wahlcapitulationen später wieder und wieder verbriefen.
  8. s. Harnack, Kurfürst.-coll. S. 224–225; diese Versammlungen kamen nie zur Ausführung.
  9. Harnack S. 227–228.
  10. Es stand natürlich dem Könige frei, so oft er es gut fand, die Kurfürsten um Rath zu fragen oder zur Mitwirkung bei Reichsangelegenheiten heranzuziehen; das konnte aber nie einen Anspruch der Kurfürsten zu solcher Heranziehung begründen, wie denn auch der König ebenso gut andere Fürsten befragen konnte, wenn er es für wünschenswerth hielt.
  11. Vgl. für die Einzelheiten meine Schrift: „König Sigmund und Kf. Friedr. v. Brandenburg“ S. 55 ff.
  12. Ich gehe auf die Entstehung dieses Vicariatsstreites absichtlich nicht näher ein, da Heuer eine neue Veröffentlichung darüber in Aussicht gestellt hat.
  13. Dt. RTA VII, Nr. 271: „und noch dem er zu euch und dem riche gehoret und von bapsten, keisern und kunigen ufgesetzt befriet befestnet und herkommen ist und sunderlich noch dem und ir sin vogt und beschermer sit.“
  14. Lindner, MInstOestG XIII S. 402 legt Gewicht darauf, dass in der Einleitung nur von der durch die Ketzer bedingten Noth, „nicht von sonstigen Missständen im Reiche“ die Rede ist, soweit nämlich die Ziele des Vertrages in der Einleitung bezeichnet werden, während die Pflicht der Kurfürsten für alle Gebrechen des Reiches zu sorgen, dort nur herangezogen wird, um die Berechtigung und Nothwendigkeit, gegen die Ketzer einzuschreiten, zu begründen. Was will aber diese officielle Motivirung bedeuten, wenn der thatsächliche Inhalt des Vertrages, wie ich gezeigt zu haben glaube, darüber hinaus geht? Offenbar ist die Husitengefahr in der Einleitung nur vorgeschoben, um der ganzen Vereinbarung durch die Beziehung zur gemeinsamen Angelegenheit der gesammten Christenheit eine höhere Weihe zu geben. Wenn Lindner ferner betont, die älteste gleichzeitige Rückennotiz sage nur „der ketzerei in Behem halben“, so kann das Urtheil eines mittelalterlichen Kanzleibeamten über die Bedeutung des Vertrages für uns doch wohl nicht massgebend sein.
  15. Dt. RTA VIII, Nr. 240, vgl. dazu Kerler a. a. O. S. 277.
  16. Kerler in Dt. RTA VIII S. 277 aus dem Baseler Briefbuch zum 15. Juni 1423.
  17. Dt. RTA VIII, Nr. 303.
  18. Eberh. Windecke ed. Altmann cap. 203 S. 176. Uebers. von v. d. Hagen, cap. 183.
  19. Dt. RTA VIII, Nr. 296 und 297 in fine.
  20. Im Sinne früherer Bemerkungen Lindner’s läge es vielleicht, hiergegen einzuwenden, die Kurfürsten seien „keine rechten Verschwörer“ gewesen, wenn sie es vermeiden wollten, dass der König über ihre Abmachungen Genaueres erfahre. Aber man könnte wohl eher gerade die merkwürdige Verschwörer nennen, welche ihre Absichten recht genau dem Bedrohten zur Kenntnissnahme vorlegen, damit er sich auch ja dagegen wehren könne.
  21. Instructionsentwurf Dt. RTA VIII Nr. 303; der betr. Artikel ist erst in den Text aufgenommen, dann durchstrichen. Vgl. unten S. 83 Anm.
  22. Riedel, Cod. dipl. Brand. II. Haupttheil Bd. 3, S. 235–237.
  23. Dt. RTA VIII, Nr. 297.
  24. Sonst wäre die Zurückdatirung des neuen Vertrages ganz sinnlos; Lindner ist hier gegen Heuer entschieden im Unrecht.
  25. Mein Versuch, die Unterschiede zwischen den beiden Instructionsentwürfen, Dt. RTA VIII, Nr. 303 und 309, zu erklären, weicht von den bisherigen ab. Man nahm gewöhnlich an (z. B. Wendt, Reichstag unter Sigmund S. 127), Nr. 303 sei zu Mainz inclusive der durchstrichenen Artikel beschlossen, oder aber, 303 sei nur ein nach Mainz mitgebrachter Entwurf, die zu Mainz festgestellte Instruction sei verloren (Heuer S. 220 Anm. 6). Nach der ersten Meinung hätte man nun in Lahnstein auf die Mahnung der beiden abwesenden Collegen die durchstrichenen Artikel ausgemerzt, um aber nicht allzu nachgiebig zu sein, dafür den Ortswechsel des Reichstages eingefügt. Heuer hat dagegen mit Recht betont, dass der Brief nicht um Milderung der durchstrichenen Artikel, sondern des Husitenartikels bittet, der aber in 309 nicht gemildert ist. Auch bleibt dann ganz unerklärt, warum man, wenn man überhaupt mildern wollte, den Ort des Reichstages änderte. Bei Heuer’s Erklärung aber sehe ich nicht ein, warum er einen dritten verlorenen Entwurf annimmt. Es scheint mir klar, dass die durchstrichenen Artikel bereits in Mainz cassirt sind, weil die beiden östlichen Kurfürsten, da sie überhaupt in dem Briefe für die Milderung eintreten, doch zunächst deren Weglassung verlangt haben würden, wenn sie noch gültig gewesen wären. Demnach glaube ich, dass Nr. 303 nach Abzug der durchstrichenen Artikel die endgültige Mainzer Vereinbarung darstellt. Daraus folgt, dass dem Verlangen nach Milderung in Lahnstein gar nicht entsprochen ist, denn der Husitenartikel ist unverändert. War aber eben der Sinn der Rheinischen Kurfürsten nicht auf Milderung gerichtet, so ist auch die Aenderung des Reichstagsortes erklärlich. Im übrigen stimme ich darin, dass eine Majorisirung der beiden östlichen durch die Rheinischen Kurfürsten vorliege, Heuer bei; meine frühere Darstellung (Kg. Sigmund u. Kf. Frdr. S. 182–184) ist darnach zu berichtigen.
  26. Vgl. Dt. RTA VIII, Nr. 336. Die von mir, Kg. Sigmund u. Kf. Frdr. S. 188–189 betonte Schwierigkeit, das kurf. Anerbieten mit der sonstigen Politik des Collegiums zu vereinbaren, glaube ich durch die obigen Ausführungen gehoben zu haben.
  27. Lindner, MInstOestG XIII S. 406, bestreitet, dass Sigmund die Städte zum Kampfe gegen die Kurfürsten habe gewinnen wollen; es habe sich in Wien nur um ein Landfriedensbündniss gehandelt. Aber wozu erklärte dann Sigmund, wenn die Städte ihm das verlangte, nicht näher bezeichnete Versprechen gäben, „so meint er doch also uf di stette hinusszukumend und lib und gut zu in zu stellen“ (Dt. RTA VIII, Nr. 331)? Das hat doch nur Sinn, wenn sie gemeinsam Jemanden bekämpfen wollen. Dass die Städte es auch so verstanden, zeigt der Brief an Nördlingen (VIII, Nr. 338, 2): „von ainer verainung wegen, die wir des richs stette mit sinen kuniglichen gnaden haben und zu im verpinden sollen mit verschribung, daz er wiste, wes er sich zu den stetten versehen solte und daz wir stette sin gnade niht liessen etc.“ Endlich liessen die Oberrheinischen Städte dem Könige eine Erklärung geben, worin es heisst (VIII, Nr. 358), der König habe ja augenblicklich einen Husitenzug vor und dazu Hilfe zugesagt erhalten; würde man ihm nun noch das verlangte schriftliche Versprechen geben, so fürchten sie, viele würden dann desto weniger zum Ketzerkriege beisteuern. Offenbar bezog sich also das Versprechen auch auf einen Kampf – und zwar nicht gegen die Böhmen – zu dem Geld und Mannschaft beigesteuert werden sollte.
  28. Lindner, MInstOestG S. 407 übersetzt, oder vielmehr interpretirt: „Wer zur Versammlung nicht kommt, verliert das Recht, als Kurfürst gehört und beachtet zu werden.“ Das heisst eben, er verliert seine Wahlstimme, oder es hat überhaupt keinen Sinn. Die chronologischen Schwierigkeiten, welche die Notiz bereitet, lassen sich wohl so lösen: Die Brandenburgische Gesandtschaft nach Polen, welche die Nachricht mitnahm, hatte am 29. Mai 1425 in Inovraclav Audienz (Dt. RTA VIII, Nr. 360); sie wird also Anfang oder Mitte Mai abgegangen sein; damals war das Mainzer Schreiben schon in Markgraf Friedrich’s Händen; es muss demnach im April verschickt sein. Wenn mein obiger Versuch, in diese verwickelten Vorgänge etwas Ordnung zu bringen, auch auf Combination beruht, so scheint er mir doch viel Wahrscheinlichkeit für sich zu haben.
  29. Dt. RTA VIII, Nr. 336.
  30. Vgl. v. Bezold, Kg. Sigmund u. d. Reichskrieg II, 124 f.; Wendt, Reichstag unter Sigmund S. 10–11 u. öfter.
  31. Dt. RTA IX, Nr. 155.
  32. z. B. gleich des nächsten von 1446 s. Müller, Reichstagstheatrum I S. 305.
  33. s. Wendt, Reichstag unter Sigmund: S. 50 ff.
  34. Die Belege s. Wendt, a. a. O. S. 53 und 55. Eine genauere Untersuchung der wichtigen Frage nach der Entstehung der Curienberathung fehlt noch.
  35. Altmann, Wahl Albrecht’s II., S. 97–100.
  36. s. Ziegler, Wahlcapitulationes S. 10. 12. 14.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Im Text fälschlicherweise Anmerkungsziffer 1 anstatt 2.
  2. Vorlage: nnd
  3. Vorlage: Präcendenzfälle
  4. Vorlage: ausgearbeitenden