Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das Panoptikon in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 639–642
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Panoptikon in London.

Mit einer Ansicht der Rotunde und der großen Elektrisir-Maschine.


Das endlose Labyrinth von Häusern und Straßen, Menschen und Thieren, Wagen mit Pferden, Eseln, Dampf und Menschen, von Geschäften, Leiden und Freuden, zerrissenen und vereinten Bestrebungen und Strebenden, Hungernden und Uebermästeten, von Wissenschaft, Kunst und Literatur, von Compagnien, Associationen und Instituten mit zum Theil erdumgürtenden Wirkungskreisen – London – bleibt auch den darin Lebenden und Altwerdenden ein Labyrinth, wenn man dessen Organismus und Anatomie nicht zu begreifen weiß.

Man muß bestimmte Hauptpunkte, die allgemein bekannt sind, als Einheiten annehmen und danach weiter messen und rechnen, etwa wie es die Omnibusse machen, die immer von der „Bank“, von „Regent-Circus“, Charing Croß“ u. s. w. an ihre Passagiere taxiren. Die Bank und Regent-Circus erweisen sich denn auch als die beiden Haupt-Brennpunkte von ganz London, ersterer zugleich als Centrum des Geld machenden, letzterer des Geld verzehrenden, genießenden Haupttheiles, des Westendes.

Von diesen beiden Herzkammern laufen nach allen Seiten Hauptschlagadern des Verkehrs, so daß man sich von dieser aus bald in jeden Winkel finden lernt. Desto leichter wird es uns werden, von Regent-Circus aus, die Regentstreet hinunter in den langen, kunterbunten Strom aller Nationen und der zweideutigen Vertreter derselben, die fortwährend um den weltberüchtigten Leicester Square herumwimmeln, hineinzusteuern. Es genügt hier nicht, rechts eine Scylla und links eine Charybdis für unsere Taschen und Tugenden zu vermeiden: das Verderben umlauert und umlungert, umbettelt und umsingt, umspielt und umstrahlt uns hier in tausenden unbekannter Formen und Verkleidungen. Im allerunschuldigsten Falle kauft der Unerfahrene ein Mikroskop für ein Penny (das übrigens nach Dickens ganz gut sein soll) oder einen Damenhut. Wenigstens ist es dem Nichtabgehärteten gewiß schwer, vor einem paradirenden Regiment aufgeputzter Hutläden, jeder mit einer oder mehreren ziemlich häßlichen Verkaufs-Sirenen vor der Thür geschmückt, vorbeizukommen, ohne von zwei oder drei Seiten gepackt und zum Kaufen angesungen zu werden. Dabei drohen dir zwischen den blendend erleuchteten Läden überall dunkele Courts (in Straßen verwandelte Höfe zwischen Häusern) wie Kanonenmündungen entgegen. Und dann kommt gar die Windmillstreet, mit dem allnächtlichen Balle des Lasters in Sammet und Seide, mit den strahlenden Lichtern und Gesichtern und dem gewissenlosen [640] Gedränge, den herabjauchzenden Tönen und den hinaufjauchzenden Bitten einer kleinen Göttin von Außen und eines großen Champagner-Teufels von Innen. Aber wir gehen nicht links mit der Thorheit, sondern wenden unsere Blicke rechts, wo in dem kolossalen Gebäude Wyld’s ungeheuerer Globus noch immer die Besucher in sein Inneres aufnimmt und rechts aufwärts, von wo uns ein großer, dichter, regelmäßig runder Kranz von Sternen aus dem schweren, schwarzen Himmel herunter strahlt. Welch ein seltsames Meteor! Da steht es, fest an den sonst ganz sternenlosen Himmel geheftet, ein regelmäßiger, aus hellstrahlenden Sternen geflochtener Kranz. Ist der Mensch schon fertig mit Ausschmückung der Erde, daß er hier den Himmel zu decoriren anfing? Denn Menschenwerk ist’s, das sehen wir gleich, da der Vater der Sterne durchaus nicht in diesem Stile baut.

Das Panoptikon.

Nun ja, es ist der oberste, um den einen schlanken Minaretthurm herumgelegte Kronenleuchter des Panoptikon. Panoptikon? Was steckt hinter diesem griechischen Worte? Zunächst ein seltsamer Palast und Tempel im maurischen Stile mit zwei schlanken Minarets, in welchem man, wie das griechische Wort bedeutet, „Alles sehen“ kann. Nach dem Krystall-Palaste der großartigste jener vielen Tempel der Volkskultur, die immer häufiger an verschiedenen Plätzen sich erheben und mit Belehrung und Wissenschaft für alle Volksklassen und mit diesen selbst füllen, so daß diese nicht mehr die schönste Zeit ihres Lebens auf Gymnasien und Universitäten zu verlernen brauchen, um zu lernen, was sie vergessen müssen, um etwas für’s Leben zu lernen, daß sie nicht mehr mit Zeugnissen und Legitimationen und bestandenen Prüfungen beladen am Thore des Lebens anzuklopfen nöthig haben, wenn ihr bestes Leben verblichen, sondern mit einem Schilling und einem schau- und wißbegierigen Sinne sofort auf die spielendste Weise mitten in den Ernst und die Tiefe des Wissens hineinsteigen können, ohne Lernen und Thun, Wissen und Leben jemals zu trennen. (Wir kehren uns nicht an das mitleidige Lächeln des Fachgelehrten über dieses oberflächliche Räsonnement, da wir wissen, daß die Oberflächlichkeit solcher modernen Institute auf das Gründlichste durch Praxis und Selbststudien aus unzählichen guten Lehrbüchern überwunden werden kann, ohne fünfzehn bis zwanzig Jahre durch den alten Hokus Pokus von Gymnasien und Universitäten zu opfern.)

Diese modernen Wissenschafts- und Kulturtempel für alles Volk treten jetzt an die Stelle jenes alten, heiligen Triebes, gothische Dome und Klöster zu erbauen, jene heiligen Graals für Auserwählte des Herrn, Gymnasien und Universitäten zu gründen und zu besuchen für eine Aristokratie des Wissens. Diese Tempel sind Kirchen des Wissens und der Bildung aller Klassen und Stände und Geschlechter und werden von den Ruinen gebaut, in welche die Mauern der aristokratischen und hierarchischen Zünfte des Glaubens und Wissens zerfallen.

Sie sind die Demokratie der Kultur, die hier eine würdigere Rolle spielt, als in der Politik, wo sie, auch dicht an Throne herangedrängt, bisher nur eine ziemlich klägliche Rolle zu spielen verstand. Sie wird von diesem Boden aus Alles erobern, ohne jemals etwas zu zerstören und zu unterdrücken. –

Der Krystall-Palast ist die Sonne dieser neuen Kultur-Demokratie, das Panoptikon deren nächster Planet. Die Zahl der kleineren Planeten und Trabanten, die überall in Form von „Athenäen“, polytechnischen Instituten u. s. w. um sie herum leuchten, wird alle Tage größer.

Treten wir ein in das Panoptikon und zwar gleich in die große Rotunde, deren einen Halbkreis wir in der Abbildung beigeben, wie er sich dem Eintretenden gradeüber ausspannt. Ein mildes, zum Nachdenken einladendes, blos von der Decke oben einfallendes Licht giebt dem Glanze und Reichthume der Architektur und der ausgestellten Schau-, Belehrungs- und Verkaufsobjecte die vortheilhafteste Beleuchtung, die Abends durch unzählige Kronenleuchterampeln ersetzt wird. Die Durchschnittslänge der Rotunde beträgt von Wand zu Wand 97 Fuß. Drei Galerien, von schlanken Säulen getragen, sind für den Genuß von Totaleindrücken die vortheilhaftesten Schaupunkte. Doch die ausgezeichneten und auserwählten Kunstwerke der Sculptur, welche die Rotunde unten umkränzen, wollen blos vom Parterre aus gesehen sein. Innerhalb des Statuencirkels finden die verschiedensten Arten von arbeitenden und durch Vorträge erklärten Mustermaschinen und naturwissenschaftlichen Instrumenten ihren Platz. In der Mitte dieser Instrumente springt ein graciöser [641] Wasserstrahl bis in das Lichtdach des Saales und spielt hernieder auf acht kleinere convergirende Strahlen. Unter den Maschinen erregt eine kolossale Elektrisirmaschine, die größte, die jemals construirt ward, das meiste Erstaunen[WS 1] und in ihren Anwendungen die reichste und in größten Maßstäben ausgeführte Einsicht in alle möglichen Wirkungsweisen der Elektricität und des Magnetismus.

Die Kraft der von der Maschine auf Leydener Flaschen gezogenen Electricität ist so groß, daß man mit einer einzigen Entladung den Blitz des Gewitters in voller Gewalt anschaulich machen kann. Große Hunde hat man schon mehrmals mit einem einzigen dieser Blitze so erschlagen, daß sie sofort gründlich und unwiderruflich todt waren. Wir setzen hier die Bekanntschaft mit der Construktion und Erzeugungs- und Sammlungsart von Elektricität dieser Maschine voraus; wenigstens halten wir dies nicht für den Platz, uns näher darauf einzulassen, da wir uns ein Totalbild des ganzen Instituts verschaffen wollen. Eine besondere Abbildung der Maschine giebt uns eine Vorstellung von deren kolossalen Dimensionen, wenn wir sie in ihren Verhältnissen zu den in genauer Proportion dazwischen dargestellten erwachsenen Menschen betrachten, und die einzelnen in Betracht kommenden Theile sind so sichtbar, daß jeder Sachverständige dem Laien Aufklärung und Einsicht in den ganzen Prozeß und die Funktionen der einzelnen Theile verschaffen kann.

Die große Elektrisirmaschine im Panoptikon.

Hinter der riesigen Electrisirmaschine erhebt sich eine prachtvolle, kolossale Orgel, welche in verschiedenen Zwischenräumen die Besucher nach der Andacht des Lernens und der praktischen Wissenschaft in die erwärmende und herzerweiternde Andacht feierlicher Musik erhebt. Die Orgel gilt als eins der vollkommensten Meisterwerke, in welchem alle die neuen und neuesten Erfindungen und Verbesserungen für diese Sphäre angewendet wurden. An einer andern Stelle finden wir ein prächtiges Amphitheater mit Sitzen ringsum, die sich nach der Mitte senken – zu Vorträgen mit praktischen und experimentalen Erläuterungen. Anderswo reihen sich niedliche Verschläge zur Ausstellung von Industrie- und Erfrischungsgegenständen und der Rohstoffe in ihren verschiedenen Graden von Wertherhöhung und Veredelung durch menschlichen Geist, so daß wir ein und dieselbe Quantität von Stoff, roh 1 Penny werth, bis zum Werthe von einem Pfund Sterling durch Industrie und Kunst erhöht sehen, um 240 und mehr Procent. Giebt es doch Rohstoffe, welche bis zu einer Wertherhöhung von 500 und mehr Procent durch den Geist des Menschen und seine geschickte Hand hindurchgehen. Ein Stück Eisen kann in einer Tuchnadel, ein Stück Bronce in der Statuette, ein Viertel Loth Flachs im Batisttuche um mehr als 1000 Procent veredelt erscheinen.

Von der zweiten Galerie steigen wir eine Treppe hinab, in die theoretische und praktische Akademie photographischer Kunst, aus andern Thüren in besondere Hörsäle und Auditorien, in Gemälde-Galerieen, Lesehallen und Kunstzimmer verschiedener Art. Im südlichen Flügel finden wir den Hörsaal und die Ausstellung für streng wissenschaftliche Vorträge und Gegenstände in wundervoll praktischer Structur, so daß jeder Besuchende mit Aug’ und Ohr überall ganz nahe ist und genau sehen und hören kann.

Mit einem Worte ist das Panoptikon die erste, moderne Volks-Universität für modernes, allseitiges, theatralisches und praktisches Wissen aller Art mit praktischer Aesthetik und Cultur, wo das Lehren und Lernen, die Veredelung des Sinnes und Herzens, von aller Pedanterei und „allen Wissensqualen entladen“ wie ein Spiel, wie eine Erholung nach des Tages Müh’ und Arbeit genossen wird, die Wissenschaft, Kunst und Industrie mitten auf dem Markte des Lebens Jedem zugänglich. Schulen und Privatunterrichtsanstalten, denen Anschaffung kostbarer naturwissenschaftlicher Apparate oft unmöglich ist, finden hier für eine Kleinigkeit die vollkommensten Instrumente mit entsprechenden Räumen zur Verfügung, oder können sich dieselben für verschiedene Zeiträume leihen. Jede neue Erfindung findet hier sofort Raum und Gelegenheit, sich zu zeigen und bekannt zu machen und so Mittel und Personen zur Ausführung von neuen Ideen und Patenten zu gewinnen. Die neuesten Erfindungen und Verbesserungen des Auslandes und alle, die nicht von selbst kommen, werden sofort eingeführt und zur Schau gestellt, um sie durch Anschauung und Erläuterung immer möglichst bald zum Gemeingut der Massen zu machen. Männer der Wissenschaften und Künste, die auf eigene [642] Rechnung Vorträge halten wollen, können sich hier Hörsäle und Zimmer zu den verschiedensten Zwecken und Preisen und die nöthigen Instrumente dazu miethen. Industrielle, Fabrikanten und Producenten aller Art, die auf eine würdige Weise Anzeigen machen wollen, miethen sich die im Panoptikon zu diesem Zwecke in reichlicher Auswahl vorhandenen Ausstellungsbuden. Wer endlich ohne bestimmten Zweck sich auf eine kultivirte Weise mit Freunden und Familien nur eben erholen und einen Nachmittag oder Abend angenehm verbringen will, findet im Panoptikon die günstigste Gelegenheit dazu, da alle Arten von Erfrischungen und auch besondere Zimmer und Abtheilungen miethweise zu haben sind, so daß man sich von dem großen Publikum zurückziehen kann, nachdem man mit ihm gemeinschaftlich genossen, was die Eigenthümer des Unternehmens für Alle ausgestellt haben und durch kurze Vortrage an den einzelnen arbeitenden Maschinen und Experiment-Apparaten erläutern lassen.

Hiermit wird man sich ein allgemeines Bild vom Panoptikon zurechtlegen können und hoffentlich zugeben, daß diese moderne, neue Art, Wissenschaft, Kunst, Industrie, Leben, Erholung und Vergnügen zu combiniren und Eins durch das Andere zu tragen und zu heben, von der segensreichsten Wirkung für eine wirklich allgemeine, durchgreifende, gesunde, praktische Massenkultur sein muß, zumal wenn man bedenkt, daß diese neue Art von Universität, Akademie und Markt vereinigt, noch im Entstehen ist und sich einer Ausdehnung in Mitteln und Zwecken fähig zeigt, wovon wir vor der Hand kaum eine Vorstellung haben mögen.

Die Mittel und Werkzeuge, die Aristokratie des Wissens über alle Klassen des Volks zu verbreiten und durch Offenheit und Concurreuz wahrhaft in grünes, goldenes Leben umzusetzen, sind jetzt noch selbst Experimente und erste Versuche. Wer weiß, wie weit sie sich in diesem jetzt rasch pulsirenden Leben der Wissenschaft und Künste, des industriellen und ideellen Verkehrs zwischen allen Völkern binnen einem Menschenalter vermehrt und vervollkommnet haben mögen! Möglich, daß dann auch bald alles Metall, das jetzt noch massenweise zu Flinten, Kanonen, Kugeln und Säbeln verarbeitet wird, sich für produktive und menschliche Zwecke so ausschließlich verwerthen lasse, daß Mars, der brüllende Kriegsgott, noch selbst mit den Massen bei den Musen der Wissenschaft, Kunst und Industrie in die Schule gehen lernen muß, um etwas zu lernen und sich anständig zu ernähren.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Estaunen