Das Erwachen der asiatischen Völker
Literatur:
Bearbeiten- Von der Gesamt-Literatur über Ostasien nennen wir zunächst einige geschichtliche Werke, die auch für das Verständnis der Gegenwart noch von Belang sind:
- Boulger: A short history of China. London 1893.
- Homer Hulbert: History of Corea 1906.
- Marquis de la Mazelière: Histoire du Japon.
- Wassiljew, W. P.: Die Erschliessung Chinas. Deutsche Bearb. von Rudolf Stübe, m. Beitr. von A. Conrady. Leipzig 1909.
- Parker, E. H.: A thousand years of the Tartars. Shanghai. Kelly u. Walsh, 1895.
- Wirth: Ostasien in der Weltgeschichte. Bonn 1900.
- Derselbe, Gesch. Asiens, Halle 1905.
- Sodann von allgemeineren Werken:
- Rein: Japan;
- Brinkley: Japan (Grosses Prachtwerk);
- Paalzow: Das Kaiserreich Japan. Berlin 1908.
- Parker: China und Religion, London 1905;
- dazu
- Vollers: Die Weltreligionen, Jena 1907.
- Schiller: Gesch. Chinas. 1912.
- Besonders reich ist die Literatur über die gelbe Frage.
- Graf v. Wilamowitz-Moellendorff: Besteht eine gelbe Gefahr? 1904 Potsdam.
- Vambery, H.: Die gelbe Gefahr. Budapest 1904
- Wirth: Die gelbe und die slavische Gefahr. Berlin 1905.
- v. Peez: Wir und die Ostasiaten, München 1904;
- derselbe: Die gelbe Gefahr in der Geschichte Europas. Wien 1908.
- Jakob Ernst: Die gelbe Gefahr. Stuttgart 1904.
- Vgl. auch
- Vosberg-Rekow: Nation und Welt, sowie Verhandl. des deutschen Kolonialkongresses 1905.
- Graf Wartensleben: Veränderte Zeiten.
- Franke, Geistige Strömungen im heutigen China, Berlin 1904.
- Derselbe: Ostasiatische Neubildungen. 1911.
- Vosberg-Rekow: Die Revolution in China. 1912.
- Über den Krieg von 1894/95 unterrichtet
- Wladimir: (Pseud.) The Japanese – chinese war.
- Ferner
- v. Müller: Der Krieg zwischen China und Japan 1894/95. Berlin 1895.
- Über die Boxerunruhen
- A. v. Müller: Die Wirren in China. Berlin 1900.
- Scheibert: Der Krieg in China nebst e. Beschreibung d. Sitten, Gebräuche u. Geschichte d. Landes.
- Die Kaiserliche Marine während der Wirren in China 1900–1901. Hrsg. vom Admiralstabe der Marine. Berlin 1903.
- Vgl. auch
- Binder v. Kriegelstein über den Anteil des deutschen Heeres an den Boxerkämpfen.
- Über 1904/5 unterrichten
- v. Schwartz,
- v. Tettau,
- Barzini,
- Hamilton
- und die
- Generalstabswerke.
Schon Herodot sieht in dem Kampfe von Westen und Osten einen Hauptfaktor der Weltgeschichte. Die einzelnen Marksteine des Kampfes werden durch Kreta, Troja, Perserkriege, Alexander, Hannibal, Cäsar und Trajan, das Aufkommen des Christentums, den Arabersturm, die [362] Kreuzzüge, die Mongolenflut, die Entdeckungs- und Eroberungsfahrten der Portugiesen, Spanier, Holländer, Franzosen und Engländer, weiterhin durch den Gegenstoss des Orients unter Sulaiman, den Sefawi, Mongulen, Mandschu und Tokugawa, endlich durch das unaufhaltsame Vordringen der Europäer und Amerikaner seit Napoleon bezeichnet. Den Brennpunkt westöstlicher Kämpfe in der Gegenwart stellt der Boxerkrieg dar. Seitdem hat sich abermals die Herrschaft der Weissen auf Kosten des Ostens erweitert. Zwar wurde das 1904 eroberte Tibet von den Engländern wieder aufgegeben; dafür wird Persien unter Briten und Russen aufgeteilt, Marokko fällt an Frankreich, Tripolis an Italien, die Nordmandschurei an Russland und es beginnt die Zerbröckelung Chinas und der Zerfall der Türkei. Persien wird zwischen Russland und England aufgeteilt. Damit ist der Gesamtorient in eine starke und akute Krisis eingetreten, wie er sie in dem Verlauf der Jahrtausende noch nie in gleicher Heftigkeit und Ausdehnung erlebt hat.
Von Afrika besassen die Europäer gegen 1800 nur ungefähr 1/60 von Asien dagegen, die Sundainseln mitgerechnet, etwa 1/9. Seitdem ist der schwarze Erdteil so ziemlich ganz, mit Ausnahme Abessiniens und Liberias, in die Hände der Europäer übergegangen und von Asien, die Inseln immer mitgerechnet, haben die Weissen über dreiviertel besetzt. Erfolgreich widerstrebt eigentlich nur Japan.
Die Hauptdaten in der Erschliessung des afrikanischen Orients sind die Eroberung Algeriens durch die Franzosen 1830, die Besetzung der Fulbeländer durch eben dieselben in den 50er Jahren, die Gründung des Kongostaates 1879/85, die Eroberung von Tunis 1881, die englische Festsetzung in Ägypten 1882, die britische Herrschaft in Rhodesien seit 1887/9, die italienischen Versuche in Abessinien, das deutsche Kolonialreich 1884–85, die britische Bezwingung des Ost-Sudans seit 1896, die Einverleibung Marokkos durch Frankreich seit 1900/1907, endlich der Handstreich auf Tripolis. In Asien gehen die heutigen Entwürfe der Europäer bis ins 15. Jahrhundert zurück. Nämlich bis zur Fahrt Vasco da Gamas und zu dem ersten Vordringen der Russen in Sibirien. Portugiesen und Spanier fassten in Südasien Fuss. Weitere Epoche machte die Befestigung der russischen Herrschaft in Nordasien seit 1590 und die Niederlassung der Holländer auf den Sundainseln seit 1619. In der Napoleonischen Zeit errangen die Engländer die Vorherrschaft über Indien. Seit derselben Zeit kann man von französischen Interessen in Indochina reden. Die bewusste und erfolgreiche Erschliessung Ostasiens beginnt 1839; mit dieser Tatsache wollen auch wir hier einsetzen.
Ostasien hatte sich gegen die Weissen hermetisch abgeschlossen. Es war das einfach Notwehr gegenüber den Angriffsabsichten der Europäer. Weder Mandschu noch Tokugawa waren an sich fremdenfeindlich, aber sie glaubten einzusehen, dass ihren Ländern durch völlige Absperrung gegen aussen am besten gedient wäre. Am heftigsten war der Hass gegen die Fremden bei der japanischen Regierung. Selbst ein Sohn des Landes wurde von diesem Hass verfolgt, denn er durfte, wenn er auch nur durch einen Sturm ins Ausland verschlagen war, in die Heimat nicht zurückkehren oder wurde, tat er es dennoch, hingerichtet. Seit 1637 war die Absperrung in Japan vollkommen durchgeführt. Korea und die Ljukju schlossen sich diesem Vorgange an. In China konnte man schon der Lage des Reiches halber die Abschliessung nicht ganz so verwirklichen, wie bei den nordöstlichen Nachbarn. Und ein Handel der Chinesen mit Hinterindien und Inselasien, sowie mit Mexiko hat eigentlich nie völlig aufgehört. Nur eins wollte man auch in China nicht erlauben, die Niederlassung von fremden Kaufleuten oder Gesandten auf dem Boden des indischen Reiches. Der Opiumkrieg des Jahres 1839/40 legte endlich Bresche in die ostasiatische Welt. Der Anlass dazu war nichts weniger als rühmlich. Von Indien, namentlich von der Gegend des mittleren Ganges aus, wurden ungeheure Mengen von Opium nach China ausgeführt. Die britische Regierung hatte davon einen jährlichen Nutzen, der manchmal bis auf 600 Millionen Mark stieg. Nun wollten die Chinesen sich entweder nicht weiter verseuchen lassen oder aber sie wollten selbst den Gewinn von dem Anbau und Verkauf des Opiums ernten und verboten deshalb die Einfuhr der indischen Frucht. Die Engländer aber sandten mehrere Kriegsschiffe vor Kanton, bombardierten die Stadt und zwangen das Reich der Mitte zu einem Vertrag, der nicht nur die Opiumeinfuhr aus Indien wiederherstellte, sondern auch 3 chinesische Häfen für die Europäer öffnete.
Im Jahre 1853 begannen die Russen, sich der Amurländer zu bemächtigen, und der nordamerikanische Admiral Perry erschien vor Jokohama, um einen Handelsvertrag mit den Vereinigten [363] Staaten zu erzwingen. Der Vorstoss Perrys gab den ersten Anlass zur Wiedergeburt Japans. Schon längst war man dort mit der Regierung des Shogun unzufrieden geworden und wünschte die Macht dieses Hausmeisters zu brechen und dafür die des Mikado wieder herzustellen. Nun zeigte sich, dass der Shogun gegenüber den Fremden nachgiebig war: das empfand das ganze japanische Volk als eine Demütigung. Es trachtete infolgedessen darnach, eine andere Regierung zu bilden, die die Würde des Reiches gegenüber dem Auslande besser zu wahren verstünde. Zugleich sah man ein, dass man den Westen nur mit westlichen Waffen bekämpfen könne, gleichwie der Mensch den ungeheuren Druck der Aussenluft nur deshalb ertragen kann, weil er in seinem eigenen Körper auch Luft hegt. So beschlossen denn die führenden Geister des Morgen-Sonnenlandes, ihre Heimat ganz und gar in westlichem Sinne umzugestalten, vor allem die industrielle und militärische Technik des Abendlandes einzuführen. Ito ging als einer der ersten, bald nach dem Erscheinen Perrys, nach England, um die dortigen Einrichtungen zu studieren. Andere Staatsmänner gingen später nach Amerika und Russland.
Inzwischen war es in China zu einer Katastrophe gekommen. Angesteckt durch die Gedanken christlicher Sendlinge, hatten „Patrioten“ des Südostens eine gewaltige Erhebung gegen die regierende Dynastie, gegen die Mandschu ins Werk gesetzt. Der Aufstand der Taiping wütete von 1852–1862 und hat nach der geringsten Angabe 30 Millionen Menschen das Leben gekostet, wie er auch an der Zerstörung und Einäscherung vieler blühender Städte schuld war. Die fremden Mächte wollten es nun nicht ruhig ertragen, dass ihr Handel gestört wurde und mischten sich zu gunsten der Dynastie ein. Die Aufrührer wurden, besonders durch den englischen General Gordon und durch Lihungtschang zurückgeschlagen. Die Mandschu waren jedoch durchaus nicht dankbar, sie wandten sich ihrerseits gegen die Europäer. Den Engländern war das recht unbequem, denn sie waren gleichzeitig durch die grosse Meuterei in Indien und durch persische Wirren beschäftigt. Sie gewannen jedoch die Franzosen zu Bundesgenossen und erstürmten mit deren Hilfe 1857 Peking. Die Russen benutzten die Schwäche der Mandschu, um ihnen 1860 durch den Vertrag von Aigun die Amurländer endgültig zu entreissen. Jetzt kam es auch in Japan zu offenem Auftreten gegen die Weissen. Die Folge war die Beschiessung Kagoshimas 1863 und Schimonosekis 1864 durch die Flotten der Engländer, Amerikaner, Franzosen, Holländer, endlich der Preussen, die unter dem Grafen Eulenburg vier Jahre lang damals eine stattliche Flotte in den ostasiatischen Gewässern unterhielten. Die Niederlagen durch die Fremden fachten den Zorn der Japaner aufs äusserste an. Der Bürgerkrieg brach 1868 aus, der Schogun wurde verjagt, und an seiner Stelle zog der Mikado in den Palast von Jeddo ein, das hinfort Tokio, die östliche Hauptstadt genannt wurde. Mit grossem Eifer und mit grosser Geschwindigkeit wurde jetzt die völlige Modernisierung des Inselreiches eingerichtet. Nicht minder ging auch auf dem Festland die Erschliessung weiter ihren Gang. Kein Jahrzehnt verging, ohne dass weitere wichtige Häfen Chinas dem Weltverkehr eröffnet wurden. Seit 1868 begründen die Franzosen ein zusammenhängendes Reich in Indochina. Korea wird 1882 dem Verkehre zugänglich gemacht. Es fehlte natürlich nicht an Rückschlägen und Gegenrevolutionen. Der Mikado hatte die von Saigo Takamori geleitete Satsuma-Rebellion 1877 niederzuwerfen; in Korea waren 1884 gefährliche Wirren. Auch setzte sich das himmlische Reich wieder gegen die beständigen Angriffe der Weissen zur Wehr und führte 1883–85 Krieg mit Frankreich. Durch Besetzung Nordformosas und des Arsenals von Futschau konnten die Franzosen nur wenig ausrichten; erst die Blokade des Golfes von Petschili, die den Zugang von Reis für die Hauptstadt Peking sperrte, hatte den gewünschten Erfolg. China willigte in die Abtretung Tonkings.
Durch neuerliche Wirren in Söul, der Hauptstadt Koreas, wurde der Krieg zwischen Japan und China entzündet. Es scheint nicht, dass eine weisse Macht die Hand dabei im Spiele gehabt habe; die Ratgeber des Mikado wurden einfach durch die Hartnäckigkeit der chinesischen Regierung aufgestachelt und wurden dann durch den Verlauf der Tatsachen mit fortgerissen. Das Ergebnis war eine japanische Besetzung Koreas und des Südsaumes der Mandschurei. Jetzt aber traten die Grossmächte dazwischen. Im März 1895 erklärten die Gesandten Russlands, Deutschlands und Frankreichs, dass sie festländische Erwerbungen von seiten Japans nicht dulden würden und wiesen die enttäuschten Japaner auf Formosa hin. Den Anstoss zu diesem Dazwischentreten gab eine Unterredung, die Herr von Brandt, früher Gesandter in Tokio und Peking, im Februar mit dem [364] deutschen Kaiser hatte. Das Schlagwort von der gelben Gefahr kam auf und der Kaiser liess nach seinen Angaben jenes Bild von dem auf Wolken ansegelnden Buddha durch Professor Knackfuss herstellen, das die berühmte Unterschrift trägt: Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter! Der Ruhm Chinas war nun von Grund aus erschüttert. Das Wort eines russischen Obersten, er getraue sieh mit 10 000 Mann ganz China zu erobern, erschien nun nicht mehr als eitle Prahlerei. Gleichwohl war die beständige Einbusse der Bezopften an Ansehen, war das unaufhörliche Vordringen der Fremden nicht ohne Eindruck auf die Seele des chinesischen Volkes geblieben. Alles Unheil, das dem Land der Mitte wiederfuhr, schrieb man den Fremden zu. So entstand die Bewegung von den Männern der geballten Faust, der Boxerkrieg. Der deutsche Gesandte, Baron Ketteler, wurde im Juli 1900 in den Strassen von Peking ermordet und das chinesische Volk, von der Regierung halb begünstigt, schritt zur Belagerung der Gesandtschaften. England, Nordamerika, Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien schickten Truppen nach Petschili; das Merkwürdigste aber war, dass auch die Japaner sich dem grossen Kreuzzuge gegen China anschlossen. Gerade sie waren die ersten, die in die Mauern Pekings eindrangen.
Die vorletzte Etappe der ostasiatischen Entwicklung wird durch den Marsch der Engländer nach Lassa (1904) und den japanisch-russischen Krieg dargestellt, die letzte durch den Bürgerkrieg, der am 9. Oktober 1911 in Hankau ausbrach und der bis Oktober 1913 andauerte.
Die gelbe Gefahr, deren Gegenstück in den Augen der Ostasiaten die weisse Gefahr ist, hat eine religiös-kulturliche, eine wirtschaftliche, eine rassenpolitische und eine militärische Seite. Die Welt des Buddha und Konfuzius nimmt christliche Gedanken an. Schon die Revolution der Taiping und der letzte Ausbruch von Hankau war direkt durch Schüler christlicher Missionäre ins Werk gesetzt. Auf den amerikanischen Colleges und den Hochschulen Englands und Deutschlands befreunden sich die Jungchinesen und die Japaner mit Ideen des Abendlandes. Andererseits aber haben die buddhistischen Anschauungen bei uns viel Eingang gefunden. Bereits Schopenhauer ist von ihnen berührt und in der Gegenwart ist eine förmliche Invasion buddhistischer Vorstellungen bei uns zu beobachten, wie es denn auch, namentlich in den Kreisen der Theosophen schon Zehntausende von Europäern und Amerikanern gibt, besonders in München, Paris, Chikago und Kalifornien, die sich ganz oder halb zum Buddhismus bekehrt haben. Eine kaum minder grosse, wenn auch nicht so gefährlich auftretende Einwirkung hat die Kunst Ostasiens auf uns ausgeübt. Am meisten wird das wirtschaftliche Problem erörtert. Hier stehen sich zwei Ansichten schroff gegenüber. Die einen Beurteiler meinen, dass uns im Westen eine furchtbare Konkurrenz von seiten der genügsamen Ostasiaten drohe. Wie in Indien, so könne sich auch in Ostasien eine Kulifamilie mit 5–6 M. einen Monat lang ernähren. Die Ostasiaten hätten ein bemerkenswertes Geschick in allen technischen Dingen und hätten ein klares Verständnis für die Vorteile unserer Industrie. Der Chinese vor allem sei der beste Kaufmann der Welt, der Tag und Nacht auf nichts anderes als auf Gelderwerb sinne. Im übrigen könne man es ja in Kalifornien und Australien sehen, wie rasch der Weisse vor dem Mitbewerb der Gelben zurückweiche und wie ein Übergewicht der Gelben nur durch schärfste Ausübungsmassregeln verhütet werde (die erste Bill, die in Amerika die Einwanderung von Chinesen beengte, wurde 1880 Gesetz). Die entgegengesetzte Theorie, unter deren Wortführern Vosberg-Rekow und Alexander Tille zu nennen sind, macht geltend, dass die Löhne in dem letzten Menschenalter und namentlich seit den letzten zwei japanischen Kriegen um ein vielfaches gestiegen seien. Je mehr sich ferner die ostasiatische Industrie vergrössere, um so bedeutender müsse die Einfuhr europäischer Maschinen werden, um so leistungs- und infolgedessen aufnahmefähiger, also auch für den europäisch-amerikanischen Markt geeigneter würde die ostasiatische Bevölkerung werden. In der Tat ist ja der Handel des Westens mit den ostasiatischen Ländern ungemein gewachsen; in Japan hat er sich seit 1868 verzwölffacht und seit 1895 verfünffacht(jetzt über zwei Milliarden Mark); der Aussenhandel Chinas ist zwar erheblich langsamer, aber stetig in die Höhe gegangen. Für Japan sei zu rügen, dass die dortigen Kaufleute unzuverlässig und verschwenderisch seien, dass die Aktiengesellschaften Dividendenraubbau trieben, dass Gründungsfieber und Bankerotte herrschten. Ausserdem leiste ein tüchtiger weisser Arbeiter das 4- und 5 fache des gelben Arbeiters. Rassenpolitisch kommt in erster Linie die Grösse und die Zunahme der Bevölkerung in Betracht, in zweiter die Eignung der einzelnen Rassen für die Betriebe der [365] Gegenwart. In der Zahl seiner Bevölkerung steht nun China ohne Zweifel allen anderen Staaten voran. Man darf das gesamte chinesische Reich ohne Aussenprovinzen auf 330 Millionen schätzen. Wenn dagegen die Gesamtheit der weissen Bevölkerung Europas und Amerikas der Ostasiens gegenüber gestellt wird, so ergibt sich fast die gleiche Ziffer. Sie beträgt im Westen annähernd, wenn man auch Südafrika und Australien, sowie Sibirien und Transkaukasien mit rechnet, 560 Millionen und in Ostasien, mit Einschluss Indochinas 460 Millionen, mit Berücksichtigung Inselasiens 510 Millionen. Fraglich ist, ob dabei auch die Dravida und andere nur oberflächlich hinduisierte Ureinwohner Indiens mitzurechnen seien, in welchem Falle die Ziffer der Gelben mindestens noch um 60 Millionen anschwellen würde. Wie in der Wirtschaft, so hat auch im Kriegswesen die gelbe Rasse ihre Leistungsfähigkeit oft gezeigt. Gerade in der Gegenwart hat man vielfach an die Züge der Hunnen und der Mongolen erinnert. Japan hat seine Kriegstüchtigkeit jenseits allen Zweifels gestellt. Von China dagegen glaubte man lange, dass weder Vaterlandsliebe noch Tapferkeit dort eine Stätte fänden, aber letzthin ist man doch allgemein anderer Ansicht geworden. Die militärische Organisation der Chinesen im neuheitlichen Sinne wird zwar noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen; dass dann aber das Reich der Mitte mit einer Kriegerschaar von Millionen auftreten und ein schweres Gewicht in die internationale Wagschale werfen könne, kann nicht mit Fug bestritten werden.
Ein Element, durch das die gelbe Gefahr beträchtlich herabgemindert wird, ist die Uneinigkeit unter den Gelben selbst. Einst hielt es die To-Asia-Kyokwai (ostasiatische Gesellschaft) für möglich, dass ganz Ostasien unter japanischer Führung gegen den Occident mobil gemacht werden könnte. Hauptgründer der Gesellschaft (gegen 1900) war Prinz Konoye, der in Bonn und Strassburg seine Studien gemacht hatte; der Prinz, ein Verwandter des Mikadohauses, starb wenige Tage vor dem Ausbruch des japanisch-russischen Krieges. Jetzt ist man von so überschwänglichen Erwartungen abgekommen; jetzt hat sich klar gezeigt, dass Japan und China nicht an demselben Strange ziehen. Das Reich der Mitte empört sich gegen die Vergewaltigung von seiten des Inselreiches. Genau so ferner wie einst die Türkei sich verhältnismässig rasch in das europäische Staatensystem einordnete, wie sie Bündnisse mit Frankreich und Venedig gegen andere Staaten des Westens abschloss, wie sie zeitweilig sogar mit dem Papste gegen andere Christenmächte ging: so haben auch schon die ostasiatischen Mächte begonnen, durch Bündnisse der comity of nations beizutreten und dadurch in einen Gegensatz zu einander im fernen Osten zu geraten. Japan hat am 30. Januar 1902 sich an England angeschlossen und im Juli 1910 an Russland, wohingegen China es mehr mit Amerika und Deutschland hält. Der Freund Japans, der Zar, hatte schon anfang 1911 ein Ultimatum wegen Kuldschas und der Iliprovinz nach Peking geschickt. Offensichtlich wollen Russland und Japan sich auf Kosten Chinas territorial bereichern. – Oktober 1911 begann die grosse Umwälzung, die das alte Reich der Mitte zur Republik machen sollte. Der äussere Anstoss zu der Bewegung war dreifach. Die Behörden haben das arme Volk zu Einlagen in die Sparkassen veranlasst, angeblich zu dem patriotischen Zweck, die Eisenbahnen zu verstaatlichen, und dann haben die Mandarinen schamlos sich der Sparkassengelder bemächtigt, so dass den Einlegern das Nachsehen blieb. Zweitens war eine ungeheure Überschwemmung, die grösste, die China in dem Verlauf der Jahrtausende erlebt hat. Daran war die starke Schneeschmelze in Tibet schuld; vermehrt aber wurde das Unglück durch eine Reihe von Taifunen, die sich auf dem ostasiatischen Festland in heftige Oststürme verwandelten und die aufgestauten Gewässer der Riesenströme am Abfliessen hinderten. In der Mandschurei und am Nordsaum des eigentlichen China ist man derartige jährliche Überschwemmungen gewöhnt, aber diesmal wurde auch Schantung, das gesamte Becken des Jangtse mit einem beträchtlichen Teil von Szetschuan und sogar die trockene Mongolei von der Wut der Gewässer betroffen. So war schier die Hälfte des Himmlischen Reiches unter Wasser gesetzt; und in manchen Gegenden standen nur die Berge aus der Flut hervor; ganze Dörfer und Städte sind eingestürzt, und das obdachlose Volk drängte als Proletariat nach gastfreundlichen Orten, nach Hankau, Kiu-Kiang und Nanking, die besser vor der Überschwemmung geschützt und reicher verproviantiert waren. Eine weitere Folge davon war ein Anschwellen der Preise. Ein Pikul (133 englische Pfund) Reis kostete vor einigen Jahren nicht ganz anderthalb Silberdollar, damals war es auf zehn bis zwölf Dollar gestiegen. Das verzweifelte Volk stürmte die Reismagazine und plünderte [366] die Läden. Ganz ein anderer Grund war der Widerstand der Notabeln gegen die Verstaatlichung der Bahnen. Die Notabeln, die man in England etwa als Landed Gentry bezeichnen würde, haben in den letzten Jahren, seit dem Aufkommen der parlamentarischen Bewegung, einen merkwürdigen Einfluss erlangt. Man spricht immer von dem demokratischen China, aber es verhält sich damit wie mit den Südstaaten der grossen transatlantischen Union nach dem Bürgerkrieg, als das allgemeine Stimmrecht eingeführt war und trotzdem einige wenige entschlossene und geriebene Führer die Massen des Stimmviehes zu ihrem Sondernutzen ausbeuteten. Der Generalgouverneur des oberen Jangtsebeckens, Wangjenwan, spielte dabei eine zweideutige Rolle. Er gab sich den Anschein, als ob er die Bestrebungen der Notabeln öffentlich unterdrückte, während er sie insgeheim begünstigte: er wollte die Notabeln für sich gewinnen, da sie es in der Hand hatten, ihn als Generalgouverneur endgültig bestätigen zu lassen. Der Mann ist denn auch abgesetzt und durch den tatkräftigen Vizekönig von Tibet, der nicht nur den Dalai-Lama im Februar 1910 vertrieben, sondern auch früher die Engländer durch zähe und folgerichtige Taktik aus Tibet hinauskomplimentiert hatte, durch Tschao-erch-Feng ersetzt worden. Gewöhnlich wird als Grund für die Revolution das Wühlen der Patrioten, der Jungchinesen, ins Feld geführt, eine Bewegung, die sich in der Gesellschaft der Kuo-Ming-Tang besonders greifbar verkörperte. In der Tat hat eine Massregel gegen die Kuo-Ming-Tang den Anstoss zu dem Ausbruch gegeben, denn am 9. Oktober 1911 entdeckte die Regierung in Hankau eine Bombenfabrik der Revolutionäre zugleich mit geheimen Papieren. Die Patrioten gerieten so in eine Notlage und schlugen lieber gleich los. Seit dem 11. Oktober 1911 wütete denn auch fast in dem ganzen Riesenreich der Kampf gegen die Mandschu.
Bei allen äusseren Anlässen kommt es bei politischen wie bei kulturellen Bewegungen darauf an, ob sie eine günstige Konjunktur finden. In China war die Konjunktur durch mehrere Faktoren gegeben. Im ganzen Volke ist von jeher die Überzeugung verbreitet, dass einer jeden Dynastie nur höchstens dritthalb Jahrhunderte vom Himmel beschieden seien. Die Rechnung stimmt zwar nicht, denn viele Dynastien haben weit kürzer regiert, und die eine oder die andere auch länger: aber gleichviel, die Überzeugung ist einmal da, und derartige metaphysische, oder, eigentlicher gesprochen, metahistorische Anschauungen fallen immerhin bei grossen Umwälzungen mit in die Wagschale. Die zweite allgemeine tiefere Ursache der Unruhen ist in der Unzufriedenheit der Chinesen über das Vordringen der Europäer und in ihrer Besorgnis vor der weissen Gefahr zu finden. Keine Regierung, kein Herrscherhaus kann sich auf die Dauer behaupten, wenn es beständig an Erfolgen mangelt; insbesondere, wenn der Glanz nach aussenhin abnimmt und wenn es um die Führung der auswärtigen Geschäfte schlecht bestellt ist. Der dritte Faktor ist die Unruhe, die seit mehreren Jahren überhaupt in ganz Asien herrscht. Die Flammen der revolutionären Feuersbrunst, die Persien und die Türkei, sowie auch einen grossen Teil Indiens ergriffen haben, sind nach China hinübergesprungen. Auch ist das republikanische Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, auf deren Hochschulen viele Chinesen ihre Ausbildung genossen haben, nicht ohne Einfluss gewesen. Mit den letzten Faktoren berührt sich der vierte, nämlich der erwachende Nationalismus, der einerseits auf grössere Zentralisation im Innern, andererseits auf mehr Macht nach aussen hindrängt. Ein revoltierendes Volk ist immer chauvinistischer als die schwachen Herrscher, die es gestürzt hat. Nachdem die Jungchinesen gesiegt, ist auch – freilich erst nach Jahren – von ihnen ein Anwachsen der gelben Flut zu befürchten. Infolgedessen war ein Sieg der Revolutionäre nicht allzu sehr im Interesse Europas.
Die Revolution verbreitete sich bald über das ganze Reich. Zum Präsidenten der zu schaffenden Republik wurde einstweilen Sunyatsen erwählt. Sein Gegenspieler war Yuanschikai. Mitte Februar 1912 dankte die Mandschudynastie ab.
Genau so wie bei der Türkei nahmen die fremden Mächte die herrschende Verwirrung zum Vorwand für Übergriffe. Russland suchte sich der Mongolei zu bemächtigen, Japan unterstützte die Revolutionäre, und schien es auf eine Lostrennung der Mandschurei, sowie eine moralische und wirtschaftliche Beeinflussung Chinas abzuzwecken. Deutschlands Stellung war bisher unentschieden. Deutsche Banken und Firmen unterstützten mit Geld sowohl den Hof, als auch die Revolutionäre. Eine österreichische Waffenfabrik, die Skoda-Werke, lieh der Republik Geld.
[367] Nach einem wechselnden Spiel voll geheimer Umtriebe ergriff schliesslich Yuanschikai das Ruder. Er ward im April Präsident und errichtete ein ihm gefügiges Kabinett. Die Mächte erwiesen sich der neuen Republik nicht unfreundlich. Obwohl es nicht an dynastischen Restaurationsversuchen, besonders im Nordwesten, fehlte, traten sechs Grossmächte zusammen, um der Republik über die ersten finanziellen Nöte wegzuhelfen. Iuanschikai forderte 1200 Mill. Mk. Nach sehr langen Verhandlungen wurden schliesslich 600 Mill. bewilligt. Weit entfernt jedoch durch den Umschwung gestärkt zu werden, war einstweilen das Reich der Mitte in Anarchie versunken. Der Süden, den der in seinen Hoffnungen getäuschte Sunyatsen anstachelte, war gegen den Norden. Es kam zum Bürgerkrieg im Sommer 1913. Die Japaner unterstützten den Süden und Sunyatsen entfloh nach Japan. Zuletzt siegte Iuanschikai. Die Truppen seiner Unterfeldherrn nahmen Nanking.
Die Angaben über die Bevölkerung Chinas schwanken von 270 bis 435 Millionen. Zur Zeit Christi betrug die Bevölkerung Chinas ungefähr 60 Millionen.
1741 143 Millionen 1762 über 200 Millionen 1800 an 300 Millionen 1850 422 ? Millionen
Die Bevölkerung Japans erhebt sich auf 55 Millionen, mit Korea auf 67 Millionen, davon 15 Millionen Nichtjapaner. Die Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten durchschnittlich um 400 000 Seelen gewachsen, in der letzten Zeit alljährlich um 600–700 000.
Einige Worte über die Landesverteidigung in Ostasien werden nicht unnötig sein.
In Japan lautet das Wehrgesetz: Allgemeine persönliche Wehrpflicht vom vollendeten 17. bis 40. Lebensjahr. Die Wehrpflicht zerfällt in Dienstpflicht im stehenden Heer, die mit vollendeten 20. Lebensjahr beginnend, bei der Inf. 2, den übrigen Waffen 3 Jahre aktiven, und 5 Jahre bezw. 2 Jahr und 4 Monate dauernden Dienst in der Reserve umfasst, in die 10 Jahre dauernde Landwehr-, und schliesslich in die Landsturmpflicht. Zum Landsturm 1. Aufgebots gehören sämtliche ausgebildete Mannschaften anschliessend an die Landwehr, und die gedienten Ersatzreservisten bis zum 40. Lebensjahr, zum 2. Aufgebot alle nicht gedienten Wehrpflichtigen. Die Ersatzreservefrist für überzählige Taugliche dauert 12 Jahr 4 Monate.
Rekrutenkontingent: etwa 120 000 Mann.
Friedensgliederung: Die Armee ist in 3 Oberkommandos eingeteilt mit 19 Div. (darunter 1 der Garde). Eine Inf.-Div. zerfällt im allgemeinen in 2 Inf.-Brigaden (4 Reg. zu 3 Batt. zu 4 Komp., pro Regt. 1 M.-G.-Komp. zu 6 Gew.), 1 Kav.-Regt. (3 Esk.), 1 Feld-Art.-Regt. (2 Abt. zu 3 Batt. zu 6 Geschützen), 1 Pionier-Batt. 3 Komp., 1 Train-Batt. (2 Komp.).
Ausserdem sind vorhanden: bei der Garde, 1., 8., und 15. Div. je eine Kav.-Brig. mit 3 Reg. (8 Esk.) und 1 M.-G.-Abteilung zu 1 Gew.; bei der Garde-Div. 1 Feldartillerie-Brig. zu 2 Reg. zu je 2. Abt. ausserdem 1 Verkehrsbrig. mit 1 Eisenbahn-Regt. zu 3 Batt. mit je 4 Komp., 1 Telegraphen-Batt. zu 6 Komp, und 1 Ballon-Batt.; bei der 1. Div. 2 Feldart.-Brigaden zu 4 Regt, zu je 2 Abt., bei der 2., 17., und 18. Div. je 1 Batt. zu je 3 Batterien Gebirgsart. Schwere Art. ist in verschiedener Stärke auf die einzelne Div. verteilt.
Zurzeit stehen die 2. Div. und 1 gemischte Brigade in Korea, die 5. Div. und Eisenbahntruppen in der Mandschurei, 2 gemischte Brigaden auf Formosa, Besatzungstruppen auf Sachalin.
Im ganzen sind an Truppen vorhanden:
- Infanterie: 38 Brigaden mit 76 Regt., 288 Batall. (zu 4 Komp.).
- Kavallerie: 14 Brigaden bezw. 27 Regt., 89 Esk.
- Feldartillerie: 3 Brigaden bezw. 25 Regt., 150 Batterien, 3 Gebirgsbataill. mit 9 Batterien.
- Schwere Artillerie: 2 Brigaden bezw. 6 Regt., 19 Bataill.
- Pioniere: 19 Bataill. mit 57 Komp.
- Train: 19 Bataillone mit 38 Komp.
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- Verkehrstruppen: 1 Eisenbahnbataill. mit 12 Komp. 1 Telegraphen-Bataill. mit 6 Komp., 1 Ballon-Bataillon.
- Maschinengewehrtruppen: 76 Komp, zu 6 und 3 Abteilungen zu 8 Gewehren. Im Jahre 1911 noch 3 neue Divisionen dazu.
- Friedensstärke: etwa 250 000 Mann.
- Kriegsgliederung: Mehrere Armeen zu 4–5 Div. selbstd. Kav. und Art.-Brig. Gliederung der Div. wie im Frieden, dazu Kolonnen und Trains.
- Aufstellung von Reserve-, Landwehr-, und Ersatz-, eventuell auch Landsturmformationen.
- Kriegsstärke: Feldarmee etwa 6–700 000 Mann.
- Bewaffnung: Inf: Arisaka-Gewehr, Mod. 97 und Mod. 05, Kal. 6,5 mm.
- Feldart.: Kruppsches Rohrrücklauffeldgeschütz Mod. 05, Kal. 7,5 cm. Modernes Gebirgsgeschütz Kal. 7,5 cm.
- Schwere Art.: 10,5 cm-Kanonen 12- und 15-cm Haubitzen, Mod. 05, Hotchkiss-Masch.-Gewehr.
- Marine: 13 Linienschiffe (1894–1907; 11 100–20 100 t, 2 Küstenpanzerschiffe (1894–96) 4270 t, 14 Panzerkreuzer (1889–1907) 2500 bis 14 800 t, 21 geschützte Kreuzer (1883–1908) 1300 bis 6800 t, 6 Kanonenboote (1888 bis 1906) 160 bis 870 t, 58 Torpedobootszerstörer (1893–1910) 240 bis 1170 t, 51 Torpedoboote, 9 Unterseeboote, Schul- und Spezialschiffe, hierzu 4 Hilfskreuzer.
- Im Bau: 2 Linienschiffe 20 080 t, 1 Panzerkreuzer 27 500 t, 3 gesch. Kreuzer 5000 t, 3 Torpedobootszerstörer, 1 Unterseeboot.
In China geschieht die Ergänzung des Heeres durch Anwerbung von Leuten zwischen 20 und 25 Jahren, die verhältnismässig hohen Anforderungen entsprechen müssen. Sämtliche tauglichen jungen Leute sollen listlich geführt und den Werbekommissionen zwecks Anwerbung vorgestellt werden. Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für später in Aussicht.
Dienstzeit der Angeworbenen: 10 Jahre, davon 3 Jahre aktiv im stehenden Heere, 3 in der Reserve und 4 in der Landwehr.
Im Mobilmachungsfall Wiedereintritt bis zum 45. Lebensjahr gestattet.
Friedensgliederung: Bildung von 36 Div. bis 1912 beabsichtigt, jedoch bis dahin nicht durchführbar. (Weitere Vermehrung auf 52 Div. soll vor kurzem beschlossen worden sein.)
- 1 Div. soll bestehen aus: 2 Inf.-Brig. zu 2 Regt, zu je 3 Bataill. mit je 4 Kompn., 1 Kav.-Regt. zu 3 Esk., 1 Art.-Regt. zu 3 Abt. zu je 3 Batt. (2 davon mit je 6 Feld-, 1 mit 6 Gebirgsgeschützen), 1 Pion.-Bataill. zu 4 Komp., 1 Train-Bataill. zu 4 Komp.
Zurzeit scheinen im allgemeinen voll formiert zu sein: 12 Div. (1. und 6. in Peking. 2. und 4. in der Provinz Tschili, 3. und 20. in der Mandschurei, 5. in Schantung, 8. in Wu-tschang, 9. in Nanking, 10. in Fu-tschou, 17. in Sze-tschwan, 22. in Tsche-kiang). Von der Gardedivision in Peking und weiteren 14 Div. (7. Kiang-su, 11. Hu-pei, 12. Kiang-su, 13. Ho-nan, 14. Kiang-si, 15. Ho-nan, 16. Ngan-Hwei, 18. Tian-schan, 19. Yün-nan, 21. Schan-si, 23.Kwang-tung, 24.Kwang i, 25. Sze-tschwan, 62. Kan-su) sind mehr oder weniger Teile bereits formiert, während von dem Rest noch keinerlei Anfänge vorhanden sind.
Friedensstärke: Zurzeit etwa 200 000 Mann, einschliesslich Nichtkombattanten. Jede Division soll rund 12 000 Mann einschl. 1500 Nichtstreitbare zählen. Zurzeit ist die Stärke jedoch noch sehr verschieden.
Kriegsgliederung: Die Div. werden auf Kriegsstärke gebracht, 3 Div. bilden ein Korps, mehrere Korps eine Armee. Für später ist die Formierung von Reserve-Div. in Aussicht genommen.
Kriegsstärke: Die Div. soll rund 20 000 Mann einschl. 3000 Nichtstreitbare zählen und 54 Geschütze.
Bewaffnung:
- Inf.: Deutsche Gewehre Modell 71/84 und 88; Jap. Gewehre Mod. 97, Kal. 6,1 mm.
- Art.: Ältere und moderne Geschütze von Krupp und Schneider-Creuzot, japanische Arisakageschütze in China selbst nach fremdem Muster hergest. Kanonen.
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- Marine: 4 geschützte Kreuzer (1897–98) 3000–4000 t, 2 ungesch. Kreuzer (1886–89) 2100 t, 10 Kanonenboote (1904–07) 560 t, 4 Flusskanonenboote (1908), 11 kleine Kanonenboote 3 Torpedobootszerstörer (850–870 t), 3 Hochsee-Torpedoboote (1906–07), 6 kleinere Torpedoboote. Im Bau: 2 geschützte Kreuzer, 1 Flusskanonenboot.
Ein Flottenprogramm, das 1909 ausgearbeitet wurde, wollte 1200 Millionen Mark verwenden.
Quellen: Heere und Flotten aller Staaten der Erde. Berlin, Zuckschwerdt; Graf Schlieffen, Das maritime China, im „Tag“ 28. November 1909.
Auf derselben Linie wie die gelbe, bewegt sich die panislamische Gefahr. Auf Druck entsteht Gegendruck. Durch die beständigen Angriffe der Weissen gedrängt, suchen sich die Mohammedaner der Erde, ungefähr 270 Millionen an Zahl, zu gemeinsamer Abwehr zusammen zu schliessen. Es gibt zwei Brennpunkte der panislamischen Propaganda; der eine ist in Ägypten, wo sie freimaurerisch gefärbt ist; von Ägypten ist sie nach Konstantinopel und Salonichi ausgestrahlt. Die Führer der anderen allmohammedanischen Gruppe sind die Senussi, deren Oberscheich in Dscharabub und Kufra im Tripolitanischen residiert.
Das theoretische Ziel aller Mohammedaner ist die Unterwerfung der ganzen Welt. Der Koran (9,29) sagt: „Bekämpfet, die nicht glauben an Gott und den jüngsten Tag, und die nicht heiligen, was Gott geheiligt hat und sein Gesandter!“ Dagegen ist der Dschihad, der heilige Krieg, den die Entfaltung der grünen Fahne des Propheten einleitet, eigentlich nur der Abwehr feindlicher Angriffe auf islamisches Land gewidmet. Ein Zusammenhang aller Mohammedaner hat im Grunde immer bestanden; der Panislamismus will lediglich den Zusammenhang noch mehr festigen. Zum ersten Mal entdeckte Spuren der zunächst im westlichen Sudan wahrnehmbaren Bewegung Le Chatelier in seinem Buche Le Panislamisme 1888. Ausführliches bringt dann Frl. von Eckardt in der Deutschen Rundschau 1898, Seite 68 ff. Einen fühlbaren Anstoss gaben dem Panislamismus die türkischen Erfolge in Thessalien, und die Bekehrung Kafiristans durch den Afghanen-Emir zum Islam, beides 1897. Die Meinungen über die-Bewegung sind geteilt. Gar keine Meinung für den Panislamismus hat Martin Hartmann (Westasiatische Studien 1908, Abt. 2, Seite 3–7 und in zahlreichen anderen Aufsätzen). Vgl. noch Ameen Rihani, The Nineteenth Century, Juniheft 1912, und Reay, Der Kampf um das Kalifat, „Das freie Wort“, 2. Aprilheft 1912.
Die Kopfzahl aller Mohammedaner wird von 230 Millionen (Hartmann) bis 300 Millionen angenommen. Der deutsche Kaiser bevorzugte bei seinem berühmten Trinkspruche in Damaskus November 1898 die höchste Zahl. Die einzige zusammenfassende Schrift über die Zahl der Mohammedaner in den verschiedenen Ländern der Erde gibt Hubert Janssen 1894 in einer hektographierten, aber im Buchhandel käuflichen Schrift. Er schätzte die Zahl auf 260 Millionen.
Für die türkische, die marokkanische, die persische und indische Politik kommt das Auftauchen des Panislamismus in Betracht. Ja auch für China, da 20–30 Millionen Mohammedaner im Reich der Mitte wohnen. Wer aber eigentlich den Anstoss zu der ganzen Bewegung gegeben habe, das war bis vor kurzem niemandem bekannt. Die Franzosen beschuldigten gelegentlich Deutschland der Vaterschaft. Warum? Weil in dem westlichen Sudan eine deutsche, von Rohlfs geleitete Expedition mit Empfehlungsbriefen des osmanischen Sultans operierte. Das war Ende der 70er Jahre. Wobei einzuschalten ist, dass die ersten panislamischen Spuren sich sonderbarerweise im Westsudan zeigten. Tatsächlich ist öfters der Vorwurf erhoben worden, dass der ganze Panislamismus eine Erfindung des Westens sei. Ungefähr so, wie das Wiedererwachen des Tschechischen und Lithauischen deutschen Anregern zu danken ist, oder wie der Aufstand der Taiping und der Jungchinesen teilweise auf die Gedanken christlicher Sendlinge zurückgehen. Auch in der mohammedanischen Welt selbst herrscht keine Einstimmigkeit des Urteils. Die einen sagen, Abdul Hamid sei der Urheber, die anderen: die Senussia; dritte behaupten, in Mekka liefen alle Fäden zusammen. Nach neusten Enthüllungen verhält sich die Sache noch anders.
Nämlich folgendermassen: Im Jahre 1839 wurde in Assadabad bei Kabul der Sejid (Nachfahre des Propheten) Dschemmal Eddin al Hussein geboren. Er machte grosse Reisen von Indien bis Europa. In Ägypten schloss er sich den dortigen Freimaurern an, in Konstantinopel wurde er [370] Freund Abdul Hamids und Kennans. Ei starb in Stambul 1897. Dieser Mann war der Vater des Panislamismus. Da über die Rasse seiner Sippe nichts Genaues überliefert wird, so darf man mit Fug annehmen, dass er, der unter den Pathan Kabulistans geboren wurde, auch selbst ein Pathan, ein Arier war. Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, dass der Ursprung einer mohammedanischen, überwiegend semitischen Bewegung in dem Gehirne eines Indogermanen zu suchen ist. Ähnlich kommt man ja jetzt immer mehr und mehr darauf, dass sehr viele Vorstellungen und Gedanken der Propheten des alten Testaments auf persische Vorbilder zurückführen.
Al Hussein hinterliess, wie Sokrates, zwar Schüler, aber keine Schriften. Sein Traum war ein universeller, aber duldsamer Islam, der ein Freund des Fortschrittes und der Zivilisation sei. Noch zu Lebzeiten Husseins, der gewöhnlich nach seinem Geburtsland al Afghani genannt wird, bildete sich in Ägypten die „Feste Vereinigung“, Al Orvatul Woska. Sie beauftragte al Afghani, ein panislamisches Organ in Paris zu gründen. Das geschah. Jetzt aber mischte sich England ein, genau wie es Sept. 1910 heftigen und erfolgreichen Widerstand gegen die Abhaltung eines jungägyptischen Kongresses in Paris ausgeübt hat. Auf britische Veranlassung hin wurde jenes Organ unterdrückt. Dann wurde ein allmohammedanischer Kongress nach Mekka berufen. Hiergegen jedoch war Abdul Hamid. Ihm schien der Bund, den er selbst zuerst gefördert hatte, gefährlich zu werden. Er fürchtete, und mit nicht Unrecht, dass ein arabischer Ansturm gegen das türkische Kalifat entstehen könne. Er wollte die Wasser des Panislamismus lieber auf seine eigene Mühle leiten, in der Tat entfaltete er eine ungemeine Tätigkeit in der Richtung. Er sandte zahlreiche Ulema als Apostel aus; er knüpfte Fäden mit den Emiren Turkestans und den Sultanen von Borneo und Waddai; er unterstützte chinesische und malaiische Pilger, die auf der Mekkafahrt nach Konstantinopel kamen, und Theologiestudenten, die aus Südafrika und der Dsungarei herbeieilten. Er unterhielt Spione bei allen auswärtigen moslimischen Höfen, und erhielt regelmässige Berichts von ihnen. Sein Haupttrumpf aber war der Bau der Mekkabahn, zu deren Kosten die Gläubigen der ganzen islamischen Welt viele Millionen beisteuerten.
Inzwischen hatte sich die Propaganda der Senussi aufgetan. Über die Brücke, die sie mit Yildiz Kiosk und der ägyptischen Gruppe verband und verbindet, ist kaum etwas Zuverlässiges in die Öffentlichkeit gedrungen. Als unmittelbarer Nachfolger des Afghani ist dagegen al Kawakebi bekannt. Er war der erste, der ein Buch über den Panislamismus schrieb. Ganz ungleich seinem Vorgänger, war er ein erbitterter Feind Abdul Hamids und der Türken. Das Schwergewicht der neuen Bewegung verlegte sich jetzt dauernd nach Ägypten. Einer ihrer bedeutendsten Vorkämpfer wurde Mustafa Kamil, der vor etwa fünf Jahren in noch jugendlichem Alter starb, und dann vor allem der Grossmufti Ägyptens, der Scheich Mohammeds Abdu. Das Ziel dieser Männer war ein mohammedanischer Protestantismus. Ihre Bestrebungen waren jedoch mehr ägyptisch als universell, und waren mehr kultureller als religiöser Art.
Wenn eine Zeit reif geworden, so wird dieselbe Erfindung von mehreren Köpfen gemacht, so tritt gleich eine ganze Reihe von Reformatoren auf die Bühne. Auch Indien brachte jetzt Förderer und Vorkämpfer des Panislamismus hervor. Ich nenne Achmed Khan (1817–97), der die Gesellschaft Targeamad gründete. Auch ist wohl hier der Aga Khan zu erwähnen, ebenfalls ein Afghane, eine geniale und ganz besonders anziehende Erscheinung. Halb Mystiker, halb Realpolitiker, vereinigt dieser Imam, der sich selbst eine grosse Gemeinde in Mittelasien, Indien und Ostafrika gegründet hat, und der an der Spitze der mohammedanischen Vereinigungen Indiens steht, des Schwärmers Ernst mit des Weltmanns Blick.
Der Panislamismus ist in seinem letzten Ende als eine Gegenwirkung gegen den bedrohlichen Vorstoss, das immer deutlichere Umsichgreifen der westlichen Kultur, aufzufassen. Inwieweit freilich das unzweifelhaft folgenreiche Phänomen auch politisch sich auswirken werde, das ist eine andere Frage. Die Senussi haben im Kriege um Tripolis eine massgebende Rolle gespielt. Der Panislamismus hat aber als solcher weder Heere noch Flotten. Ein staatlicher Zusammenschluss der islamischen Well ist unmöglich; ein politisches Allmohammedanertum noch misslicher, als ein politisches Allslaventum oder Allangelsachsentum.
Wenig Bedeutung hat der Panbuddhismus, der von Japanern, Engländern und Amerikanern eine Zeit lang propagiert wurde. Die Welt des Buddhismus scheint im Gegenteil auch religiös immer mehr zerfallen zu wollen.
[371] Eine hohe Bedeutung hat dagegen der neuerliche Zusammenschluss aller Hindu, bei dem freilich die politischen Elemente stärker als die religiösen sind. Der Brahmanismus zählt in seiner hinduistischen, stark vergröberten Form an 220 Millionen Anhänger, die sämtlich ostarische Sprachen reden. Seit zwanzig Jahren gibt es ein einheimisches Parlament auf der Himalayahalbinsel, und seit acht Jahren, offensichtlich angestachelt durch die Siege der Japaner, erhebt der Nationalismus bei den Hindu sein Haupt. Er äussert sich politisch durch erhöhte Agitation, wirtschaftlich durch Boykott englischer Waren, endlich durch Bombenwerfen und andere Attentate auf dem Gebiete der Propaganda der Tat. Vor allem lehnen sich politisch denkende Hindu dagegen auf, dass die finanziellen Hilfsmittel der Halbinsel zu ausserindischen Zwecken des britischen Reiches in Arabien, Afrika und Ostasien verwandt werden. England aber sucht der unleugbar vorhandenen Gefahr durch die verschiedensten Mittel zu begegnen. Die farbigen Truppen werden zurückgedrängt, die Weissen vermehrt. Die Polizeimassregeln, besonders die Überwachung der Presse, werden schärfer. Besonders eifrige Führer, wie der berühmte Sanskritist Tilak Tamai, werden vor Gericht gestellt und auf Jahre verbannt. Vor allem aber sucht man die Mohammedaner, 65 bis 68 Millionen an Zahl, gegen die Bekenner des Hinduismus auszuspielen. Zu dem gleichen Ende hat König Georg bei seinem letzten Besuche Indiens Januar 1912 die Hauptstadt der Halbinsel von dem hinduistischen Kalkutta nach dem moslimischen Delhi verlegt, zugleich allerdings, um die Regierung näher an das immer wichtiger werdende Südpersien heranzubringen.
Das britische Reich hat jetzt ungefähr 95 Mill. Moslime, das chinesische 20–30, das holländische 20–25 (30? 33?). Es folgt die Türkei mit etwa 15, Russland mit 14, Frankreich mit schätzungsweise 12 Mill., die durch Marokko weiter anschwellen werden.
Welche Ergebnisse hat die Revolution in Asien aufzuweisen? Am frühesten begann Japan. Dort ist die Sache gut abgelaufen. Dort handelte es sich jedoch – es war 1854–1868 – nicht so sehr um eine Revolution, als vielmehr um eine Restauration. Es handelte sich darum, den Mikado, der in das Dunkel der Palastgemächer zurückgetreten und zu tatenloser Beschaulichkeit herabgesunken war, wieder an die Spitze der Geschäfte zu bringen; es handelte sich darum, den Usurpator, den Schogun, in die gebührenden Schranken zurückzustossen. Auch hatte diese Umwälzung zunächst einen militärisch-diktatorischen Charakter; erst sehr viel später, erst 1889 wurde das erste Parlament berufen. Das Parlament war ein freiwilliges Geschenk des Mikado und seiner, bis dahin und zu einem grossen Teile auch noch jetzt diktatorisch schaltenden Berater. Von Bewegungen, die auf das Erzwingen einer Verfassung hinzielten, erfolgte die erste in Persien. Im Jahre 1906 sah sich der schwache Schah Mozafr Eddin veranlasst, dem stürmisch drängenden Volke, das durch eine lange Misswirtschaft und schlechte Finanzgebarung erbittert war, ein Parlament zu gewähren. Der Medschlis ist ständisch zusammengesetzt. Er besteht aus verschiedenen Kurien, wie man in Österreich sagen würde, aus einzelnen scharf abgegrenzten Gruppen, die je aus den Reihen der Prinzen, der Adels, der Priester, der Grundbesitzer, der Kaufleute und der Bauern gewählt sind. Es ist das ein Gedanke, der im späten Mittelalter bei uns verwirklicht wurde. Allein gerade in Persien zeigt es sich wiederum, dass ein an sich guter Gedanke dennoch in der Ausführung versagen kann: wenn eben die Träger des Gedankens nichts taugen, nämlich die persischen Edelleute, die vollkommen korrupt sind, die persischen Priester, die nicht wissen, auf welche Seite sie sich schlagen sollen, und die Bauern, die von den Verhältnissen der Welt keine Ahnung haben. Der Erfolg der persischen Revolution ist denn ein ungeheurer Wirrwarr gewesen. Aus dem Fegefeuer kam Persien in die Hölle; die Dinge sind jetzt weit schlimmer dort, als sie unter der Herrschaft des absoluten Schah je gewesen sind. Vor allem fehlt es an der Grundbedingung, an der Wirbelsäule jeder Regierungsmöglichkeit, an einer starken militärischen Macht. Iran ist offenbar dazu bestimmt, zu fallen, und, da es auf eigenen Füssen nicht mehr gehen kann, die Beute der Russen und Briten zu werden.
In der Türkei hat die Einführung der Verfassung sofort eine Abbröckelung des Osmanischen Reiches zur Folge gehabt. Bosnien und die Herzegowina, sowie Bulgarien wurden endgültig der Oberhoheit des Sultans entzogen; die Franzosen suchten Stücke vom südlichen Tripolitanien, von Fezzan, und die Engländer von Südarabien und Mesopotamien an sich zu reissen. Des weiteren entbrannte ein Bürgerkrieg in so ziemlich allen Teilen des ausgedehnten Imperiums. Die Bandenkämpfe [372] Mazedoniens lebten wieder auf, nach Albanien wurden vier Feldzüge geleitet; Zehntausende von Redifs mussten in den arabischen Provinzen kämpfen, in Yemen, el Haza, Assyr, und Hadramaut; der Libanon wurde unter schrecklichem Gemetzel aufs neue unterworfen; in Adana kam es zu einem Christenmassakre, gegen den Kurdenscheich Ibrahim wurden zwölf Regimenter mobil gemacht; an der armenisch-persischen Grenze brachen die Unruhen nicht ab; dazu eine blutige Reaktion im April 1909; ausserdem in vier Jahren sechs Grosswesire und acht Scheichs ül Islam! Nun brach noch der Krieg mit Italien aus. Der war zwar insofern der Türkei zum Heile, als im Anfang die inneren Zwistigkeiten zum grössten Teile verstummten, und das Reich zum erstenmale seit langer Zeit ein ungefähres Bild der Eintracht bot; auf der anderen Seite war der Krieg eine abermalige Schwächung der Türkei. Nun brach noch der Balkankrieg aus. Die hohe Pforte konnte nur Thrazien behaupten. Die ringsum lauernden Feinde wetzen neuerdings die Zähne, lüstern nach neuem Gebietserwerb, nach neuer Beute. Auch wird jetzt schon vielfach geargwöhnt, dass nach dem Zusammenbruch der europäischen Türkei die Araber in ihrem geschwellten Selbstbewusstsein anspruchsvoller den Türken gegenübertreten werden.
Überhaupt birgt die zwischen Arabern und Türken bestehende Kluft noch viel Gefahren in sich. Die Diplomatie Abdul Hamids verstand es, die nationalen Gegensätze zu verschleiern, dagegen sind jetzt, unter dem konstitutionellen Regime, die Gegensätze wieder frisch aufgelebt. Ähnlich war es schon 1848. Bei dem allgemeinen Erwachen der Völker forderten nicht nur die Deutschen die Freiheit, sondern auch die Polen, Tschechen und Ungarn rührten sich, so dass für alle nationalistischen Bestrebungen Südosteuropas, wie der irredentistischen Italiener, die Erhebung von 1848 den Ausgangspunkt liefert. Im osmanischen Reiche haben die Jungtürken noch ganz besonders die Erregung geschürt; denn in ihrem Chauvinismus wollten sie alle anderen Volkheiten, als da wären Albaner, Kurden, Bulgaren, Griechen, Armenier und Araber vertürken. Dieser Versuch ist der Hauptanlass zu den Bürgerkriegen gewesen, aber der Sieg des Komitees für Einheit und Freiheit war nicht ein Sieg der osmanischen Macht. Genug, wenn wir die Gesamtlage überblicken, so müssen wir auch hier sagen, dass bis jetzt die Revolution für die Türkei lediglich der Anfang schwerer Kämpfe und unabsehbarer Wirren geworden ist. Wirtschaftlich ist die Lage ohne Zweifel besser geworden, da eine Revolution immer gewisse, vorher gebundene Kräfte entfesselt; politisch ist dagegen der Ausblick recht trübe.
Über die chinesische Revolution ein Urteil zu fällen, ist die Frist noch etwas kurz. Sind doch noch nicht zwei Jahre seit den Anfängen der Revolution verflossen. Immerhin ist das eine schon deutlich, dass auch in Ostasien eine Abbröckelung begonnen hat. Ein grosser Teil der Mongolei erklärte sich selbständig, und die. Tibetaner sind drauf und dran, die chinesischen Soldaten aus Lhassa zu vertreiben. Bedrohlich mischen sich die Nachbarn, Russen und Japaner, ein. Alles wird von der Persönlichkeit des Führers abhängen, ob das schwankende Staatsschiff sicher aus der stürmischen Brandung in ruhigere Gewässer bugsiert werden kann.
Das letzte Volk, das revolutionäre Neigungen zeigt, ist das siamesische. Auch es redet von einer Republik. Man kann schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass die Verwirklichung einer solchen Absicht für das kleine Siam verderblich sein würde. Engländer und Franzosen würden den Staat zwischen sich aufteilen.
Wir sprachen vom Erwachen der Asiaten, und trotzdem melden wir nichts als „Zurückweichen“ und Untergang asiatischer Staaten? Gewiss, aber der Anstoss Europas weckt eben schlummernde Kräfte.
Das Erwachen des Orients dauert schon zwei Menschenalter. Greifbaren Erfolg hat die Wiedergeburt des Ostens bisher nur in Japan, und – wenn auch nicht militärisch-politisch – in dem durchaus modernisierten, und recht gut verwalteten Siam gehabt. Die übrigen Länder des Orients befinden sich in den Wehen des Überganges. Noch immer dringt der Westen vor. Er verschluckt Marokko, Tripolis, Mazedonien, Stücke Arabiens, Persien, Belutchistan und die Mongolei. Die Widerstandskraft Chinas und der Türkei ist erheblich geschwächt, und eine weitere Abbröckelung beider Reiche scheint unvermeidlich. Trotzdem ist es gewiss, dass noch vor dem Ablauf eines Menschenalters der Tag kommt, da der gesamte Orient sich siegreich gegen den Occident erhebt.