CXIV. Die Ruinen von Tyrus Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Dritter Band (1836) von Joseph Meyer
CXV. Das Campo Santo in Pisa
CXVI. Liebenstein und Sternfels am Rhein
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CAMPO SANTO
bei Pisa

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CXV. Das Campo Santo in Pisa.




Das Alterthum will in Italien nicht alt aussehen und behauptet den Reiz der Jugend. Die Antike verschmäht das Beiwort alterthümlich, und das einzige, was man dort ehrwürdig heißen darf, ist die älteste christliche Kunst. Der Tod war deren Amme, ein Todtenacker ihre Wiege: – wir meinen das Campo Santo – der Pisaner Friedhof.

Das Campo Santo ist ein längliches Viereck, dessen vier Seiten Grufthallen aus cararischem Marmor einfassen. Der Begräbnißplatz ist offen, und auf einige Fuß tief deckt ihn Erde aus dem heiligen Lande. Als nämlich die Pisaner heimkehren wollten aus dem Kreuzzuge nach der Eroberung Jerusalems, waren die Meisten des Heeres, welches ihr Erzbischof Lanfranki, der die Stola mit dem Kettenwamms und das Brevier mit der Streitaxt vertauschte, hingeführt hatte, gefallen. 200 Schiffe mußten leer zurücksegeln, und diese nahmen Erde an Palästina’s Küste als Ballast ein. Als die Flotte nun ankam, zog Pisa’s ganze Bevölkerung in Prozession zum Hafen, und auf ihren Schultern trug sie die heilige Erde auf ihren Friedhof. Der wurde dadurch bald zum geweihtesten der ganzen Christenheit. Viele Reiche vermachten ihr Vermögen dem Staate, oder der Kirche, um der Seligkeit willen, hier ruhen zu dürfen, und aus den entferntesten Ländern wurden nicht selten die Leichen der Großen und Begüterten hergeschafft, um für schweres Gold auf dem „heiligen Felde“ beigesetzt zu werden.

Der Gottesacker selbst ist eben, mit Gras bewachsen und ohne Monumente. Decken und Wände der unabsehbaren Bogengänge aber sind mit Sculpturen und Wandmalereien angefüllt. Fast alle haben Inschriften, die von Personen hohen Rangs oder großer Berühmtheit reden. Mehre der alten Künstler liegen hier zu den Füßen ihrer eigenen Werke. Dichter und Schriftsteller ruhen neben Helden der Kreuzzüge, und das Denkmal, welches Friedrich der Große seinem Freunde Algarotti setzen ließ, steht mitten unter Urnen und Sarkophagen aus der ältesten Zeit. Die Sculpturen sind sehr merkwürdig; vor Allem verdienen jedoch die Freskomalereien Bewunderung, das offene Buch der Frühgeschichte der italienischen Malerei, von Cimabue, ihrem großen Schöpfer, bis zu Perugino.

Cimabue, (1240 geb.,) byzantinischer Bildung, entfesselte die Kunst zuerst von dem Herkömmlichen, führte die Zeichnung auf die natürlichen Umrisse zurück, und gab seinen Gestalten Leben und Ausdruck. Auf die Wände des Campo Santo hauchte er das Feuer erster Begeisterung aus. Ihm folgten in der Ausschmückung dieser Hallen seine Schüler und Zeitgenossen: Giotto, die Brüder Gaddi, Orgogna, Memmi, d’Arezzo, Buffamalko, Spinello und Andere, welche die Kunst mit Riesenschritten weiterführten, und wovon Mehre den [64] Meister übertrafen. Eine besondere Aufzählung und Beschreibung dieser Bilder würde ein Buch füllen und gehört nicht hierher. Von dem Eindruck, den sie machen, hat man bei der Betrachtung der Werke der neuern Kunst keine Ahnung. Man fühlt sich angeweht vom Geiste des christlichen Ernstes, der Frömmigkeit und Weihe, und von jenem tiefsinnigen Humor des Mittelalters, der in der phantasiereichen Vermischung naher Gegenstände mit überirdischen Dingen sich gefiel; so wie man nicht sattsam bewundern kann den hohen, kräftigen und wieder milden Ausdruck der Gestalten, der Krieger, Fürsten, Helden, Kirchenväter, Engel, Patriarchen, Märtyrer, Apostel und Heiligen, in den erhabensten Darstellungen des Himmelreichs Gottes, des jüngsten Gerichts, und des Triumphs des Todes. Es liegt in diesen alten Bildern die höchste Schönheit, obwohl unvollkommen, verborgen – eine noch höhere Schönheit, als sie Raphael und Leonardo erreichten. Ueberall ist das Ringen der genialsten und kühnsten poetischen Anschauung mit der Kindheit der Kunst bemerklich. – Man wandelt in diesen Gängen voll Todtenfeier und Unsterblichkeitspoesie wie im Zwielichte der Schöpfung, und die Fresken ziehen an einem vorüber wie wunderliche und tiefsinnige Träume über die Geheimnisse des Glaubens, der Offenbarung und der Ewigkeit.

Die meisten Gemälde sind, Dank sey’s der Reinheit und Milde des Pisanischen Himmels! noch unversehrt, und nur wenige lassen beklagen, daß so herrliche und ganz unschätzbare Kunstwerke der Witterung ausgesetzt sind, und für ihre künftige Erhaltung so gut wie gar nichts gethan wird.