Böhmen Tagebuch einer musikalischen Reise (1773) von Charles Burney
Prag
Dresden


[3]
Prag.


Diese Stadt ist seit der preussischen Belagerung, worin die meisten Häuser ruiniret wurden, größtentheils neu wieder aufgebauet worden, und man [4] war noch damit beschäftigt, sonderlich bey der Domkirche und dem kayserlichen Pallaste, welche beyde beynahe ganz waren zerstöret worden. Die Orgel in der Domkirche, welche gleichfalls seit dem letzten Kriege neu gebauet worden, ist sehr groß und hat einen schönen Ton. Sie ward während des Vormittagsgottesdienstes sehr gut gespielet, obgleich der Organist, Herr Wolf, bettlägerig war. Ich ging nach seinem Hause, um mit ihm, wenn er Kräfte genug gehabt hätte, über den Zustand der Musik in Prag zu sprechen; allein der Bediente, welcher mich anzumelden vorausgegangen war, kam vor Furcht ganz erblaßt zurück, und sagte mir, daß es sehr gefährlich für mich seyn würde, dies Haus zu besuchen, da Herr Wolf an dem bösartigen ansteckenden Fieber danieder läge, welches zeither so heftig in dieser Stadt gewütet hätte.

Herr Wolf, welchen man für einen der besten Organisten in Deutschland hält, hat den Titel Schloßorganist, weil die Domkirche innerhalb der Mauern des Schlosses liegt.

Es sind drey grosse Jesuitercollegien in Prag; das zu St. Nicklas hat eine sehr schöne Kirche, deren Orgel in zwey Theile getheilt ist, davon auf jeder Seite der Emporkirche einer steht. Die Claviere nebst einem kleinen Rückpositiv liegen in der Mitte, aber so niedrig daß das westliche Fenster [5] frey bleibt. Die Einfassungen, Pfeiler, der Grund und die Verzierungen dieses Werks, sind nicht von Holz sondern von weissem Marmor; die Orgel sowohl als die Kirche scheinen ganz neu. Ich sahe nie an einer Orgel eine so prächtige edele Aussenseite. Einer von den Jesuiten hatte sie gebauet. Ihr Ton ist sehr gut, aber der Anschlag ungemein schwer.

Eine Bande herumreisender Musikanten bewillkommte mich in meinem Wirthshause während des Mittagsessens. Sie spielten auf der Harfe, Violin und dem Waldhorn verschiedene Menuetten und Polonaisen, welche an sich sehr schön waren, obgleich ihr Vortrag ihnen keine neue Schönheiten gab. Vielleicht wird man sich darüber wundern, daß diese Hauptstadt eines so musikalischen Reichs, wo das Genie jedes Einwohners sich frey üben kann, nicht mehr grosse Tonkünstler habe. Die Ursache davon ist nicht schwer zu finden, wenn man bedenkt, daß Musik eine von den Künsten des Friedens, der Muse und des Ueberflusses sey; und wenn nach Rousseau’s Meynung, die Künste bloß in den verderbtesten Zeiten geblühet haben, so muß in diesen Zeiten doch wenigstens Ruhe und Wohlstand geherrscht haben. Nun aber haben die Böhmen nie eine langwierige Ruhe genossen, und selbst in den kurzen Zwischenzeiten des Friedens, lebte ihr hoher Adel selten in ihrer Hauptstadt, sondern folgte dem Hofe nach Wien: [6] daher die Aermern, welchen man in ihrer Jugend musikalischen Unterricht gegeben, keine Aufmunderung haben, in ihren reifern Jahren in der Musik weiter zu gehen, und daher sie gewöhnlich nur zur Gassenmusik oder zur Dienstbarkeit taugen.

Viele von denen, welche Musik in den Schulen lernen, gehen nachmals wirklich an den Pflug und andere mühsame Handarbeiten; und dann hilft ihnen ihre musikalische Kenntniß zu weiter nichts, als daß sie in der Kirche mitsingen, oder sich zu Hause ein Vergnügen machen können, welches vielleicht der würdigste Gebrauch ist, wozu man die Musik anwenden kann.

Einige Reisende haben versichert, daß der böhmische Adel Musiker auf seinen Gütern halte; allein dies folgt nothwendig, sobald sie Bedienten hatten, da wie gesagt, alle Kinder der Bauern und Handwerker in jeder Stadt und Dorfe durch ganz Böhmen in den gewöhnlichen Leseschulen Musik lernen. Prag ist eine Ausnahme, denn daselbst ist sie kein Theil des Schulunterrichts; sondern die Musiker kommen vom Lande daher.[H 1]

Von Zeit zu Zeit steht in diesen Landschulen ein groß Genie auf, wie z. E. in Teutschbrodt, dem Geburtsorte des grossen Stamitz. Sein Vater war Cantor an der Stadtkirche; und der nachmals wegen seiner Komposition und als Geiger [7] so berühmte Stamitz, ward in der gemeinen Stadtschule, unter Knaben von gewöhnlichen Talenten erzogen, die unbekannt lebten und starben. Er aber brach, wie ein zweyter Schackespeare, durch alle Schwierigkeiten und Hindernisse hindurch, und so wie das Auge des Einen die ganze Natur durchschaute, so trieb der Andere, ohne von der Natur abzuweichen, die Kunst weiter als irgend jemand vor ihm gethan hatte. Sein Genie war sehr original, kühn und kraftvoll; Erfindung, Feuer, und Contrast in den geschwinden Sätzen; – eine zärtliche, reizende und schmeichelnde Melodie in den Langsamen; verbunden mit Scharfsinn und Reichthum in der Begleitung, charakterisiren seine Werke; alle sind voll starken Ausdrucks, welchen der Enthusiasmus des Genies hervorgebracht, und die Cultur verfeinert hat, ohne ihn zu unterdrücken.

Seger ist Orgenist bey den Kreuzherrn in Prag. Gasman sagte mir, ich sollte ihm aufsuchen, indem er der beste Spieler in der Stadt sey. Ich hatte eine lange Unterredung mit ihm und fand, daß er sowohl ein artiger Mann, als ein vortreflicher Spieler war. Er weiß noch, wie Tartini und Vandini vor funfzig Jahren zu Prag waren; und scheint mit dem Charakter und Werken aller grossen Musiker in Europa sehr wohl bekannt zu seyn.

[8] Ich erfuhr von ihm, daß in dem Kloster zum heil. Kreuze, wobey er als Organist steht, drey oder vier Knaben angenommen sind, welche aus Landschulen hieher kamen und vortreflich singen; ihre Stimme, ihre Triller, sind schön und ihr Geschmack und Ausdruck sehr gut. Ich kam einen Tag zu spät nach Prag, sonst hätte ich eine Musik in dieser Kirche hören können.

Es kostete mir viel Mühe von den böhmischen Musikern Nachricht zu erhalten, denn die deutsche Sprache half mir in diesem Königreiche wenig, weil hier der sklavonische Dialekt der herrschende ist. Herr Seger sprach jedoch Italiänisch, und war keinesweges zurückhaltend; er bestätigte meiner Entdeckung, daß nicht nur in Böhmen, sondern auch in Mähren, Hungarn, und einem Theile von Oesterreich, die Kinder in den gewöhnlichen Leseschulen Unterricht in der Musik erhalten. Die Böhmen sind in dem Gebrauch der Blasinstrumenten überhaupt sehr geschickt; allein wie Herr Seger mir sagte, so wird die Hoboe in dem an Sachsen gränzenden Theile, an meisten und vortreflichsten gespielt, so wie an der mährischen Gränze, die Tuba oder Clarine.

Der berühmte Mizliwiceck ward in einer böhmischen Dorfschule erzogen, und studirte nachmals den Contrapunkt zu Prag, bey Herr Segern.

[9] Die besten Violinspieler in dieser Stadt, sind gegenwärtig: Joseph Strobach und Johann Galli am Schlosse, und Wenzel Braupner, welcher ein vortreflicher Solospieler ist. Der beste, eigentlich der einzige Violonschellspieler hieselbst, ist Hetes, und auf der Hoboe ist Stiestni vortreflich.

Seit langer Zeit sind hier keine Opern aufgeführt worden; hingegen spielt man hier wöchentlich dreymal deutsche und slavonische Komödien, welches das einzige Schauspiel ist, das man hier hat. Der Adel war itzt größtentheils auf dem Lande; doch im Winter sollen sie oftmals grosse Concerte in ihren Wohnungen und Palästen haben, welche mehrentheils von ihren eigenen Bedienten und Vasallen, die in den Landschulen die Musik erlernet haben, aufgeführt werden.

Ich verließ Prag den 17ten Sept. nach vielem Auffenthalte und Plackereyen, denen Reisende in fremden Ländern unterworfen sind. Zu Budin der dritten Poststation fand ich eine Musikschule, und hörte zwey arme Schüler in den Strassen, den einen auf der Harfe, den andern auf dem Triangel ziemlich gut spielen. Zu Lobeschütz ist gleichfalls eine musikalische Schule, welche von mehr als hundert Schülern beyderley Geschlechts besucht wird, wovon jeder der Lust hat, Musik lernet. Ich besah die kleine niedliche Kirche, welche [10] eine simple kleine Orgel hat. Hier spielen und singen die Kinder. Ich hörte eine ansehnliche Zahl Knaben in der Schule sich auf der Geige üben, allein ihre Spielart war sehr rauh.[H 2]

Von Lobeschütz dachte ich zu Wasser nach Dresden zu gehen. Nach einer äusserst beschwerlichen Reise, die ein Sturm und die schlechte Beschaffenheit meines Boots zugleich sehr gefährlich machten, kam ich endlich zu Königstein an. Dies war kaum der halbe Weg von Lobeschütz nach Dresden; allein ich konnte es auf dem Wasser nicht weiter aushalten, sondern reisete nachdem ich auf dem Felsen hinauf geklettert war, auf einem Wege nach Pirna.

Hier und zu Königstein sind gleichfalls Musikschulen, so wie in Böhmen. Zu Pirna ist eine für die Officierkinder, und eine für ärmere Knaben, wo sie wie anderwärts, in der Musik, im Lesen und Schreiben unterrichtet werden.

[11] Es würde meinen Lesern Langeweile machen, wenn ich alle Musikschulen, die ich auf meiner Reise durch Oesterreich, Mähren, Böhmen und Sachsen, besucht habe, genau beschreiben wollte. Ich will nur überhaupt bemerken, daß die Schüler eine rauhe plumpe Spielart hatten, und daß sie nie nach Vollkommenheit zu trachten schienen. Metastasio war der Meynung, daß die Kinder in diesen Schulen sehr schlecht angeführt würden, so daß sie nachmals unverbesserlich wären. Freylich sind die meisten zu Bedienten und niedrigen Handthierungen bestimmt; und da in vielen Gegenden Böhmens und Sachsens, die gothische Herrschaft über die Vasallen noch immer Statt findet, so fühlen diese Leute selten den Ehrgeitz, sich in der Musik hervorzuthun. Zuweilen steht einmal ein Mann von Genie unter ihnen auf, und wird ein vortreflicher Musiker, er mag wollen oder nicht; doch in diesem Falle läuft er gemeiniglich davon, und läßt sich in irgend einem fremden Lande nieder, wo er die Früchte seiner Talente einerndten kann.

Ueberhaupt erhellet doch aus diesen Schulen deutlich, daß nicht Natur sondern Cultur es macht, daß die Deutschen so allgemein Musik verstehen; und ein genauer Betrachter der menschlichen Natur, der lange unter diesem Volke lebte, hat gesagt, „daß, wenn es angebohrnes Genie gebe, Deutschland gewiß nicht der Sitz desselben [12] sey; ob man gleich zugeben müsse, daß geduldiger Fleiß und Application darin zu Haufe gehören“[H 3]

Der Weg von Pirna bis Dresden ist gut; das Land auf der linken Seite ist flach, und wenn das Getraide vom Felde ist, kahl und unangenehm; allein rechter Hand geben die mit Wein und Häusern bedeckten Hügel an dem Elbufer einen reizenden Anblick.

Anmerkungen (H)

  1. [299] Der böhmische Adel hat im eigentlichsten Verstande, auf seinen Gütern Musiker. Ich weiß sogar einen Herrn (dessen Namen mir itzt nicht beyfallen will.) der seine Bauern und Bäuerinnen in italiänischer Musik und im Tanzen so hatte unterrichten lassen, daß sie ihm von Zeit zu Zeit ordentliche Opern aufführten; und er überraschte einstmals den König von Preussen mit einer solchen Oper, die ihm sehr gefallen hat. Nachher waren die Helden und Prinzessinnen wieder Ackerleute. Die Schulen thun es allein nicht. Von Herrn Benda hätte Herr Burney richtigern Unterricht einziehen können.
  2. Hier werden einige Seiten voll Klagen über schlechte Wege, unbequeme und theure Postanstalten, elende Wirthshäuser, weggelassen. Nicht etwa weil sie durchgehends übertrieben sind, sondern weil man sie schon oft gelesen hat, und in einer musikalischen Reise nicht erwartet. Der deutsche Leser, welcher gereiset ist, oder reisen will, weiß das Gehörige über diese Materie ohnedem schon besser.
  3. Diese wörtlich übersetzte Stelle, konnte aus mehr als einer Ursache nicht weggelassen werden, so lange der Verfasser sie nicht aus dem Originale öffentlich zurücknimmt. Er verspricht in einem Briefe an den Uebersetzer, dies bey einer neuen Auflage zu thun. Bis die erscheint, muß sie also auch hier bleiben. Einer Widerlegung kann indessen weder die Art der Folgerung, noch das Gefolgerte, noch der Bouboursische Machtspruch des genauen Beobachters der menschlichen Natur in unsern angehängten, Anmerkungen, auf keine Weise werth seyn.
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