Bilder aus Spanien/Toledo
Bilder aus Spanien.[1]
In der südlichen Hälfte Spaniens wähnt der reisende Fremde sich weit, weit weg aus Europa und aus der Gegenwart entrückt. Er sieht die todte Wüste unter afrikanischer Sonnenpracht und inmitten derselben die Oasen mit paradiesischer Fruchtbarkeit, uralte Städte darin, die kaum einen Zug von moderner europäischer Kultur aufweisen, dagegen aber großartige vereinsamte oder zerfallende Spuren mittelalterlichen Glanzes, Spuren eines Zeitalters, das für die Spanier die Blüthe ihrer Geschichte bedeutet, voll eigenartiger Volksentwicklung, sittlicher Thatkraft und geistiger Regsamkeit. Die Gegenwart ist noch nicht bis dahin gedrungen. Die grandiosen Bauwerke, die sich da als Zeugen der Vergangenheit erhalten haben, drücken erhabene Elegien aus. Man muß [128] seinen Geist in einen hohen Schwung versetzen, um für diese Riesenkathedralen und burgartigen Alcazars den rechten Blick zu gewinnen; man muß mit seiner Phantasie in die fernen Zeiten zu dringen suchen, in denen um diese Steine das Leben des Volkes in üppiger Fülle wogte und die morgenländische Kultur die Ruinen abendländischer Barbarei in wunderbarem Reichthum überwucherte.
Keine spanische Stadt kann anregender zu solcher Versenkung in vergangene Tage sein als Toledo. Sie ist eine Reliquie der tausendjährigen Zeit, in welcher die Herrschaft der Römer, dann der Gothen, dann der Araber hier ihren bevorzugten Sitz gehabt hat.
Man kommt ihr nicht nahe, ohne zu fühlen, daß man aus der Gegenwart in eine weit entlegene Vergangenheit sich begiebt. Als eine Felsenfeste hebt sie sich aus dem Tajothale auf, das vor ihr wie ein Abgrund erscheint, und wie ein Festungsgraben umschlingt sie der gewundene Fluß. Eine kolossale, schwärzliche Gebirgsmauer mit natürlichen Terrassen und hinein und darauf gebauten Bastionen aus früheren Zeiten verbirgt die Stadt, von der in der Tiefe nichts als hoch oben eine citadellenartige Krönung zu sehen ist. Keine Vorstadt, kein Haus, ehe man hinter diese Umwallung des Felskopfes gelangt. Die uralte Alcantarabrücke, über welche schön die karthagischen und römischen Krieger gezogen sind, führt über den Fluß und die Schlucht. Ein massiges Thurmthor mit Zinnen auf der Höhe, ein Werk der Araber, steht auf der Brücke.
Von derselben an steigt die Straße außen an der Felswand empor und öffnet den Blick immer weiter auf das Thal mit Weinbergen, Feldern und Wiesen. Ein anderes prächtiges maurisches Bauwerk, die Puerta del Sol, wölbt sich wie ein Triumphbogen über den Weg, als wolle es dem Ankommenden nochmals zu Gemüth fuhren, daß die Stätte, die er zu betreten sich anschicke, jahrhundertelang ein arabischer Herrschersitz gewesen, daß viele maurische Könige in funkelnder Rüstung auf feurigem Roß an der Spitze ihrer Veziere durch dieses Thor hinaus zu ihrem Alcazar geritten sind.
Hoch oben biegt die Landstraße an plumpem Burgwerk vorbei in enge, holperige, auf- und absteigende Gassen, die nach wenigen Schritten schon sich labyrinthisch verschlungen zeigen. Die Häuser sind meist zweistöckig, flach gedeckt, mit großen, geschlossenen Thoren, welche den Eingang in den Hausflur bilden. In ihrem hellfarbigen und sauber gehaltenen Anstrich, mit ihren breiten und hohen Fenstern und den schmalen Gitterbalkonen davor gewähren sie an sich einen nicht unfreundlichen Anblick in der düstern Enge der stillen Gassen. Charakteristik sind ihre durchbrochenen Eisenportale von kunstvoller Schmiedearbeit, wie solche Toledo einst berühmt gemacht hat; oder man sieht schwere Holzthüren, welche dicht mit eiförmigen, ciselirten Nagelköpfen beschlagen sind, gestochene Bronzeplatten, reich gearbeitete Metallklopfer, Schilder und Wappen wie eine Rüstung an sich tragen.
Das eigentliche Leben der Stadt entwickelt sich auf dem mit einer Arkadenreihe, mit Bäumen und Springbrunnen anmuthig ausgestatteten Hauptplatz und nahebei in den Gassen, wo es Läden, Gast- und Kaffeehäuser, Marktstände und offene Werkstätten giebt, in denen zugleich alle innere Häuslichkeit sorglos sich enthüllt: das Kind in der Wiege, die Mutter, die sich die Haare macht, der Vater, welcher am Schneidertisch hockt. Es ist beinahe noch alles, wie es vor drei und vier Jahrhunderten war, nachdem auf der altmaurischen Grundlage des Gemeindewesens sich das Spanierthum ausgebreitet hatte. Ein großer Theil der weiblichen Wesen hat auch ausgesprochen maurischen Typus, ein anderer wieder mit seinen Blondköpfen mahnt an die alte gothische Abstammung. Die Männer sind ernst, zurückhaltend, stolz auf ihre Stadt, die drei Königreichen nacheinander die erste gewesen. Einst, noch im 14. Jahrhundert, gab es hier eine Bevölkerung von zweihunderttausend Menschen; jetzt leben keine zwanzigtausend mehr in dieser Versteinerung vergangener Herrlichkeit auf diesen Resten römischer, gothischer, arabischer und mittelalterlich spanischer Macht. Am Ende eines Eisenbahnstranges gelegen, ist Toledo nur noch eine Sehenswürdigkeit seiner Alterthümer wegen, abgelegen vom Hauptstrom des modernen Lebens, ein stiller Platz, wie vergessen nicht nur von der zerstörenden, sondern auch von der neubildenden Zeit. Es treibt Kleinhandel und die unentbehrlichen Gewerbe für ein paar tausend Menschen der Stadt und der Umgegend, die noch etwas mehr kaufen können als ihre dürftige tägliche Nahrung. Seine einst bewunderte Goldschmiedekunst ist zurückgeblieben, selbst in den eigenartigen Arbeiten von feinem Eisen, mit Stahl und Bronze ausgelegt, ist Toledo nicht mehr ersten Ranges in Spanien. Nur die uralte Waffenfabrik, die der Staat unterhält, behauptet ihren hohen Ruf. Sie liefert in dem Eisenstahl, wie ihn schon die maurischen Klingenschmiede hier unübertrefflich gefertigt, alle blanken Waffen für die spanische Armee, für jeden Truppentheil, für jeden militärischen Rang eine besondere Gattung, Scheiden und Griffe oft mit kunstvollster Ciselirarbeit geziert.
Mitten aus dem Straßenlabyrinth, theilweise von demselben eingezwängt, erhebt sich als vornehmstes Bauwerk die
[129][130] Kathedrale. Sie steht wie eine mächtige Burg mit ihren langen und hohen Mauern da und ihr starker Thurm mit achteckigem Helm ragt über hundert Meter in die Lüfte. Schon die reiche Ausführung der Portale zeigt, daß man es hier mit einem Prachtwerk der gothischen Baukunst zu thun hat; aber erst, wenn man den ungeheuren Innenraum zu überschauen vermag, begreift man die Großartigkeit der ganzen Anlage. Kirchliche Raumverhältnisse wie hier sind im anderen Europa auch nicht annähernd vorhanden. Das ganze Kirchenschiff des Straßburger Münsters, das 30 m hoch ist, könnte in die Mitte dieser Riesenhalle der Kathedrale von Toledo gestellt werden, die vom Fußboden bis zur Decke 33,8 m, 130 m in der Länge und 66 m in der Breite mißt. 750 Fenster mit farbigen Scheiben und Glasmalereien werfen ihr buntes Licht in diesen Raum, und er ist trotzdem nur in ein geheimnißvolles Halbdunkel getaucht. Fünf große Schiffe in der Länge und ein sechstes, welches sie im Hintergrund kreuzt, gliedern seine Weite, und 88 Pfeiler gewaltigen Umfangs, je aus 16 gebündelten Säulen gebildet, tragen das majestätische Gurtengewölbe. Nach dem engen und öden Gewirr der Straßen von Toledo vermeint man hier auf einem großen Platz zu stehen, auf dem eine Menge Kirchen nebeneinander liegt. Die ganze heutige Stadtbevölkerung kann sich bequem in diesem Bau versammeln, um zusammen ihre Andacht zu verrichten.
Erklärlich ist diese Größe des Bauwerks eben nur, wenn man an die frühere Bedeutung und Einwohnerzahl Toledos denkt und die religiöse Leidenschaft in Rechnung zieht, mit der die spanischen Christen ihre Siege über die mohammedanischen Araber nach jahrhundertelangen Kämpfen verherrlichten. Für diese Siege sollten ihre Kathedralen zeugen und der Nachwelt noch sie in Erinnerung rufen. Wo die maurischen Eroberer ihre prachtvollen Moscheen errichtet hatten, in deren Größe und Herrlichkeit sie den Triumph des Islams über das Abendland feierten, da bauten, auf ihren Ruinen, oder innerhalb ihrer Mauern, mit ihren Steinen und Säulen, die katholischen Sieger ihrerseits in heißem Ehrgeiz ihre Kirchen so groß wie möglich, wie nirgend anderswo. Allen früheren Geschlechtern, die für den christlichen Glauben gekämpft und gefallen, sollte damit auch eine Genugthuung ohne gleichen bereitet werden. Die Kathedrale in Toledo, der alten gothischen Haupt- und Bischofsstadt, war überdem eines der ersten unter diesen Triumphmonumenten der spanischen Christen, und ringsum herrschten noch lange die Mauren, als sich schon längst das Kreuz auf der Spitze ihres Thurmes mahnend erhob. Der Bau begann 1227 unter der Regierung des heiligen Ferdinand; 250 Jahre währte er und war gerade fertig geworden, als 1492 die letzten Maurenreiche in Spanien, die von Malaga und Granada, zusammenbrachen.
So stand das Wunderwerk also in doppelter Siegesbedeutung da und wurde als ein Heiligthum besonderer Art fortan verehrt. Alle Reliquien, welche die gothischen Spanier vor den Araberheeren gerettet und die ihnen in ihren Zufluchtsstätten in den nördlichen Gebirgen so lange gleich nationalen Standarten und Kleinoden gegolten, brachten sie in diesen hehren Tempel von Toledo, der sich zuerst auf dem entweihten Boden wieder erhoben. Da betteten sie die frömmsten unter ihren alten Bischöfen und Königen zur ewigen Ruhe; dahin flossen die Stiftungen, Schätze über Schätze von hunderterlei Art, und nach und nach sammelte sich hier ein ungeheurer Reichthum an Gold und Silber und Edelsteinen, an herrlichen Kunstwerken, an Gemälden, an Handschriften und Büchern, an Monstranzen und Gewändern, an Statuen und Büsten, Sarkophagen und Kreuzen.
In der Kathedrale offenbart sich die üppige Kraft des siegreichen Spanierthums im Mittelalter. Zeugniß für sie ist in Toledo noch der reiche und doch reine gothische Bau des Klosters und der Kirche San Juan de los Reyes, der 1477 unternommen wurde, nachdem die Kathedrale vollendet war. Die Kirche sieht aus wie eine Burg. Ihr Dach ist eine flache Terrasse, von einem Steingeländer umgeben, und darauf erhebt sich aus einem Kreise von Bildsäulen spanischer Könige eine sechseckige Kuppel. An dem dunklen Gemäuer hängen von oben bis unten in Reihen die großen Eisenketten, welche den christlichen Gefangenen nach der Eroberung Granadas abgenommen wurden, gewiß eine eindrucksvolle Zier, welche die Phantasie lebhaft beschäftigen muß. Verödet und gruftartig wie die Stadt Toledo, so ist längst auch Kloster und Kirchenhalle von San Juan. Aber architektonisch bilden sie eins der edelsten Denkmäler der Gothik.
Man hat von dem umwallten Platz vor der Kirche und vollends von ihrer Dachterrasse aus einen schönen Blick in das unten sich ausbreitende Thal, wie von einem vorspringenden Altan. Auf dem Kirchenplatze wurden in alten gothischen Zeiten die Reichsversammlungen abgehalten, die Konzile, auf denen die Bischöfe die Rolle der Herrscher spielten und die Könige wie ihre Vasallen erschienen. Jede dieser Sehenswürdigkeiten Toledos ist eben wie ein Legendenbuch, in dem man blättert; überall zeigt es ein Stück Geschichte, das in eigenartig pittoresken Bildern schnell an unserem geistigen Auge vorüberfliegt.
Toledo hat das Geschick Spaniens und zwar auch das unglücklichste innerhalb eines Jahrtausends bestimmt. Von hier aus rief eine Partei am Westgothenhofe im Sommer des Jahres 711 die Araber ins Land, um König Roderich zu stürzen, der dann bei Xeres de la Frontera in Andalusien nach einer furchtbaren Schlacht von angeblich sieben Tagen heldenmüthig im Kampfe fiel. Und König Roderich war insofern selber die Ursache dieser verhängnißvollen Katastrophe gewesen, als er des Grafen Julianus Tochter nach einem seiner Schlösser bei Toledo entführt hatte. Graf Julian rächte sich dadurch, daß er die Araber bei Ceuta in Afrika, wo er sie aufhalten sollte, sich ungehindert nach Spanien einschiffen ließ. Toledos Erzbischof und Generalinquisitor Bernardo de Roias war es dann wieder, der im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts die wahnsinnige Vertreibung aller maurischen Nachkommen veranlaßte und dadurch eine barbarische Vernichtung der Kultur gerade in den blühendsten Provinzen des Landes bewirkte. Eine Million von Moriskos, wie man die zurückgebliebenen und äußerlich zum Christenthum bekehrten Mauren nannte, wurde schmählich nach Afrika hinüber gejagt, wenn man sie nicht ermordete oder unterwegs verhungern ließ. Ihr Abzug machte Spanien zur Wüste; in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hatte Toledo über fünfzig Wollenwaarenfabriken; hundert Jahre später nur dreizehn, da fast diese ganze Industrie von den Moriskos nach Tunis mitgenommen worden war. Vierzigtausend Menschen hatten von der Seidenbearbeitung gelebt. Nach Vertreibung der Ungläubigen schauten sie vergebens sich nach Mitteln für ihren Unterhalt um.
Unweit von San Juan de los Reyes ist eine alte Synagoge, fünfschiffig, mit kleinen achteckigen Säulen und maurischen Bogen darauf, die Decke von getäfeltem Cedernholz, an den Wänden arabische Inschriften, der Raum von oben erleuchtet. Die Juden bauten sie, die Mauren machten eine Moschee daraus, die Christen eine Kirche, die sie Santa Maria la Blanca nannten. Noch ein anderer jüdischer Tempel ist in Toledo, eine viereckige Halle mit Säulen, die Guirlandenkapitäle haben und in die Decke vierundfünfzig [131] Bogen spannen. Auch daraus hat man eine katholische Kirche, Nuestra Señora del Transito, gemacht; aber sie steht ebenfalls leer und ist von einer Bevölkerung nicht mehr benutzt, die in der kolossalen Kathedrale mehr als genug an Raum hat. Die Juden aber konnten ihr altes Gotteshaus nicht mehr besuchen; es gab keine Israeliten mehr in Spanien, seitdem Isabella die Katholische zu Ehren des Sieges von Granada sie alle aus dem Lande trieb, damit es nicht länger durch die Anwesenheit dieser „Ungläubigen“ befleckt werde. Es sollen nach den einen 160 000, nach anderen 800 000 Juden gewesen sein, die damals Spanien verließen, und bis in die neuere Zeit wurden sie daselbst nicht geduldet.
Man behauptet in Toledo, daß der Fremde ein ganzes Jahr zum Studium der künstlerischen Schätze und architektonischen Alterthümer in der Stadt verwenden könnte. Man braucht nur den weißen Mörtel von einer Mauer abzulösen, um auf ein Figurenwerk von Stein aus der Maurenzeit oder der spanischen Gothik zu stoßen. So mancher Raum, der heute als Werkstatt dient, war einst der Prunksaal eines Vornehmen, wie die Steinhauerhallen del Moro, wo Meisterwerke arabischer Architektur von den Decken auf die Arbeiter herniederblicken. So manches nur halb bewohnte Privathaus von unscheinbarem Aeußeren birgt in seinem Innern die Marmorsäulen eines maurischen Harems und die Freskomalereien oder ciselirten Bronzezierden, die der spanische Große in den verlassenen Räumen des arabischen Palastes anbringen ließ. Stattliche Schlösser noch aus der Gothenzeit und Alcazars der Mauren sind mitten in dem bergigen Gassenlabyrinth die mächtigen Behausungen der Hospitäler, Klöster und Lehranstalten geworden und in ihre nüchternen Räume gelangt man durch Prachtportale aus der Renaissanceepoche. Sagen umspielen fast jedes alte Haus, jede Ruine, jeden Bergkopf bei Toledo, auf dem noch ein plumper Thurmrest sichtbar ist.
Von der flüsternden Sage begleitet, steigt man zur Höhe der Stadt hinauf, welche die Ruinen der Burg Karls V. trägt, des Alcazars nach der arabischen Bezeichnung, die an ihm haften geblieben ist. Seit der verhängnißvollen Nacht vom 9. auf den 10. Januar 1887, in der ein großer Brand das Schloß heimsuchte, ist auch der letzte Rest seiner alten Herrlichkeit in Trümmer gesunken; es hatte zuletzt als Militärschule gedient. Wie Karl V. sich in die Alhambra zu Granada einen Kaiserpalast hineinbauen ließ, welcher heute mit seinen vier Mauern als eine prächtige Ruine dasteht, so ließ er auch auf dem Platz der alten Königsresidenz in Toledo, auf den Grundmauern aus der Gothenzeit und mit dem Marmorstein der darauf errichteten und wieder zerstörten Maurenburg, ein neues Schloß aufführen, viereckig und von gewaltigem Umfang, mit einem starken Thurm an jeder Ecke, einer Festung gleich. Seine ernste Fassade mit den gemeißelten Arabesken, das Portal, der Hof mit seinen Arkaden, die Marmortreppen, die großartigen Stallungen im Erdgeschoß, sie alle sind nun auch zerstört, Toledo ist um eine stolze Ruine reicher. In Nr. 6 des Jahrgangs 1887 der „Gartenlaube“ finden die Leser eine Beschreibung der dahingegangenen Herrlichkeiten, auch eine Abbildung, welche die beherrschende Lage dieses großartigen Baues veranschaulicht.
Von der Höhe des Alcazar bietet sich ein entzückendes Panorama dar. Zu Füßen die hundert Zickzacklinien der Gassen und Giebel von Toledo mit der kolossalen Kathedrale, mit der imposanten Terrasse von San Juan de los Reyes, mit dem orientalischen Zinnenkranz der Bastionen, mit der Arena für die Stierkämpfe; dann die Puerta del Sol und das Thurmthor der Brücke von Alcantara abwärts nach dem Tajo zu, der wie eine Silberschlange in der Felsenschlucht sich windet. Und drüben auf den Höhen alte Gothenthürme und zerbrochenes Mauerwerk maurischer Burgen. Dann Wiesen und Felder und wellige Linien bis in die Ferne, wo die sinkende Sonne schon alles in Golddunst taucht.
Versunken in Träumerei blickt man dahin wie vom Himmel auf die Erde. Laue Lüfte umfächeln die Wangen. Da flüstert die Sage uns ins Ohr: „Einst kam auch in seinen Jünglingsjahren Karl der Große hierher, groß und stattlich, eine nordische Königsgestalt, goldlockig und mit rothblondem, wallendem Bart. Zum Maurenkönig Galafro kam er und war hier Gast im Alcazar. Er sah des Königs Töchterlein, die liebliche Galiana mit den blauschwarzen Haaren um die leuchtende Stirn, mit den stolzen Bogen über den großen, gluthvollen Sammetaugen, mit dem rosigen Mund – eine herrliche Maid, in der arabische und gothische Schönheit sich harmonisch vereinigt. Heiße Liebe erfaßte den fränkischen Herrscher zu ihr und sie litt es wohl, aber mit Kummer im Herzen. Denn der Maurenkönig von Guadalajara freite um sie, ein gewaltiger Recke und gefürchtet weit und breit mit seinem siegreichen Schwert, sie aber liebte ihn nicht. Nun kam auch der Maure wieder einmal nach dem Alcazar des Königs Galafro während der Anwesenheit des jungen Frankenkönigs und minnete vor dessen Augen um der Prinzessin Gunst. Darob ergrimmte Carolus und forderte furchtlos den Maurenfürsten zum Zweikampf. Er überwand ihn und streckte ihn todt in den Sand, schnitt ihm dann den Kopf ab und brachte ihn Galiana. Das Mädchen freute sich darüber und war nun glücklich. Der Vater aber sah ein, daß er ihrem Glück nichts in den Weg stellen dürfe; er ließ sich den Frankenkönig als Eidam gefallen, die Prinzessin nahm den christlichen Glauben an aus Liebe zu ihrem Gemahl und folgte ihm nach dem Lande der Franken.“
- ↑ Dieser Artikel schließt sich an die im Jahrgange 1884 erschienenen „Bilder aus Spanien“ an.