Berchtesgaden (Meyer’s Universum)

CCLIV. Das Zeughaus in Moskau Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band (1839) von Joseph Meyer
CCLV. Berchtesgaden
CCLVI. Der Mälarsee; Gripsholm
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BERCHTESGADEN

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CCLV. Berchtesgaden.




„Wer vom Himmel wieder auf die Erde kommen sollte, würde sich vom lieben Gott eine Chorherrnstelle in Berchtesgaden ausbitten“ – schrieb Kaiser Max dem Bayern-Herzog. Jene Zeiten sind vorüber. Gar bescheiden liegt jetzt der kleine Marktflecken, einst der berühmte Sitz fürstlich-schwelgender Pröbste, in der breiten Bergtrift. Nichts erinnert mehr an die geistlichen Herrscher, die, selbst im Rathe des Reichs Stimme habend, nur dem Pabste Rechenschaft zu geben brauchten. Alles hat sich verändert: nichts blieb, als die Natur, die in so engem Raume kaum irgend sonst wo auf dem Erdboden so viel Reiz vereinigt und das Schauerliche mit dem Lieblichen zu einem so schönen Ganzen verbunden hat.

Im eilften Jahrhundert waren diese Gegenden eine Einöde und menschenleer. Ewiger Schnee lag auf dem Watzmann und den Nachbarspitzen, furchtbare Gletscher hingen tief in das Thal hinab, und um den einsamen See rauschte feierlich der Urwald. Nur der kühne Waidmann drang zuweilen in dieß Asyl der Wolfe und Bären. Einst hatte Hallgraf Engelberdt, ein reicher, jagdlustiger Ritter von Hallein, hier ein lebensgefährliches Waid-Abenteuer bestanden; fast wunderbar war seine Rettung, und als er es seiner frommen Gemahlin Irmgard erzählte, gelobte diese in ihrem Herzen, dort ein Kirchlein zu bauen zu Ehren Martin’s, des Schutzheiligen ihres Hauses. Bei der Martinskapelle siedelte sie 4 Klausner an und schenkte ihnen Wald und Feld. Aber im vierten grimmigen Winter schneiete das Thal bis zur Unzugänglichkeit ein; vergeblich waren alle Anstrengungen, den frommen Vätern Hülfe zu bringen; 2 gingen elendiglich zu Grunde, und die andern verließen die traurige Einöde. – Irmgard, voller Betrübniß, faßte nun den Vorsatz, ein größeres, schirmenderes Haus zu bauen; jedoch sie starb, ehe sie es ausführen konnte und vermachte ihr Gelübde ihrer Tochter Adelheid. Auch diese konnte es nicht lösen. Auf deren Todtenbette übernahm es an ihrer Statt ihr Gemahl, Graf Engelhart; mit 12 als Zeugen und Bürgen geladenen Rittern leistete er auf der Hostie den Schwur der Erfüllung. Trotz aller Schrecknisse der unwegsamen Wälder, zu denen sich die des Aberglaubens gesellten, kam nun die Gründung eines Augustiner-Klosters zu Stande, und im Jahre 1122 erfolgte die Weihe und die päpstliche Bestätigung. Es stand auf einem Vorhügel des Unterbergs mit Aussicht über Thal und See.

Von diesem Unterberg geht eine schauerliche Sage um aus alter Zeit. Schon seine Form hat etwas unheimliches. Von Osten her betrachtet gleicht nämlich die ungeheure Bergmasse einem ruhenden Löwen, der das zottige Haupt nach Sonnenaufgang wendet; den unermeßlichen Schweif (den sog. Waldgurt) hat er vom Lattengebirge bis Glaneck [54] hervorgeschlagen. – Im Marmorbauche dieses Berglöwen, so geht die Volkssage, haust nun der gebannte Kaiser Friedrich der Rothbart, mit seinem Hoflager und seinen Heeren. In langen Zügen wallen die Schaaren der von ihm verfolgten und drangsalirten Mönche durch Erdklüfte unter Länder, Seen und Ströme hin nach den benachbarten Kirchen, und feiern in St. Bartholomai, in Gretig, im Münster Berchtesgaden’s, oder im hohen Dome Salzburg’s, zu stürmischer Mitternachtsstunde, unter Glockenklang und Orgelton, den Gottesdienst. Bei nahendem Kriege – so glaubt man – schalle tief aus dem Innern des Berges Waffengeklirre und Pferdetrappeln und oft schon sah der am späten Abend heimkehrende Aelpner aus den Spalten des Berges wilde Ritter und Knappen stürmen, auf schnaubenden Rossen, in glühenden Panzern und Flammenschwerter in den Fäusten; – luftiges Schauergesindel, das der erste Hahnruf wieder in den Berg zurückscheucht: denn mit dem ersten Grauen des Morgens schließen seine ehernen Pforten. Erst an jenem furchtbaren Tage, da, nachdem Unglaube und selbstsüchtige Gewalt den höchsten Grad erreichten, sich die Völker wie die Winde aneinander drängen werden, um auf der weiten Ebene von Wals eine allgemeine Völkerschlacht zu wagen, soll dem verbannten Kaiser mit seinen Heeren die Erlösungsstunde schlagen; im entscheidenden Augenblicke wird er dann plötzlich herausstürmen, der guten Sache zum Siege zu verhelfen!

Dieß die Legende vom verrufenen Unterberg. –

Die Pröbste von Berchtesgaden führten einen sanften Scepter, und die geistlichen Herren hatten dabei gute Tage. Nur ritterbürtiger Adel konnte in den beneideten Kreis der Chorherren gelangen. Jedes Jahrhundert sah durch Vermächtniß und Schenkung die Güter des Stifts sich vermehren und seine Einkünfte verdoppeln. Das erste Unglück, welches die Abtei traf, war in Folge einer Fehde zwischen Salzburg und dem Herzog Friedrich von Bayern (1382), dessen wilde Schaaren gräßlich hausten, so daß die Altäre zu Krippen gemacht, die Gebeine der Heiligen aus ihren Särgen gerissen und zerstreut, die Kirchenschätze geraubt wurden, und Mönche und Nonnen sich in die Höhlen der umliegenden Berge flüchten mußten. Indessen zog diese Wetterwolke doch bald vorüber, und zum höchsten Glanz gelangte Berchtesgaden, als es (im J. 1455) von Salzburg’s geistlicher Obermacht befreit und unter unmittelbare Obhut des Papstes gestellt wurde. Weltlicher Schirmherr war Oesterreich, und zum Dank spendeten ihm die Probste jährlich 2 Leithunde und 2 Falken nach Wien.

Mit der Reformation, deren Morgenroth den Stern so vieler geistlicher Stifter erblassen machte, neigte sich auch der von Berchtesgaden. Im Bauernkriege schlugen auch die Aelpner mit drein. Wie Heuschrecken über die blühende Saat, fielen die rohen, zügellosen Gesellen über das Hochstift her, jagten die infulirten Herren von dannen, verbrannten ihre Bibliothek und die Urkunden und plünderten das Hochstift rein aus. 6 Wochen lang wirthschafteten die Bauern in tollem Uebermuthe und zogen nicht eher ab, als bis das letzte Faß im letzten Keller geleert war. Der Probst hatte die werthvollsten Kostbarkeiten in einen Fischteich versenkt. Es wurde verrathen. Der Teich wurde abgelassen und der kostbare Fisch vertheilt. Als endlich die Bauern abzogen, steckten sie die Abtei in Brand. Von diesem doppelten Unglücke erholte sich das Stift nicht wieder. Ein kostbarer Wiederaufbau [55] der verwüsteten Gebäude verwickelte es in Schuldverhältnisse gegen Salzburg und Bayern, und diese führten am Ende (1595) die Administration unter der Leitung eines bayerischen Prinzen herbei, welche bis zum Jahre 1723 bestand. Bayern arbeitete unablässig auf die Säkularisation hin und betrachtete vom Anfange an das reiche Stift als eine Beute, die ihm nicht mehr entgehen konnte. 1803 hob es endlich ein Federzug Napoleon’s auf und gab es mit Salzburg an Ferdinand von Oesterreich als Entschädigung für Toskana. Durch den Frieden von Preßburg kam es an Bayern, in dessen Besitz es blieb. König Max, der Freund der Menschen und der Natur, gewann die Gegend so lieb, daß er fast jeden Sommer einige Wochen hier zubrachte. Auf einer einsamen Insel im Königssee, gegenüber dem steilen, gänzlich unbewohnten Ufer, erbaute er sich ein Jagdschloßchen, und mit Eisenstock und Stachelriemen an den Schuhen sah man den Monarchen oft, von einem einzigen Jáger begleitet, an der hohen Gebirgswand umher klettern, eine Gemse zu jagen, oder im kleinen Nachen mit rüstigem Ruderschlag die Fluthen theilen, während sein Diener neben ihm ausruhete. –

Eine Viertelstunde von Berchtesgaden ist ein berühmtes Salzbergwerk. Der Pfad dahin führt durch einen Wiesengrund, den die Albe durchschäumt. Mittelst eines langen Stollens gelangt man zu einem unermeßlichen Lager von Steinsalz, welches durch Sprengen mit Pulver in großen Massen gewonnen wird. Im Laufe der Jahrhunderte hat man auf diese Weise einen ungeheuern Saal ausgehöhlt, an dessen funkelnden Wänden man auf ausgehauenen Stufen mehr als hundert Fuß hinab steigt. Jeder Flintenschuß wird hier durch den Wiederhall zum Donner einer Batterie, und wenn, wie oft geschieht, eine ganze Reihe von Sprengminen auf einmal angezündet wird, so ist die Explosion dem Erdbeben erzeugenden Bersten der Vulkane zu vergleichen. Weit und breit fühlt man dann den Boden erzittern. – Das Berchtesgadner Steinsalz ist nicht rein genug, um unversotten gebraucht zu werden. In Waffer aufgelöst wird es daher größtentheils, sammt der Halleiner Sohle, durch die berühmten Reichenbach’schen Leitungen in holzreichere Gegenden geschafft und dort zur fertigen Waare bereitet.

Eine Ausstellung eigener und seltener Art sieht der Fremde im Schlößchen Adelsheim (nahe bei Berchtesgaden) und für Manchen hat wohl ein Museum kein größeres Interesse. Es ist nämlich eine vollständige Mustersammlung aller in der Gegend seit Jahrhunderten gefertigten Schnitz- und andern Spielwaaren für Kinder; eine Sammlung, die über 12,000 Numern faßt. Berchtesgaden mit den umliegenden Alpthälern ist die älteste Heimath jener Industrie, welche die gesammte Kinderwelt mit Spielwerk versorgt. Das Haupt-Material liefert die Zirbelnußkiefer, welche in keiner Gegend häufiger wächst. Selbst die kleinsten Schulkinder arbeiten schon an diesen Sächelchen mit und verdienen ihren Aeltern einige Kreuzer. Nur dadurch wird auch die Wohlfeilheit begreiflich, wofür die Produzenten die Waaren den Zwischenhändlern und Kaufleuten liefern, welche sie in alle Weltgegenden verführen. Bis vor ungefähr 125 Jahren gehörte dieser Kunstfleiß der Gegend von Berchtesgaden ausschließlich an. Religionsverfolgung gegen die seit der Reformation in diesen Thälern ansäßigen Protestanten veranlaßte deren Auswanderung. Natürlich suchten sie diejenigen Orte vorzugsweise zur Niederlassung auf, wo sie Absatz [56] für ihre Fabrikate gefunden hatten. Nürnberg hatte von jeher das größte Geschäft damit gemacht; es konnte nicht fehlen, daß sich viele der Auswanderer dahin wendeten. Mehre ließen sich auch am Thüringer Walde nieder. So hat sich die Verfertigung jener Spielwaaren in das Herz von Deutschland verpflanzt, eine Industrie, welche eine kaum glaubliche Ausdehnung erlangt hat, und die allein auf dem Thüringer Walde gegenwärtig über 10,000 Menschen ernährt.

Die schönste Ausstattung des Berchtesgadner Thals ist sein See, der, smaragdgrün, zwischen hohen Bergen hinzieht und ein paar Inselchen einschließt, die mit Gebüsch und Bäumen anmuthig bepflanzt sind. Auf dem einen steht eine Kapelle und die marmorne Bildsäule des heil. Johannes; beide an die Zeiten der geistlichen Herrschaft erinnernd. Die Tiefe des Sees ist ungemein groß; an mehren Stellen über 700 Fuß.

Eine Fahrt auf dem See bei heiterm Himmel ist sehr genußreich. Am rechten Ufer steigt die ungeheure Masse des Watzmann schroff in die Wolken; links treten die Bergrücken in den Hintergrund zurück und saftige, immergrüne Matten breiten sich aus, mit Sennhütten überstreut und weidenden Heerden bedeckt, deren melodisches Geläute uns auf der ganzen Fahrt festlich begleitet. Gewöhnlich hält der Nachen (die Ruderer sind fast immer, wie auf den Schweizer Seen, junge Mädchen!) bei dem Bartholomäus-Inselchen an, wo das Jagdschlößchen des bayerischen Königs besehen wird; und während man im nahe gelegenen Gasthofe ein Mahl aus den köstlichen Fischen des Sees (Salmlinge genannt) bereitet, geleitet ein Kreiser zwischen den Schluchten des Watzmann hinan zu der Eiskapelle, einem Gletscher, dem tiefsten in den ganzen Alpen. Er bildet ein domartiges Eisgewölbe in einer finstern Gebirgsschlucht, in welche niemals ein Sonnenstrahl dringt. Zur Sommerzeit thaut das Eis im Innern in einem beständigen Regen nieder. Die Kälte ist erstarrend und für Personen, die gegen den Wechsel der Temperatur empfindlich sind, gefährlich. Diese Eiskapelle ist die Herzenskammer des alten Watzmann, und aus naher, schon gefaßter Oeffnung rieseln reichliche Quellen des köstlichsten Wassers hervor, welche sich in der Schlucht zu einem schon bedeutenden Wildbach vereinigen.

Um den Watzmann zu besteigen, braucht man einen vollen Tag. Die größte Höhe seines zweizackigen Gipfels ist 9100 Fuß über der Meeresfläche. Man übersieht auf demselben den ganzen östlichen Theil der Alpen bis zum Oertler. Für das Studium der Alpennatur liegt Berchtesgaden sehr günstig, was Alexander von Humboldt erkannte, der sich ein ganzes Jahr hier aufhielt, ehe er seine berühmte Forschungsreise nach den Alpen der Tropenländer Amerika’s unternahm.

Wenn es wahr ist, daß die Alpenlandschaften bei Jedem, der sie einmal gesehen hat, immer ein geheimes, sehnsüchtiges Verlangen zur Rückkehr, zum Wiedersehen zurücklassen, so gilt dieß gewiß von Berchtesgadens stillen Thälern. Man trennt sich von dieser Landschaft nur mit schwerem Herzen, und denkt zurück, wie an ein Eden, für dessen Verlust die Reize gepriesenerer Gegenden auch den Vielgereisten nicht entschädigen können.