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CCLV. Berchtesgaden.




„Wer vom Himmel wieder auf die Erde kommen sollte, würde sich vom lieben Gott eine Chorherrnstelle in Berchtesgaden ausbitten“ – schrieb Kaiser Max dem Bayern-Herzog. Jene Zeiten sind vorüber. Gar bescheiden liegt jetzt der kleine Marktflecken, einst der berühmte Sitz fürstlich-schwelgender Pröbste, in der breiten Bergtrift. Nichts erinnert mehr an die geistlichen Herrscher, die, selbst im Rathe des Reichs Stimme habend, nur dem Pabste Rechenschaft zu geben brauchten. Alles hat sich verändert: nichts blieb, als die Natur, die in so engem Raume kaum irgend sonst wo auf dem Erdboden so viel Reiz vereinigt und das Schauerliche mit dem Lieblichen zu einem so schönen Ganzen verbunden hat.

Im eilften Jahrhundert waren diese Gegenden eine Einöde und menschenleer. Ewiger Schnee lag auf dem Watzmann und den Nachbarspitzen, furchtbare Gletscher hingen tief in das Thal hinab, und um den einsamen See rauschte feierlich der Urwald. Nur der kühne Waidmann drang zuweilen in dieß Asyl der Wolfe und Bären. Einst hatte Hallgraf Engelberdt, ein reicher, jagdlustiger Ritter von Hallein, hier ein lebensgefährliches Waid-Abenteuer bestanden; fast wunderbar war seine Rettung, und als er es seiner frommen Gemahlin Irmgard erzählte, gelobte diese in ihrem Herzen, dort ein Kirchlein zu bauen zu Ehren Martin’s, des Schutzheiligen ihres Hauses. Bei der Martinskapelle siedelte sie 4 Klausner an und schenkte ihnen Wald und Feld. Aber im vierten grimmigen Winter schneiete das Thal bis zur Unzugänglichkeit ein; vergeblich waren alle Anstrengungen, den frommen Vätern Hülfe zu bringen; 2 gingen elendiglich zu Grunde, und die andern verließen die traurige Einöde. – Irmgard, voller Betrübniß, faßte nun den Vorsatz, ein größeres, schirmenderes Haus zu bauen; jedoch sie starb, ehe sie es ausführen konnte und vermachte ihr Gelübde ihrer Tochter Adelheid. Auch diese konnte es nicht lösen. Auf deren Todtenbette übernahm es an ihrer Statt ihr Gemahl, Graf Engelhart; mit 12 als Zeugen und Bürgen geladenen Rittern leistete er auf der Hostie den Schwur der Erfüllung. Trotz aller Schrecknisse der unwegsamen Wälder, zu denen sich die des Aberglaubens gesellten, kam nun die Gründung eines Augustiner-Klosters zu Stande, und im Jahre 1122 erfolgte die Weihe und die päpstliche Bestätigung. Es stand auf einem Vorhügel des Unterbergs mit Aussicht über Thal und See.

Von diesem Unterberg geht eine schauerliche Sage um aus alter Zeit. Schon seine Form hat etwas unheimliches. Von Osten her betrachtet gleicht nämlich die ungeheure Bergmasse einem ruhenden Löwen, der das zottige Haupt nach Sonnenaufgang wendet; den unermeßlichen Schweif (den sog. Waldgurt) hat er vom Lattengebirge bis Glaneck

Empfohlene Zitierweise:
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia 1839, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_6._Band_1839.djvu/99&oldid=- (Version vom 4.10.2024)