Bei der Kräutlerin
[835] Bei der Kräutlerin. (Zu dem Bilde S. 833.) In dem buntbewegten Straßenleben Wiens bilden die „Kräutlerinnen“, die an ihrem „Standl“ Gemüse und Obst verkaufen, ein besonders charakteristisches Element. In aller Herrgottsfrühe, wenn es kaum dämmert, sind sie schon geschäftig. Sie kaufen von den Landleuten, die mit ihren schwerbeladenen Wagen bereits nach Mitternacht am Platze sind, ihre Waren ein, die dann gar kunstvoll auf dem Standl oder in Körben und Butten zu einladender Besichtigung aufgebaut und ausgebreitet werden. Kaum ist der Bau vollendet, so trippelt auch schon die erste
[836] Küchenvestalin herbei, um ihn wieder abtragen zu helfen. Eine echte Kräutlerin ist für die meisten der Mädchen, die an ihren Stand regelmäßig zum Einkauf kommen und mit ihr feilschen und plaudern, eine einflußreiche Beraterin in allen Angelegenheiten. Merkwürdige Träume gelangen noch „wacherlwarm“ vor den Richterstuhl der Kräutlerin. Ist sie selbst noch jung, dann giebt es ein Zischeln und Lachen; dann wird manche lustige Intrigue ausgeheckt und mancher Aufsitzer beraten. Die Kräutlerin muß für den „schröcklichen“ Traum der Tini, in dem die ausgefallenen Zähne eine große Rolle spielen, eine glückliche Deutung finden, sie muß aber auch den Traum der praktischeren Madam’ Korntheuer in spielreife Lottonummern umsetzen; sie muß der Mali einen guten Platz bei einem kinderlosen Ehepaar verschaffen und muß, wenn Pfingsten, das liebliche Fest, kommt, die Kinder ihrer Kundschaften zur Firmung führen. Sie ist aber auch die Ortspolizei und das Auskunftsbureau der Straßenzüge, an deren Kreuzung sie ihr „Standl“ hat. Wenn ein Unglücklicher, von Hunger und Krankheit geplagt, zusammenstürzt, so ist sie die erste Samariterin, die hilfespendend herzueilt. B. Ch.