Textdaten
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Autor: Karl v. Heigel
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Titel: Baronin Müller
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27–35, S. 450–454, 469–474, 485–491, 501–506, 517–522, 533–536, 550–555, 565–568, 581–586
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Baronin Müller.

Roman von Karl v. Heigel.
1.

Das Städtchen Hohenwart liegt auf dem linken Flußufer in der Ebene, aber nahe dem Hochgebirge. Als dort sich zutrug, was wir erzählen wollen, war die Regelung des Strombettes noch nicht vollendet; zu Zeiten ergoß sich das Gewässer über das weidenbestandene Ufergeröll in die angrenzenden Auen und überfluthete die Stege, welche durch das Ueberschwemmungsgebiet zum Fährhaus führten; eine Fähre nämlich vermittelte damals allein den Verkehr mit den jenseits gelegenen Dörfern. Abgesehen von diesen unwirthlichen Gestaden machten Stadt und Gelände einen freundlichen Eindruck, einen malerischen – im üblichen Sinne – allerdings nicht. Das offene Land bot dem Auge einige wenige Forsten, zahlreiche Dörfer, da und dort ein Herrenhaus auf einem Hügel, Wiesen, Aecker, Bruch. Wenn ein abendrother Himmel über der Ebene lag und die Gebirgswand mit glühendem Schein überkleidete, war das Bild wirkungsvoller.

Hohenwart hat eine ehrwürdige Vergangenheit, allein die Ringmauer ist längst gefallen. Dafür umgeben wohlgepflegte Baumanlagen das Städtchen, das durch einen immer friedlichen bräunlichen Bach in zwei Bezirke getheilt wird. Die Häuser sind den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt, nüchtern, säuberlich gehalten, sonnig, beinahe jedes hat einen Vorgarten. Hohe Giebelhäuser mit Erkern, unregelmäßigen Lichtöffnungen und wunderlich geformten Wasserspeiern giebt es nur noch auf dem Marktplatz, über dem der Stadtberg mit der alten Burg Derer von Hohenwart sich erhebt. Der Marktplatz liegt am südlichen Abhang; im Osten führt eine breite Straße sachte bergan, man läßt die Baumgruppen des „Schloßkellers“ und das „Kurhaus“ tief unter sich. Oben angelangt, wird man alsbald gewahr, daß die Burg zum Theil Ruine ist. Durch den gewölbten Thorweg tritt man in einen grobgepflasterten Hof, wo eintönig ein Brunnen plätschert. Die Seitenflügel des gewaltigen Baues mit ihren offenen Bogengängen nach dem Hofe sind gut erhalten, dagegen ist das westliche Quergebäude nur noch hohläugiges Getrümmer. Eine schmale steinerne Treppe, mit bemoosten Schindeln überdacht, führt vom Hof zu den Bogengängen im ersten Stock, zur Kanzlei des Amtsgerichts im nördlichen Flügel, zu den Wohnungen des Richters und des Amtsdieners im südlichen. Die Räumlichkeiten über dem Thorweg, sowie diejenigen im Erdgeschoß und im zweiten Stock sind unbewohnt, die meisten davon auch unbewohnbar.

In dieser hohen Warte hatte der Amtsrichter Vitus Müller viele Jahre lang als Junggeselle gehaust, einsam, freudlos und schnell alternd. Doch nachdem er die Oberstenwitwe Ida Freiin von Gatterburg geheirathet hatte, war’s mit der Verlassenheit und Düsterkeit droben vorbei. Denn die „Frau Baronin“, wie die Frau Amtsrichter Müller mit freigebiger Höflichkeit nach wie vor genannt wurde, brachte außer einer hübschen Einrichtung ihre Tochter Verena mit. Das liebliche Mädchen hatte Sinn für Häuslichkeit – nicht eben von der Mutter –, Geschmack und eine geschickte Hand. Die hohen Zimmer mit ihren Erkern und Alkoven, ungleichen Fenstern und schwarzgewordenen Deckenbalken wurden nach und nach ein Heim, das jeden Gast entzückte und in dem sogar die anspruchsvolle Oberstin sich zeitweilig behaglich fühlte. Um die Gitterstäbe vor den Fenstern rankte sich Grün, und der Bogengang vor der Wohnung des Richters war sommers ein Blumengarten. Zuweilen wandelte Verena dort auf und ab, wenn die Herren vom Gericht zur Arbeit gingen. Dann blieb Assessor Tannhauser, der an „rheumatischem“ Zahnschmerz litt und die Halle sonst zugig fand, so lange vor der Thür, bis drüben die Liebliche ihn erblickte und seinen Gruß erwiderte; und der kühnere Referendar Haspinger mit dem großen Schnurrbart that im ähnlichen Fall seine Anwesenheit und seine Sehnsucht durch Räuspern kund.

Vitus Müller machte noch immer verwunderte Augen, wenn er sich an seine Häuslichkeit in den Junggesellenjahren erinnerte.

„Es war die alte Heimath noch,
Und alles war ein andres doch.“

Auch an sich selbst erfuhr er die Künste Verenas. Sie bürstete ihm den Rock, und wenn es den höchsten Glanz galt, auch das Haar; sie schlang seine Halsbinde in einen gefälligeren Knoten und drängte ihm zu Besuchen mit sanftem Zwang Handschuhe und Cylinderhut auf. Ein Elegant wurde er allerdings nicht mehr, schon die Brille und die Art, wie er sie trug, gaben ihm etwas Altmodisches und Steifes; und obgleich er gut gewachsen, groß und breitschulterig war, ging er, der Vierziger, doch gebückt wie ein Alter. Frau Ida, die nur um wenige Jahre jünger war als ihr Mann, hielt sich noch stramm wie ein Lieutenant. Sie war eine schöne Frau, dunkelhaarig, dunkeläugig, die Gesichtsfarbe nicht gerade lebhaft, aber ohne krankhafte Blässe.

Hohenwart hat als Sommerfrische für Sparsame einen guten Ruf. Wer seiner Sparsamkeit ein ärztliches Mäntelchen umhängen will, geht wegen der „Moorbäder“ hin. Frau Oberst von Gatterburg hatte die Moorbäder gebraucht und war dem Amtsrichter im Kurgarten aufgefallen, wo er bei schönem Wetter seinen Nachmittagskaffee zu trinken pflegte. Die trauernde Witwe that es ihm an, so – wenigstens ungefähr so hatte er sich das Weib gedacht, das er zur Frau wünschte.

Ida war in Wahrheit eine trauernde Witwe. Aus guter Familie, doch mittellos, hatte sie sehr jung einen österreichischen Offizier geheirathet. Die Stellung der üblichen „Kaution“ war ihnen erlassen worden. Ihr Mann rückte vor, wurde Oberst, wurde geadelt. Aber sein plötzlicher Tod versetzte Mutter und Kind in eine schwierige Lage. Vermögen war nicht da, dagegen eine unglaubliche Fülle unbezahlter Rechnungen. Eine Zeitlang lebte die Witwe auf dem alten großen Fuße weiter. Dann kam für das verwöhnte Glückskind die Wende. Sie sah sich bedrängt, hilflos, vor einer düsteren Zukunft. Gegen solche Leiden halfen auch die Moorbäder nicht.

Die Bekanntschaft der Frau in Schwarz hatte der Richter rasch gemacht, beinahe ebenso schnell gewann er ihr Vertrauen. Er war ernst, doch ohne Strenge, ein guter Mann. Sie bat ihn um Rath, und Vitus Müller übernahm es, ihre verworrenen Angelegenheiten zu ordnen. Zum ersten Mal wurde er feurig, in einem endlosen Schriftwechsel beredt, findig, sogar listig. Ida hätte keinen geschickteren Anwalt bekommen können – jedenfalls keinen so billigen. Sie blieb bis Mitte Dezember in Hohenwart. Als sie dann den Tag der Abreise „unwiderruflich“ festsetzte, gewann Vitus den Muth, um ihre Hand anzuhalten.

Die Frage traf sie nicht unvorbereitet, sie hatte diese Wendung vorausgesehen und langher bedacht.

Amtsrichter Müller! Gegen den Namen hatte sie nichts einzuwenden, sie kannte die Schwächen der Kleinstädter hinlänglich, um beruhigt zu sein, daß sie „die Frau Baronin“ bleiben werde. Gegen den Mann ließ sich nur bezüglich des äußeren Menschen etwas sagen. Man wird diesen äußeren Menschen erziehen. Ida war dem Richter Hochachtung wie Dankbarkeit schuldig; sie fühlte für ihn so warm, als sie überhaupt empfinden konnte. Die Aussicht, jahrelang, vielleicht für immer in Hohenwart zu leben, hatte nichts Schreckliches für sie. Eine Oberstin ohne Regiment ist in einer großen Stadt eine Flagge auf Halbmast. In Hohenwart dagegen war Frau von Gatterburg die vornehmste, die eleganteste, die erste Dame. Allerdings bleibt eine schöne Frau auch in einer Großstadt schön, und wenn sie ihren Witwensitz nach Wien oder München verlegte, würde vielleicht – doch da fiel ihr Blick auf das Kind, das sich erstaunlich rasch zum Fräulein entwickelte. In der Nähe dieses Frühlings überkam sie ein herbstliches Frösteln. Nein, sie wollte nicht mehr in die Ferne schweifen! … Das alles war von ihr überlegt und geprüft worden, dennoch verlangte sie vom Freier vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit.

Der Amtsrichter war ein stiller Mann. Im Kasino blieb er nur so lange, bis er die Zeitungen gelesen hatte; wenn er am Stammtisch im „Schloßbräu“ erschien, spielte er mit dem Notar Schach; zu allen Gesprächen, die sich nicht um Rechtsfragen drehten, schwieg er. Trotzdem wußte ganz Hohenwart, wie es ihm ums Herz war; sie nimmt ihn nicht, sagte jedermann.

Aber sie nahm ihn.

Nun prophezeite man eine unglückliche Ehe, allein auch diese Weissagung wollte sich nicht erfüllen. Vielleicht würde die Häuslichkeit ohne Verena weniger angenehm geworden sein. So schwärmte er nach fünfjähriger Ehe für seine Frau nicht weniger als vor der Heirath, nach seiner Weise: seine Liebe war ein Lied [451] ohne Worte. Er fand es selbstverständlich, daß seine Frau die erste Rolle spielte, daheim und überall. Sie stellte ihn völlig in den Schatten, doch er fühlte sich in diesem Schatten geborgen.

Ida gewann ihrem bescheidenen Lose bald die heitere Seite ab. Als Oberstin hatte sie mit ihrem Aufwande groß gethan, jetzt flunkerte sie mit ihrer Sparsamkeit. Das eine machte ihr genau soviel Vergnügen wie das andere. Auch sie entging dem Schicksal aller Zuzügler in einer Kleinstadt nicht: sie wurde von denjenigen angefeindet, von welchen sie es am wenigsten erwartet hätte. In Hohenwart lebte ein Major a. D. namens Langbein; wegen eines Fußleidens trug er Filzschuhe, schon das machte ihn harmlos. Seine Frau dagegen galt als die böseste Zunge im Städtchen, man nannte sie den Drachen von Hohenwart. „Der Kampf mit dem Drachen“ gehörte bald zu den Lebensaufgaben der Baronin. Wenn ein Unerfahrener die beiden Damen in der allerhöflichsten, ja in zärtlicher Weise mit einander verkehren sah, hielt er sie sicherlich für Freundinnen; in Wahrheit war jede Begegnung der beiden eine Schlacht. In der Regel blieb der Sieg bei der schneidigen Baronin.

Alles in allem war Ida mit ihrer neuen Heimath zufrieden. Nur die Abwesenheit der bewaffneten Macht trübte ihr Glück. Das Gesuch um eine Besatzung, das der Gemeinderath von Zeit zu Zeit an das Kriegsministerium richtete, wurde von ihren heißen Gebeten begleitet. Leider hatte entweder die Baronin keinen Einfluß im Himmel oder der Himmel keinen Einfluß auf den Kriegsminister, das Militär kam nicht. Und damit ward Frau Ida besonders im Blick auf ihre Tochter um eine Hoffnung ärmer. Denn das stand fest bei ihr, daß nur ein angehender General würdig sei, einen Schatz wie ihre Verena heimzuführen. Das Kind war herangewachsen und besaß alle Reize eines jungen Mädchens, ja einen Zauber mehr: bei aschblondem Haar hatte sie dunkle Brauen und Wimpern. Auch ihre Augen schienen schwarz zu sein; wer den Blick tiefer darein versenkte, entdeckte, daß sie blau waren, blau wie der Gardasee an seinen schönsten Tagen. Männer machten diese Erfahrung nicht ohne Gefahr. Manchen erinnerte die ganze Erscheinung an Bilder der venetianischen Schule; jugendliche Enthusiasten fanden sie einfach unvergleichlich, da sie zu ihrer Schönheit hin herzensgut, heiter und natürlich war.

Endlich, im fünften Jahre der richterlichen Ehe, zeigte sich das ersehnte Segel: nach Hohenwart kam zwar keine Besatzung, aber ein Lieutenant. Unerwartet trafen eines Tages Seine Excellenz der Präsident a. D. von Imhof und sein Sohn Helmut, Premierlieutenant im Regiment „Erbprinz“, im Kurhaus ein. Der Präsident war ein Studienfreund des Amtsrichters, den er tief unter sich gelassen hatte. Dafür sah er allerdings noch um zwanzig Jahre älter aus als Vitus Müller. Er machte mit seinem Sohne einen Anstandsbesuch im Schloß, war eisig gegen den Freund, um so aufmerksamer gegen Mutter und Tochter. Namentlich die Baronin machte Eindruck auf ihn, und da es seinem Sohne mit der Baronesse ähnlich erging, so entspann sich ein reger Verkehr von Haus zu Haus. Ida zeigte nicht die geringste Ehrfurcht vor dem Präsideuten; eben deshalb fand er sie „außerordentlich“. „Wie kommt der einfältige Müller zu dieser Frau?“ fragte er sich.

Müller war von seinen Vorgesetzten nie verwöhnt worden. Wenn sie ihm Aufmerksamkeit schenkten, war es nicht in freundlichem Sinne. Auch vom Präsidenten hatte er besondere Liebenswürdigkeit nicht erwartet und trug daher an dessen kühler Herablassung nicht schwer. Er gab dem Freunde seinen Titel und Auskunft, wenn er gefragt wurde, aufdrängen mochte er sich nicht. Dagegen schloß er den Sohn ins Herz. Dieser Helmuth war ein hübscher brauner Junge, weder Dichter noch Denker, nicht einmal musikalisch, aber frisch und muthig, Soldat mit Leib und Seele. Und da vorläufig Soldaten noch nöthig sind, so konnte man dem Fünfundzwanzigjährigen eine glänzende Zukunft voraussagen. Für Verena verknüpfte sich mit dem ritterlichen Eindruck, den Helmuth auf sie machte, die Erinnerung an ihren verstorbenen Vater, und dieser Umstand erleichterte den Sieg, den der junge Krieger rasch über ihr jungfräuliches Herz davontrug.

Frau Ida las im Gemüth der Tochter besser, errieth die Gefühle auch des Lieutenants früher als das Mädchen selbst. Obgleich sie über ihre Entdeckung mehr als glücklich war, verhielt sie sich doch mäuschenstill und wartete, bis die Gluth in Flammen ausbrechen werde.

Eines Abends hatte man in großer Gesellschaft einen Ausflug nach dem nächsten Wäldchen gemacht; die jungen Herren – der Referendar mit dem blonden Schnurrbart war auch dabei – überboten einander an Liebenswürdigkeit und gesellschaftlichen Talenten, die Mädchen waren munter wie Sperlinge und sangen dennoch im nächsten Augenblick die allerschwermüthigsten Lieder. Die Luft war weich und würzig, als man zum Heimweg aufbrach; und als der Mond unter Gewölk verschwand, blitzten Tausende von Johanniskäfern in den feuchten Wiesen auf. Verena trug einige Blumen an der Brust, in die Kelche hatte sie Leuchtwürmchen als Diamanten gesetzt. Helmuth ging neben ihr; anfangs waren sie überaus gesprächig, dann verstummten beide. Und doch war Verena der Weg nie so kurz geworden; zu ihrer Ueberraschung fand sie sich plötzlich daheim und mit den Eltern allein, der Stiefvater sagte gähnend gute Nacht. Dann kam der große Augenblick für die Baronin. Nach wenigen Fragen hing Verena an ihrem Hals und schluchzte.

„Bist Du ihm denn gut, ernsthaft gut?“

Verena nickte.

„Und er Dir auch?“

Verena nickte aufs neue und drückte sich fester an die Mutter.

„Hat er Dir’s gesagt?“

„O Mama, wie kannst Du glauben – aber ich weiß es – O, er würde für mich sterben und ich für ihn!“

„Und was würde dann aus mir?“ meinte lächelnd die Baronin. „Aber tröste Dich, Kind, und habe Vertrauen zu mir, es wird alles gut werden!“

Auch der Präsident merkte aus vielen Anzeichen, daß der Liebesfrühling für seinen Sohn angebrochen sei; er nahm Helmuth ins Gebet, und dieser erklärte mit gewohntem Freimuth und jugendlichem Feuer: „Verena oder keine!“

Alle Welt nannte den Präsidenten gemüthlos. Seinem Sohne gegenüber war er das sicherlich nicht, das einzige Kind war seine einzige Schwäche. Nach einigem Besinnen ließ er sich bereit finden, den Wünschen des Sohnes nachzukommen. Warum auch sollte er Verena nicht zur Schwiegertochter wünschen? Sie besaß alle Eigenschaften, um einen Mann glücklich zu machen, und war außerdem Baronesse. So fuhr er denn eines Mittags in Helmuths Begleitung zur Burg und brachte die Werbung in aller Form und Feierlichkeit an.

Der Amtsrichter, der jetzt erst von der Sache erfuhr, war erstaunt, doch wie zu erwarten stand, beurtheilte er das Verhältniß im Sinne seiner Frau. Nur meinte er, hätte Verena auch ihn ins Vertrauen ziehen sollen.

„Das war ihr verboten,“ versetzte Ida kampfbereit. „Wenn ein Mann mit Amtssorgen überhäuft ist wie Du, muß die Familiensorgen seine Frau auf sich nehmen.“

Und Vitus küßte ihr dankbar die Hand.

Die Einwilligung ward also gern gegeben, und es fehlte nichts zum Glück und zum Bündniß der Liebenden als die „Kaution“. Denn in einem Punkt waren der Präsident und der Amtsrichter Schicksalsbrüder: sie hatten beide keine Reichthümer gesammelt. Allein die Baronin vertraute auf die Sterne, die junger Liebe hold sind, und auf den Onkel!

In Hohenwart wohnte ein alter Hagestolz, namens Furtenbacher, ein Bruder der Mutter ihres Mannes. Er hatte in Wien als Hutmacher ein kleines Vermögen erworben, als Häusermakler es weise vergrößert und sich dann in seiner Geburtsstadt Hohenwart zur Ruhe gesetzt. Da galt er für so reich, daß man nur unter vier Augen erfahren konnte, er sei „eigentlich“ ein unleidlicher, selbstsüchtiger Brummbär, welcher kaum für etwas anderes als für seinen Magen lebe. Mit Hilfe dieses Hutmachers sollte das Hinderniß gehoben werden, das sich der Vereinigung der jungen Leute in den Weg stellte. Gegenwärtig war er in Karlsbad, während der Kur hatte er sich alle Briefe verbeten. Doch eine sichere Bürgschaft seiner baldigen Rückkehr tröstete Frau Ida: die ausgezeichnete Köchin des Onkels war in Hohenwart zurückgeblieben.




2.

„Ist mein Mann allein?“ fragte die Baronin den Amtsdiener Strobel, der schläfrig im Vorzimmer des Amtsgerichts saß und Akten heftete, Strobel sprang auf und nahm eine militärische [452] Haltung an; er hatte gewaltigen Respekt vor der ehemaligen Oberstin, „denn auch wir haben gedient,“ pflegte er zu sagen.

„Zu Befehl, Frau Baronin! Wir sind heute allein. Der Herr Referendar trat gestern seinen Urlaub an, und der Herr Assessor ist wieder leidend.“

Ida trat ins Zimmer ihres Mannes, er stand an einem Tisch inmitten des Gemaches und zählte Werthpapiere in eine eiserne Handkasse.

„Grüß’ Gott, liebe Ida,“ sagte er freundlich, „ich stehe gleich zu Diensten … Zweitausendachthundert, neuenhundert – dreitausend – stimmt!“ Er legte die Scheine in die Kasse und schloß sie ab.

„Hast Du heimliches Geld?“ fragte Ida scherzend.

„Du lieber Gott, ich! … Mündelgelder und so weiter! Und jetzt nimm Platz und erzähle! Du kommst doch vom Bahnhof? Ist Helmuth wieder zurück?“

„Ja, aber weißt Du, wie lange sein neuer Urlaub dauert?“

„Drei Wochen?“

„Acht Tage! sage: acht Tage! Muß ein sehr unliebenswürdiger Kommandeur sein, dieser Herr Oberst. Vrenerl wurde blaß wie die Wand und jetzt weint sie in ihrer Stube.“

Der Amtsrichter fuhr mit der etwas zittrigen Rechten über den Scheitel. „Arme Maus!“ murmelte er. „Doch am Ende liegt seine Garnison nicht aus der Welt.“

„Beinahe. Ein Brief nach Rom braucht nicht so lange wie einer nach Germelsheim. Und die Hochzeit? Excellenz und ich haben Helmuths stürmischen Bitten nachgegeben und sie auf des Erbprinzen Geburtstag im August festgesetzt.“

„So kommt Helmuth im August her oder wir reisen hin. Uebrigens würde es nicht besser sein, die Hochzeit auf unbestimmte Zeit zu verschieben, bis – Du weißt – bis das Geschäftliche geordnet ist?“

„Verschieben?“ rief Ida. „Eine Hochzeit aufschieben und eine Verlobung aufheben, ist fast gleichbedeutend. Das bringt Unglück. Excellenz und ich haben uns ins Geschäftliche getheilt. Er übernahm die Eingabe und ich verbürgte mich mit meinem Wort, daß die Haftsumme zu jeder Stunde bereit liegt.“

„Hm, Du scheinst mir –“

„Ach, geh’ mir mit Deinen Bedenken; rathe, wer noch angekommen ist!“

„Etwa schon der Erbprinz?“

„Nein, Onkel Anton.“

„Das freut mich.“

„Mich auch. In demselben Zug mit Helmuth. Wenn das nicht ein Fingerzeig Gottes ist –“

„Der Ausdruck ist stark. Ihr habt den Onkel doch begrüßt?“

„Freilich haben wir, ich und Verena. Doch da hat er aus Karlsbad einen abscheulichen Köter mitgebracht. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Thier gerichtet. Wir konnten nicht zehn Worte mit ihm reden und an eine Vorstellung Helmuths war nicht zu denken.“

Frau Ida legte die Hand auf die Schulter ihres Mannes und lehnte sich schmeichelnd an ihn: „Nicht wahr, lieber Vitus, Du sprichst morgen mit dem Onkel?“

Der Amtsrichter seufzte aus tiefster Brust.

„Schon morgen? Höre, liebe Ida, der Schritt will überlegt sein. Vor allem, nimm Platz!“

Während er seinen eigenen Stuhl für sie herbeiholte, sah sie ihn prüfend an.

„Du hast Ausflüchte!“

„Keine Ausflüchte, aber Einwände,“ vertheidigte er sich, als sie beide einander gegenübersaßen. „Onkel Anton will vorsichtig behandelt sein, er ist ein Sonderling und vor allem kein Freund des Militärs.“

„So streichst Du statt des Sohnes den Vater heraus! Die Excellenz ist dem Onkel jedenfalls dem Namen nach bekannt. Zwar ist der Präsident einstweilen in den Ruhestand versetzt, doch wenn Euer – Verzeihung! – unser Fürst heute stirbt, ist Herr von Imhof als der Liebling des Erbprinzen morgen Minister. Glaube mir, das verfängt bei dem alten Junggesellen! Zu unserem Bedauern, sagst Du ihm dann, haben wir – ob Du oder ich, würde ich zweifelhaft lassen – haben wir nicht die ganze Summe bereit; doch da wir so glücklich sind, einen liebenswürdigen, ungeheuer reichen Onkel zu besitzen, hoffen wir – und so weiter! – Unsere Bitte kann Herrn Furtenbacher nur schmeichelhaft sein. Zudem bist Du sein einziger Verwandter, sein Erbe.“

„Wenn er letztwillig nicht anders verfügt.“

„Er denkt nicht dran,“ rief Ida sorglos. „Onkel Anton gehört zu meinen Eroberungen. Auch wollen wir das Geld nicht zum Geschenk. Mein Witwengehalt deckt die Zinsen weitaus und wenn wir uns einschränken –“

„Das kannst Du nicht,“ entgegnete Vitus aufrichtig. „Das sollst Du nicht,“ setzte er zärtlich hinzu. „Ich werde mit dem Onkel reden.“

In diesem Augenblick vernahmen sie einen Wortwechsel im Vorzimmer. Jemand wollte gemeldet werden und der Amtsdiener verweigerte es. „Aber die Frau Baronin,“ klagte der Fremde, und die anfangs weinerliche Stimme wurde laut und aufdringlich, „die Frau Baronin, so liebenswürdig, so gütig –“

Der Richter drückte auf die Tischglocke. „Die Stimme ist mir bekannt,“ sagte er. „Ist seine letzte Strafe schon abgesessen? Wie die Zeit vergeht!“

„Wen meinst Du?“ fragte Ida; doch da trat der Amtsdiener schon ins Zimmer. Nicht allein, er hielt einen blassen, schlechtgekleideten Burschen am Arm.

„Schön, daß Sie ihn gleich mitbringen!“ rief Müller. „Sieh! sieh! der Schreiber Franz! Wieder ’mal losgelassen?“

Der Bursche machte dem Amtsrichter eine Verbeugung, eine zweite, tiefere vor dessen Frau.

„Ja, Herr Richter, ich wurde heute hierher abgeschoben,“ antwortete er und begann, den befreiten Arm zu reiben. „Da wollte ich den Tag nicht vorübergehen lassen, ohne mich bei Ihnen gehorsamst zu melden und unterthänigst um Arbeit zu bitten. Es ist nämlich mein unabänderlicher Entschluß, mich zu bessern. Aber von guten Vorsätzen kann man nicht leben.“

Er stockte, drehte seinen Hut hin und her und schielte nach der Amtsrichterin. „Ich würde in der Amtsstube vorm Versucher sicherer sein als auf der Landstraße. Wenn Sie es noch einmal mit mir probieren würden –“

„Nach Jahr und Tag vielleicht,“ erwiderte Müller, „wenn Du Deine Besserung bewiesen hast.“

Der Amtsdiener, dessen Geduld mit dem „nichtsnutzigen Subjekt“ zu Ende war, blickte den Richter fragend an. „Noch eins,“ sagte dieser. „Erneuere Deine alte Bekanntschaft mit dem ‚Pfannen-Gide‘ nicht! Sie hat Dir kein Glück gebracht.“

„Herr Amtsrichter –“ versetzte der Strolch und hob die Schwurfinger empor, dann ließ er sich vom Amtsdiener gutwillig abführen.

„Willst Du es nicht noch einmal mit ihm versuchen?“ fragte Ida, als sie mit ihrem Mann allein war.

„Unmöglich. Ich könnte Dir ein Dutzend Paragraphen nennen, gegen die er sich vergangen hat. Seine Eltern waren brav, er genoß eine gute Schule, hatte als Hilfsschreiber sein reichliches Brot; kurz, er beging die strafbaren Handlungen ohne jeden Zwang, nichts also entschuldigt ihn.“

„Und mit solchen Leuten hast Du täglich zu thun! Ich bitte Dich, mach’ ein Fenster auf! Der Mensch brachte Gefängnißluft mit sich.“

Vitus Müller öffnete eins der vergitterten Fenster, welche auf den Stadtplatz gingen. „Sieh! sieh!“ bemerkte er schmunzelnd, „auf dem Rathhause hat man die Flagge gehißt. Das nenne ich Ergebenheit! Der Erbprinz fährt nur durch und zwar bei Nacht –“

„Aber der Zug hat hier Aufenthalt.“

„Fünf Minuten; auch hat sich der Prinz allen Empfang verbeten.“

„Wir gehen doch hin?“

„Wenn Du meinst – obwohl –“

„Was ‚obwohl‘? Freilich müssen wir hin. Und Männchen zieht sein Amtskleid an!“

Der Richter sah seine Frau erschrocken an.

„Das versteht sich eigentlich von selbst,“ fuhr diese fort, „denk’ nur, der Erbprinz!“

„Ich bin unserm Fürstenhaus sicherlich ergeben, doch eben die wahre Treue drängt sich nicht auf.“

„Glaube mir, die Excellenz erscheint mit allen Orden!“

„Aber ich bin keine Excellenz und habe keine Orden!“

„Weil Du zu bescheiden bist. Man wird immer für das genommen, für was man sich ausgiebt.“

[454] „Dann würde der Schreiber Franz als Ehrenmann behandelt werden, und dennoch hält ihn jeder für einen Spitzbuben.“

„Das ist ein häßlicher Vergleich.“

„Ich wollte nur erklären, daß die öffentliche Meinung verhältnißmäßig selten irre geht. Man sieht mich in Hohenwart – und hier ist meine Welt – für einen rechtschaffenen Mann und gewissenhaften Beamten an. Das genügt mir.“

„Das ist lange nicht genug für den rechtlichsten, liebenswürdigsten, fleißigsten aller Männer!“ rief Ida gerührt.

„Nicht das, sage: den glücklichsten!“

„Wirklich? … Aber jetzt schließen wir –“ schließen wir „die Bude“, lag ihr auf der Zunge, doch sie wußte, daß ihr Mann die burschikosen Ausdrücke nicht liebte. „Alles versammelt sich im Schloßkeller. Helmuth mit Kameraden in Civil, die heute noch über die Grenze hinüber ins Gebirge wollen, ist schon dort, und wie ich Onkel Anton kenne, wird sein erster Gang der nach dem Keller sein. Die Bekanntschaft der beiden macht sich dann von selbst.“

„Wenn Helmuth dem Onkel nur gefällt –“

„Der liebe Junge muß ihm gefallen!“

Vitus seufzte über die Zuversichtlichkeit Idas und sah scheu über die Brille weg in ihre dunklen Augen. Mit diesem überlegenen Blick und dieser stolzen Haltung erinnerte sie ihn mehr denn je an die „Frau Oberst“ und er fühlte sich gedrückt. Doch bei der Stimme, die jetzt im Vorzimmer laut wurde, erhellte sich sein Gesicht. Verena! Er hielt der eintretenden Stieftochter beide Hände hin und blickte ihr verschmitzt in die Augen.

„Ist er da?“

„Ja, Papa, aber nur noch auf kurze Zeit, dann –“

„Dann geht mein Töchterchen mit ihm!“

„O Papa!“

[469]
3.

Vor dem tannengeschmückten Eingang des Kellergartens staute sich die Menge. Die Musik lockte jung und alt unter die Kastanien, die Nachricht von der Durchreise des Prinzen erhöhte die Stimmung. Obgleich man dem Richter und seinen Damen höflich Platz machte, kamen sie doch nur langsam vorwärts. Ein kleiner rundlicher Herr, der, einen Hund unterm linken Arm, mit dem rechten Ellbogen sich kräftig gegen den Strom durchgearbeitet hatte, blieb aufathmend dicht vor ihnen stehen.

[470] „Onkel Anton!“ rief der Amtsrichter.

Der Dicke sah auf. „Servus, Neffe, grüß’ Dich!“ schnaufte er, „Baronin, Baronesse, habe die Ehre!“ Dabei hob er den Hut hoch über den Kopf, der mit dem kurzgeschorenen struppigen Haar einer schwarzen Pelzmütze ähnelte. Dann schüttelte er seinem Neffen die Hand. Dieser wußte nicht, was er inmitten der kichernden Menge, die sich über den Alten mit seinem Prachtexemplar von Hund lustig machte, zur Erwiderung des Grußes sagen sollte. Er blickte verlegen auf das Zwitterding von Bulldogge und Rattenfänger nieder:

„Wie heißt er? Azor? Ein – ein – hübscher Hund!“

„Das will ich meinen!“ bestätigte der geschmeichelte Onkel. „Aber gehen wir in den Kurgarten, diese Kleinstädter haben eine Lebensart –“

„So kommen Sie, Herr Furtenbacher,“ willigte Ida ein und zwang sich zu einem Lächeln. „Warum denn übrigens in den Kurgarten?“

„Erlauben Sie mir, Ihnen das zu erzählen, sobald wir unter uns sind,“ entgegnete Furtenbacher, „es wird die erste angenehme Viertelstunde seit meiner Ankunft sein.“

Mit diesen Worten setzte er den Hund zur Erde und bot der Frau Baronin den Arm. Einzig sie vermochte es, ihn zu einem solchen Aufgebot von Artigkeit zu veranlassen.

Im Kurgarten saß, in die Zeitung vertieft, ein einziger Gast, ein alter Herr, in Schwarz bis auf den großen Panamahut – Präsident Imhof. Nach der ersten Begrüßung stellte Ida dem Präsidenten den Onkel vor und diesem dann den Präsidenten als den Vater von Verenas Bräutigam. Diese Neuigkeit brachte denn doch auch Furtenbacher aus dem Gleichgewicht. „Und das erfahr’ ich erst jetzt?“

„Wir durften Ihnen ja beileibe nicht schreiben.“

„Aber heut auf dem Bahnhof?“

„Die schönste Nachricht verliert, wenn wir sie bei übler Laune erhalten, und mir schien, daß Sie bei Ihrer Ankunft nicht zum besten gestimmt waren.“

„O!“ fiel Furtenbacher mit Wärme ein, „eine gute Nachricht heilt die schlimmste Laune – davon bin ich das Beispiel! Meinen herzlichsten Glückwunsch!“

Vitus Müller athmete auf; nun war er überzeugt, daß sein Onkel auch den Lieutenant mit offenen Armen empfangen werde. Er wechselte mit Verena, welche das Zusammentreffen mit dem Verlobten drüben im Schloßkeller nur ungern aufgeschoben hatte, heimlich Blick und Zeichen und stahl sich dann hinweg.

Die Excellenz machte übrigens auf den Onkel weniger Eindruck, als Ida erwartet hatte. Ob Furtenbacher auch schon als Hutmacher so knorrig gewesen war, sei dahingestellt; jetzt hatte er Geld, sehr viel Geld, und zwar dank eigener Findigkeit und Ausdauer. Dies Bewußtsein steifte ihm den Nacken.

„Excellenz,“ sagte er, indem er erst den Hund auf einen Stuhl setzte, dann selbst Platz nahm, „ich freue mich, daß auch Excellenz kein Freund sogenannter Gartenfeste sind. Vollends in einem solchen Krähwinkel wie hier ist das unausstehlich. Ich kann an keinem Tisch Platz nehmen, ohne mich mit einem andern zu verfeinden. Setze ich mich zu Beamten, heißen mich die Bürgerlichen hochmüthig; halt’ ich mich zu den Bürgerlichen, grüßt mich morgen die Frau Bahnhofsinspektor nur noch mit der Nasenspitze. Ich habe die Kleinstädterei satt, ich gehe auf und davon, und wenn Excellenz mein Grundstück kaufen wollen, ich laß’ es Ihnen um ein Butterbrot.“

Frau Ida wurde ungeduldig.

„Ich weiß noch immer nicht, woher die Erregung –“ begann sie, doch der Onkel fiel ihr in die Rede.

„Das will ich Ihnen erklären. Der Azorl und ich gingen in schönstem Frieden nach dem Schloßkeller. Kaum aber waren wir dort, als die rohe Menge uns hin und herpuffte. Ich nahm den Azorl auf den Arm und sah mich nach einem gesicherten Plätzchen um. Zuletzt ließ ich mich bei einigen jungen Fremden nieder, die man auf zehn Meilen als Offiziere erkannte, obwohl nur einer seine Lieutenant-Uniform trug.“

Die Excellenz runzelte die Stirn, Mutter und Tochter wurden unruhig. Allein der entrüstete Onkel ließ sich nicht stören.

„Ich setzte mich also zu den Herren. Excellenz und die Damen werden verzeihen – das war mein erster Fehler. Kaum seßhaft, bemerkte ich, daß mein Azorl die Aufmerksamkeit des bewaffneten Jünglings erweckte. ‚Vollblut?‘ fragte er. ‚Zu dienen,‘ sag’ ich. ‚Kamerun?‘ er; ‚Apenninen,‘ ich. Denn diese Art kommt in der That nur in den Apenninen vor. Ein Wort gab das andere. Der Lieutenant blieb gelassen, ich wurde heiß – zweiter Fehler. Man sollte denken, daß die umstehenden Hohenwarter die Partei ihres Mitbürgers ergriffen hätten. Bewahre! Der platteste Witz des Lieutenants wurde mit wieherndem Gelächter belohnt, und als der Hoffnungsvolle zuletzt meinen Azorl beim Schweif nahm und so herumzeigte, war die Hölle los! Und da soll man nicht wild werden?“

Unterdessen war Vitus Müller zurückgekehrt, von Helmuth begleitet. Onkel Anton saß mit dem Rücken gegen den Eingang und war ganz bei seiner Erzählung. Den Frauen schwante ein unangenehmer Zusammenstoß.

„Lieber Onkel,“ sagte der Amtsrichter, „erlaube, Dir Verenas Verlobten vorzustellen –“

Der Onkel sprang auf, drehte sich und warf vor Ueberraschung den Stuhl um. Der Lieutenant aber bot ihm, ohne die geringste Verlegenheit oder Reue zu zeigen, lachend die Hand.

„I!“ rief er, „wir kennen uns bereits, und da ist ja auch Azor, der Wunderhund!“

Furtenbacher sah den lächelnd vor ihm Stehenden mit grimmiger Miene an, und wer weiß, welche Wendung das Gespräch genommen hätte, wenn nicht zum Glück in diesem Augenblick die Stadtkapelle drüben das Zeichen zum Aufbruch nach dem Bahnhof gegeben hätte. Die staatskluge Frau Ida drängte zum Anschluß. Auf der Straße war alles in Bewegung, der Zug ordnete sich, voran in Reih und Glied schritten die Turner und Mitglieder der Liedertafel, hinterher fluthete die Menge. Ganz Hohenwart war auf dem Wege. In den Gasthöfen, Bierhäusern und Kaffeeschenken lag das Gesinde in den offenen Fenstern, denn sie hatten keine Gäste.

Diejenigen Familien, welche sich vornehmer dünkten als der große Haufe, bildeten die Nachhut; die Richtersfamilie und ihr Anhang waren die allerletzten. Voran ging das Brautpaar, dann folgte Ida am Arm des Präsidenten, der seine Orden nicht angelegt, sondern nur den Panamahut mit einem Cylinder vertauscht hatte. Onkel und Neffe waren das letzte Paar, wenn nicht Azor, den sein Herr an einer Schnur mehr zog, denn führte, als Dritter gerechnet werden soll.

„Du zürnst doch dem jungen Mann nicht mehr?“ begann der Amtsrichter vorsichtig und bemächtigte sich des Arms seines Onkels.

„Hätte ich nicht Ursache? Wer meinen Azorl beleidigt, beleidigt mich.“

„Geh! als wir jung waren, Onkel, waren auch wir übermüthig.“

„Ich war weder Student, noch Lieutenant,“ versetzte herb der andere. „Aber reden wir nicht mehr davon! Ich schaffe die Standesvorrechte nicht aus der Welt, und Du auch nicht. Schau diese Kleinstädter! Musik, Fahnen, Stadtrath, Turnerei, Singerei! Warum? Weil Seine Hoheit an ihnen vorbeifährt!“

„Ich halte mich an das Gegebene. Der Prinz ist unser zukünftiger Fürst – weißt Du, daß der Präsident sich seiner besonderen Gnade erfreut?“

„Alle Streber richten sich auf morgen ein. Dir kann es ja lieb sein; wenn Verena den Sohn des Präsidenten heirathet, erinnert man sich vielleicht Deiner Verdienste.“

„Ich bin zu bequem, um ehrgeizig zu sein. Für mich gllt nur eine Frage: wird meine Tochter mit Helmuth Imhof glücklich? Ich glaube, ja! Er ist zwar ein flotter Bursch, aber mit tüchtigem Kern.“

„Wann soll die Hochzeit sein?“

„Im August – das heißt, die Sache hat noch einen Haken. Der Präsident ist ohne Vermögen, und die Kaution –“

Furtenbacher grinste. „Als ich seinen Cylinder im Mondschein glänzen sah, dacht’ ich sofort: auch einer, an dem Schneider und Hutmacher nur alle fünf Jahre etwas verdienen.“

Sie waren in die Vorstadt gelangt, vor Onkel Antons Haus, das in einem Garten voll Rosen lag. Furtenbacher blieb stehen und blickte zum erleuchteten Erker auf. „Meine Kathi erwartet mich zum Abendbrot; nehmt es nicht übel, ich werde mich von den andern da vorn auf französisch verabschieden.“

Dem Richter trat der Schweiß auf die Stirn, er hielt die Hand des Onkels fest. „Könnte ich morgen Dich sprechen?“

[471] Furtenbacher schaute ihm scharf ins Gesicht. „Du brauchst Geld?“

Der Richter zuckte erschrocken zusammen. „Lieber Anton, nicht so laut! Du weißt, in Hohenwart –“

„Heute hat’s keine Noth,“ sagte der andere trocken, „heute können wir eine Revolution verabreden, es hört uns niemand. Also Du willst vor den Riß treten, Dich opfern? Meinen Glückwunsch!“

Da der Stein einmal rollte, gewann Vitus Müller seine Würde wieder und den knappen sachlichen Vortrag eines Rechtskundigen. Als Onkel Anton vernahm, daß es sich nicht um das Ganze, sondern nur um einen Theil, einen verhältnißmäßig geringen Zuschuß, um ein Darlehen mit sicherer Anlage handle, milderte sich sein Grimm. „Wir wollen morgen darüber weiter reden,“ lenkte er ein.

„Gieb mir eine ruhige Nacht!“

„Nun – warum nicht? … Du bist ein zuverlässiger Mann. Aber ich thu’ Dir den Gefallen nicht etwa, weil eine Excellenz und zweierlei Tuch in die Familie kommt, ich thu’s Verena und Deiner Frau zulieb.“ Damit ging er.

Der Richter nahm seinen Hut ab. O, wie dufteten ihm jetzt die Rosen! Und mit dem Wohlgeruch verband sich der ebenso liebliche Gedanke, daß er seiner Frau eine gute Nachricht bringen könne.

*               *
*

Auch das Gespräch Idas und ihres Begleiters drehte sich um die Heirathsangelegenheit. Der Präsident erzählte, daß er in einem unmittelbar an den Erbprinzen gerichteten Schreiben eine rasche Erledigung des Heirathsgesuchs erbeten und nicht nur die Braut, sondern auch deren Eltern der Aufmerksamkeit und Huld Seiner Hoheit empfohlen habe.

„Mir ist’s heute abend zur Gewißheit geworden,“ fuhr er fort, nachdem er sich versichert hatte, daß das letzte Paar außer Hörweite war, „mein Freund Müller, namentlich aber Sie, liebe Baronin, sind in Hohenwart nicht an der rechten Stelle. Wie müssen Sie in dieser Enge leiden! Sie gehören in die Residenz. Zwar finden Sie auch dort keine Weltstadt, aber eine Stadt von Welt und in dieser Welt ohne Schwierigkeit den Platz. der Ihnen gebührt.“

Sie hatten die äußersten Häuser hinter sich gelassen, vor ihnen in freier Ebene stand das Bahnhofsgebäude, hell erleuchtet.

Ida drehte sich nach dem Schloßberg um; vom Mondlicht übergossen lag die Burg, hinter jenen fünf niedrigen Fenstern hoch dort oben ihr Heim, so eng, so fern dem großen Leben!

„Ein Orts- und Wohnungswechsel würde allerdings manches für sich haben,“ erwiderte sie. „Sommers ist unsere Wohnung recht luftig und kühl und die Aussicht in die weite grüne Ebene und auf das Gebirge herrlich. Aber im Winter! Die Stadt schrumpft zu einem rauchigen, rußigen Eisenhammer zusammen; Nebel verhängen die Berge; rings dehnt sich das große Bahrtuch aus. Am schlimmsten ist’s in einer Sturmnacht. Sie glauben nicht, was der alte Bau dann für unheimliche Töne hat! Und dazu dieses ewige Gleichmaß der guten Hohenwarter. Wenn Vitus nicht durch seine Stelle gebunden wäre, würde ich sagen: ‚Fort!‘ Aber so – doch alles in allem sind wir ja glücklich.“

„Das ist die Gefahr der kleinen Städte,“ rief der Präsident. „Man verliert die Spannkraft, hält sich für sicher, weil man in einem Käfig wohnt, und für zufrieden, weil man nichts Wünschenswerthes vor Augen hat. Ich sehe schon, Freund Müller muß zum Glück gezwungen werden, man muß Sie beide entführen.“

„Versetzen,“ verbesserte Ida gelassen. – –

Helmuth hatte fürs erste eine Strafpredigt Verenas wegen seines Betragens gegen den Onkel, namentlich aber wegen seiner Grausamkeit gegen Azor über sich ergehen lassen. Er nahm die Sache leicht und bewunderte lieber das Gesicht seiner Braut, das im Mondlicht einem schönen Marmorgebilde glich.

„Aber, gute Verena,“ wandte er ein, „wie konnte ich wissen, daß der Fremdling Deines Vaters Oheim sei! Er war so drollig in seinem Zorn.“

„Onkel oder nicht, man bringt alte Leute nicht in Zorn.“

„Und der Hund ist so häßlich.“

„Mir gefällt er.“

„Ah dann!“ Helmuth warf einen Blick in die Bogengänge des Marktplatzes, wo nur noch eine Tabakshandlung Licht hatte. „Schade, daß der Wurstladen schon geschlossen ist, sonst würde ich mich heute noch Deinem Liebling angenehm machen – doch wie wär’s mit einer Freundschaftscigarre für den Onkel?“

„Schäme Dich, Helmuth! Papa hält große Stücke auf ihn. Schon das müßte Dir den Spöttermund verschließen, wenn Du Papa wirklich liebst.“

„Von Herzen thu’ ich das.“

„Er verdient es auch,“ versetzte Verena ernsthaft. „Als wir nach Hohenwart kamen, waren Mama und ich trostlos. Mit seinem ersten Besuch wurde es gleichsam Tag bei uns, wir fühlten uns nicht mehr verwaist und verlassen. Wenn er so sanft und ruhig und vernünftig zur Mutter sprach, erschien mir der Prunk und die Unrast, worin wir bisher gelebt hatten, wie ein verworrener Traum, und ich empfand nicht die geringste Sehnsucht danach. Ich habe meinen verstorbenen Vater von ganzem Herzen geliebt, ich werde ihn nie vergessen, dennoch konnte ich der Mutter nicht zürnen, als sie mir ihre Verlobung mit unserem Freunde mittheilte. Und seitdem ist er mir Tag für Tag der gleich Gütige geblieben, und wenn es möglich ist, immer theurer geworden. Das Wort Stiefvater will nicht über meine Lippen; nur eins quält mich, Helmuth, Dir kann ich es anvertrauen: manchmal dünkt mich, Mama schätze ihn nicht genug … Wenn Du mich lieb hast,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „so sag’ und thu’ nichts, was diese stille Seele kränken kann. Liebe und verehre ihn wie ich!“

Sie waren auf der Brücke angelangt, die über das Flüßchen in die Neustadt führte. Da sie die andern erwarten wollten, setzte sich Verena auf die niedrige gemauerte Brüstung. Sie blickte nachdenklich in die Wellen hinab, die geräuschlos dahinglitten; nur da und dort glitzerte ein winziger Strudel im Mondschein. Verena hatte den Strohhut abgenommen und hielt ihn auf dem Schoß. Ihr Verlobter zog die Hand, die niederhing, sanft an seine Brust. „Dein Vater soll uns recht oft besuchen – oder, würde es nicht schöner sein, wenn wir alle und für immer bei einander blieben?“

„Ach, wenn das sein könnte!“

Helmuth lächelte geheimnißvoll. „Ich bin kein Prophet, allein mir schwant, mir schwant –! Komm, liebes Herz, bleiben wir an der Spitze, und wenn Du mir Schweigen versprichst – kannst Du schweigen? Gut, es gilt die Probe. Ich weiß etwas … Aber vorher einen Kuß!“

„Helmuth! Unter freiem Himmel!“

„Nein, unter jener Kastanie.“

*               *
*

Das Bahngebäude war groß und die Plattform davor langgedehnt und breit, denn Hohenwart war der Knotenpunkt zweier vielbefahrener Schienenwege, eines nordöstlichen und eines nordwestlichen. In jener Nacht war der Steig im Nu von der Masse überfluthet, und noch auf dem angrenzenden Gebiet standen Hunderte von Neugierigen. Der Thronerbe war beim Volke beliebt. Freilich, die Freunde der gegenwärtigen Zustände erwarteten seinen Regierungsantritt mit Bangen, die Mehrheit dagegen, namentlich die Jungen, mit um so größerer Ungeduld.

Zahlreiche Geschichtchen waren über Prinz Rüdiger im Schwange, gute und böse, alle ein Zeugniß, daß er eine Persönlichkeit war, eine geistige Kraft. Nach einem längeren Aufenthalt im Auslande, wo er staatsmännische und volkswirthschaftliche Erfahrungen gesammelt hatte, berührte er zum ersten Male wieder Hohenwart auf der Reise zu einer Verwandten, die sich im Gebirge zur Sommerfrische befand. Neugier wie Anhänglichkeit mochten an dem Gedränge der Hohenwarter zum Bahnhof gleichen Antheil haben. Alles war da, voran der Landrath Graf Zorn, ein verdrießlicher alter Herr mit einem Nußknackerkinn, in der Tracht der fürstlichen Kämmerer, die Geistlichkeit, die höheren Bahn-, Steuer- und Zollbeamten, der Gemeinderath, Major Langbein mit Frau und Tochter, die Kurgäste. Die beiden Imhof und die Familie des Richters waren die letzten, die in den freigehaltenen Raum unter die „Würdenträger“ traten. In der großen Versammlung herrschte feierliche Stille, so daß man deutlich die elektrischen Klingeln am Gebäude und das Rollen und Schnaufen eines herannahenden Zuges vernahm, und schon zuckten aus dem Nebel, der vom Bruch über den Bahndamm kroch, die bekannten feurigen Augen auf – [472] Böllerschüsse krachten und Sänger und Musiker stimmten das Festlied ihres Landes an:

„Heil unserm Landesherrn,
Der Treuen hellem Stern!“

Der kleine Sonderzug rollte in die Halle. Prinz Rüdiger stand auf dem Trittbrett seines Salonwagens und grüßte, den Hut in der Hand, die aufjubelnde Menge. Dann stieg er herab, um dem Landrath die Hände zu schütteln.

„Werden meine Wünsche so erfüllt, lieber Graf?“ fragte er lächelnd.

„Hoheit, die Liebe, Treue, Begeisterung von Hochdero künftigen Unterthanen –“

„Ihr Aussehen ist vortrefflich, mein lieber Graf,“ fiel Rüdiger ein, zog abermals den Hut und grüßte nach allen Seiten. Während er sich nach dem Befinden der gräflichen Familie erkundigte, musterte er die bunte Gesellschaft. „Ah, Excellenz von Imhof!“ rief er dem Präsidenten zu, der in der ersten Reihe stand. „Gut, daß ich Sie treffe –“

Ida behauptete am anderen Tage, der Erbprinz habe dem Vater ihres zukünftigen Schwiegersohnes den ersten Schritt entgegengethan. Wie dem auch sei, im nächsten Augenblick wanderte das Paar, der Prinz und sein Günstling, Arm in Arm den freigehaltenen Theil des Bahnsteigs hinauf und hinab. Der Prinz führte das Wort, für die Wißbegierigen leider nicht laut genug. Jedenfalls waren die Mittheilungen für den Präsidenten sehr erfreulich, denn dieser verneigte sich dankend ein Mal über das andere. Wieder bei seinem Wagen, wandte sich Rüdiger an den Landrath. „Lieber Graf,“ sagte er, „danken Sie in meinem Namen allen, allen für den überaus freundlichen Empfang. Leider bin ich nicht Herr der Lage, der Schnellzug ist uns sozusagen auf den Fersen; sonst würde ich Sie bitten, mir die einzelnen Herren vorzustellen … Excellenz, Helmuth habe ich schon zugewunken. Er sieht sehr gut aus. Ist die junge Dame neben ihm die Braut? Sie ist mehr als eine Schönheit, sie ist reizend. Die andere Dame ist doch unmöglich die Mutter? Wirklich? Das ist ja eine ebenso gebietende wie entzückende Erscheinung! Wie bedaure ich – aber die Bahn muß frei sein“ – er sprach die letzten Worte sehr laut. „In unserer lieben Hauptstadt denn, Excellenz! Und nochmals meinen Glückwunsch – Ihnen und dem Brautpaar und – der schönen Mutter der Braut!“

Sobald der Prinz im Wagen war, ertönte die Dampfpfeife. Der Bürgermeister von Hohenwart aber, Fleischer Zappel, schwenkte seinen Hut und brachte auf den Abfahrenden ein donnerndes Hoch aus. – „Hoch! hoch! hoch!“ Unter brausenden Zurufen und den Klängen der Musik fuhr der Zug aus der Halle.

„Haben Sie die Damen bemerkt, die neben dem jungen Imhof standen?“ fragte der Prinz, als er vom Fenster zurücktrat, seinen Adjutanten Falkenberg. „Imhofs Braut und seine künftige Schwiegermutter.“

„Zu dienen, Hoheit.“

„Wer gefällt Ihnen nun besser, die Tochter oder die Mutter?“

„Jedenfalls die Tochter, Hoheit.“

„Ich weiß nicht –“ sagte der Prinz. „Dann sah er auf die Uhr. Wir haben zwei Minuten Verspätung.“ –

Mit klingender Musik kehrte die Menge ins Städtchen zurück.

Sobald das Grüßen und Abschiednehmen auf dem Platz vor dem Bahngebäude vorüber war, machte der Präsident seiner Begleiterin hochwichtige Mittheilungen: Prinz Rüdiger übernimmt unmittelbar nach der Rückkehr von seinem Ausfluge die Regierung, sein Vater tritt zurück, weil er nach seinem eigenen Ausdruck „die Zeit nicht mehr versteht“. Das Regiment „Erbprinz“ kommt in die Hauptstadt. Die Heirathsbewilligung ist dem Lieutenant Helmuth von Imhof ertheilt.

„Somit ist alles in Ordnung,“ schloß die Excellenz, „nichts fehlt als das Tipfelchen auf dem i, die Einsendung des Haftgeldes – worum ich Sie gehorsamst bitte, liebe Baronin. Wie mir Hoheit versicherte, ist das amtliche Schriftstück schon unterwegs, wird also morgen hier eintreten. Wenn Sie damit einverstanden sind, erledigen wir das Geschäftliche gleich in den allernächsten Tagen. Da man an höchster Stelle uns so rasch zur Hand war, wollen auch wir nicht säumig sein.“

„Natürlich,“ versetzte Ida, allein dies „natürlich“ klang gepreßt.

„Zumal da die Summe bereit liegt – in Staatspapieren, sagten Sie ja wohl?“

„In Staatspapieren.“

„Vortrefflich! Wenn Sie wegen der Form des Begleitschreibens im Zweifel sind, bitte ich, über mich zu verfügen.“

„Warum soll ich Sie belästigen? Mein Mann wird ja wohl Bescheid wissen. Doch nun zu etwas anderem, Excellenz! Sie haben mich durch Ihre Kritik Hohenwarts um meine Ruhe gebracht.“

„Wirklich? Dann ist meine Absicht erreicht.“

„Als Frau eines Offiziers bin ich früher an ein ewiges Hin und Her gewöhnt worden und aus dem Wandern mach’ ich mir nichts. Aber Versetzungen sind nicht immer Verbesserungen. Da Sie bald allmächtig sein dürften –“

„Noch bin ich nicht im Sattel.“

„Aber schon im Bügel. Werden Sie sich des armen Müller erinnern, den Sie so weit zurückgelassen haben?“

Imhof ergriff mit Wärme ihre Hand. „Mein Wort darauf, ich werde mich als Freund beweisen.“

Er gab das Versprechen mit voller Aufrichtigkeit. Nicht als ob er ein verliebter Geck gewesen wäre! Er war bejahrt und fühlte sich alt. Noch war die Erinnerung an seine Gattin lebendig, an sie, die ungleich vornehmer, gebildeter, taktvoller gewesen war als die Baronin. Doch der Zauber, den Frauen ausüben, muß nicht immer Liebe sein. Die frische, rücksichtslose, nur dem Augenblick lebende, aber auch des Lebens frohe Persönlichkeit Idas bezwang Imhof. Es war ihm, als lehne er sich aus dem Fenster einer dumpfen Gerichtsstube und rieche plötzlich Landluft, den frischen Athem von Wald und Feld und Ackererde.

„Ich darf Müller mit gutem Gewissen empfehlen,“ setzte er nach einer Pause zu seiner Rechtfertigung hinzu. „Sprechen wir offen: Ihr Mann ist kein Genie, aber fleißig, gründlich, rechtschaffen. Den Helden gehört die Welt, doch mit den Durchschnittsmenschen bebaut man sie.“ –

Man trennte sich nach der Rückkehr vom Bahnhof nicht sofort. Die kleine Gesellschaft nahm in einer Laube des Kurgartens Platz, und der Präsident erzählte nunmehr auch den übrigen seine Unterredung mit dem Prinzen. Das waren große Nachrichten. Der junge Imhof braute eine Bowle, und während die Musik vom Schloßkeller herüberklang, hielt man eine kleine Nachfeier der Verlobung.

Der Präsident konnte an diesem Abend seine Bewegung nicht beherrschen; der öffentliche Beweis der fürstlichen Gunst that ihm unendlich wohl. Jedes Wort des Prinzen prüfte er auf seine Feinheit und Bedeutung, bis es ihm wie manchem Litteraturforscher erging: er wußte mehr als der Autor. Das stand nun freilich fest, daß ihm der Thronwechsel Arbeit, Ehren, Macht bringen werde. Macht! Wenn die Blechmusik drüben einen kriegerischen Marsch spielte, hob Imhof den Kopf. Er fühlte sich schon als Minister, sah sich umgeben von Diplomaten, Abgeordneten, Bittstellern, von einem Heer von Beamten; er hörte sich in der Kammer seinen Widersachern entgegnen, die er nicht durch stürmische Beredsamkeit, sondern durch kühlen, sachlichen, folgerichtigen Vortrag vernichtet, er stand mit dem Portefeuille vor dem Landesherrn, ein getreuer Diener, gleichwohl furchtlos, zielbewußt, schöpferisch … Wenn aber die Musik sanfte Weisen anhob, dachte er an sein Vaterglück. Sein prächtiger Junge wird nun für immer bei ihm sein! Sein zärtlicher Blick suchte die Augen Helmuths, allein dieser hatte sie nur für die Braut. Zum ersten Mal empfand der Präsident eine gewisse Eifersucht gegen Verena; wenn es nicht so gekommen wäre, wie es kam, würde es nicht besser sein!? So oft seine Gedanken dahinaus wollten, schielte er nach der Baronin und bemerkte jedesmal, daß ihre Blicke forschend auf ihn gerichtet waren. Und er fühlte sich unbehaglich und schuldbewußt. Las Ida in seiner Seele? Wenn auch nicht ganz, so doch annähernd deutlich.

Sie war überzeugt, daß ihm auf dem Heimweg ihre Verlegenheit nicht entgangen war. Sie hatte früher in der Geldfrage so zuversichtlich gesprochen. Wenn Imhof wüßte, wie Vitus sein bißchen alles hingegeben hatte und wieviel trotzdem noch fehlte: würde seine Freundschaft auch dann fortbestehen? Ida hatte nach dem Tode des Obersten einschlägige Erfahrungen gemacht … Das Geld! das Geld! An ihm scheitert ihre Lebensklugheit. Es genügt nicht, für reich gehalten zu werden, man muß es auch sein. Dieser fürchterliche und doch so nothwendige Onkel! Wird Vitus in dem Maße feurig und klug, kräftig und verbindlich [474] reden, als der Fall es verlangt? Warum ist er in dieser Angelegenheit so langsam und schwerfällig? Zwischen Verlobung und Hochzeit kann viel sich ereignen.

Wenn Excellenz mit Vitus spricht, nimmt er heute eine unerrräglich hoffärtige Miene an. Genau so sah der Schauspieler aus, der in „Kabale und Liebe“ – Ida weiß nicht mehr, wo – den Präsidenten gab. Und Schauspieler verstehen sich ja wohl auf Mienen und Gesichter. Wenn die Verbindung Papa Imhof verleidete, würde er vor Listen und Ränken so wenig zurückschrecken wie die Excellenz in Schillers Trauerspiel. Und das Herz Verenas würde brechen wie das Luisens, aber Helmuth – würde auch er sich grämen und vergiften wie Ferdinand? Ach! Die Zeiten, die Begriffe von Treue sind andere geworden.

Idas Gedanken wurden immer düsterer. Wenn nicht der unverwüstliche Lieutenant die Unterhaltung geführt hätte, würde die Gesellschaft in Grabesschweigen versunken sein. Da fand der Amtsrichter Gelegenheit, seiner Frau zuzuflüstern: „Ich habe mit dem Onkel gesprochen, alles gut!“ Im Handumdrehen wechselte ihre Stimmung, und nun entfaltete sie soviel Munterkeit, Mutterwitz und natürliche Laune, daß der Präsident alle lichten und dunklen Punkte der Zukunft über der Bewunderung ihrer Frische vergaß. Vitus war selig über den Frohsinn und die Erfolge Idas. Da er kein Trinker und des Weines nicht gewohnt war, stieg ihm das starke Getränk zu Kopf; er wurde – kurz vor Mitternacht – so beredt, daß er ein Hoch auf die Excellenz, das Brautpaar und seine liebe, liebe Frau ausbrachte. Dieses Ereigniß machte sowohl Ida wie den Präsidenten bedenklich. Man brach auf.

[485] Der Lieutenant ließ es sich nicht nehmen, die Familie seiner Braut nach der Burg zu begleiten. Als sie oben das Thor erreicht hatten, bestand der Amtsrichter darauf, Helmuth den Burghof bei Mondbeleuchtung zu zeigen. „Aber Männchen,“ wandte Ida ein, „wie der Mond jetzt steht, liegt der Hof im Schatten.“

Vitus sah sich um. „Du hast wie immer recht. Aber in den Saal Karls des Großen scheint jetzt der Mond. Hab’ ich Ihnen den Saal schon gezeigt? Nein? Den müssen Sie bewundern, gerade bei Mondschein ist er am schönsten. Kommt!“

Der Amtsrichter schloß das Thor auf und schob hinter der Gesellschaft den inneren Riegel vor. In dem gewölbten Gang brannte eine Oellampe. „Diese Riegel sind wohl auch noch aus der Zeit, da Carolus Magnus regierte,“ sagte der Lieutenant mit einem Blick auf das gewaltige Eisenwerk.

„Spiegelfechterei!“ rief Ida. „Wer in den alten Steinhaufen hereinwill, findet hundert Löcher zum durchschlüpfen. Ich wette, daß Strobel noch beim Bier sitzt, und doch kommt er ins Haus!“

Vitus blieb stehen. „Liebe Frau, nach der Hausordnung hat der Amtsdiener um zehn Uhr daheim zu sein. Ein rechtlicher Mann kennt keine Hinterthüren.“

„Du bist ein Pedant,“ sagte Ida und wandte sich nach der Hoftreppe. „Gute Nacht, Helmuth, wir empfehlen uns hier. Mein Mann sieht unverwandt nach seinem Rittersaal hinüber, da werden Sie ihm wohl den Gefallen thun müssen, mitzugehen. Sollten Sie ein Abenteuer erleben, so bitten wir um freundliche Mittheilung morgen bei Tisch – werden Sie sich einstellen?“

„Mit dem größten Vergnügen! Auf Wiedersehen also!“

Vitus und Helmuth traten in den Saal; mit seinen großen Verhältnissen, in seiner verfallenen Pracht machte dieser beim Mondschein, der durch die scheibenlosen Lichtöffnungen drang, einen gespensterhaften Eindruck. Am Deckengebälk glitzerten noch einige Spuren der einstigen Vergoldung, die bemalte Kalkbekleidung des Gemäuers war abgeblättert und nur an der inneren Längenwand einigermaßen erhalten. Der Amtsrichter führte Helmuth vor eine lebensgroße sitzende Gestalt, einen bärtigen Alten in Purpur und Krone mit einem Schwert auf dem Schoß, und fragte feierlich: „Wer ist das?“ Schön war die Malerei nie gewesen, jetzt war sie zudem verblichen und schadhaft, aber für Leute mit geschichtlichem Sinne ehrwürdig.

Nicht ehrwürdig für den Lieutenant, denn er antwortete ohne Zaudern: „Iwan der Schreckliche.“

[486] „Aber Helmuth, sehen Sie doch das Gewand, das Antlitz! Es ist Karl der Große, wie er Gericht hält auf freiem Feld, im Glanz der Sonne, den Schild zu Häupten. Sehen Sie die Hand, die sich zum Schwur erhebt?“

„Achtdreiviertel,“ sagte der Unverbesserliche im Ton eines Handschuhverkäufers.

„Damit ist sinnbildlich angedeutet, daß Karl hier als Richter sitzt. So lange kenne ich nun dies Gemälde, doch immer noch macht es Eindruck auf mich. Der Richter, wenn er Recht spricht, hat etwas Königliches, der König aber, der richtet, wird göttlich, bei ihm ist das Recht und die Gnade“

„Alle Wetter,“ dachte Helmuth, „mein künftiger Schwiegervater hat sich ja ein gut Stück Begeisterung aus dem Weinglase verzapft!“ Denn gehobene Stimmung und schwungvolle Rede konnte er mit dem Vitus Müller von sonst nicht in Einklang bringen.

„Ja, ja, mein Guter,“ fuhr dieser fort, „und wenn ich mein Leben noch einmal in der Hand hätte und im voraus wüßte, daß ich wieder in Hohenwart absterben würde - denn das wird mein Schicksal sein - ich würde dennoch nichts anderes sein wollen als Richter.“

„Und ich in alle Ewigkeit nichts anderes als Soldat. Doch so oder so - wir alle dienen. Uebrigens meine ich, wir könnten jetzt den alten Schweden in Ruhe lassen; ich danke Ihnen für die Bekanntheit des Edlen und entbiete den Damen nochmals meinen Gutenachtgruß.“

Dafür, daß er die Sache mit dem Onkel so gutt erledigt hatte, erhielt Vitus Müller vorm Schlafengehen noch eine Belobung von seiten seiner Frau, und dieses seltene Glück ließ ihn bis in den Morgen hinein fest und traumlos schlafen. Als er im Schlafrock zum Kaffee erschien, fand er Ida im Begriff, auf den Markt zu gehen und die Einkäufe für den Mittag zu besorgen. Wenn es sich um eine Einladung handelte, war sie so rührig und fürsorglich, nur freilich nicht so sparsam wie die beste Hausfrau. Denn ihre Vorbereitungen waren ebenso großartig, ob sie einen Gast oder ein Dutzend erwartete.

„Alterchen,“ sagte sie zu ihrem Mann, nachdem er sie begrüßt hatte, „wann gehst Du zum Onkel?“

Vitus strich über sein Haar. Ach ja, heute steht ihm der Gang bevor, der schwere Gang. Allerdings hat der Onkel seine Hilfe so gut wie versprochen, doch liebenswürdig ist Onkel Anton nicht, wenn er gefällig ist. „Nach Tisch,“ antwortete er. „Denn wie Du weißt, ist der Alte ein Langschläfer; ich aber habe um zehn eine langwierige Verhandlung in Mündelsachen.“

„Also heute nachmittag! Soll ich´s ihm mitteilen lassen?“

„Nein, liebe Ida,“ versetzte er nach kurzem Besinnen. „Er wird nicht vergessen, daß ich komme, und ich kenne seine Tagesordnung. Nach dem Mittagessen macht er einen zweiten Schlaf, doch Punkt drei Uhr trägt ihm Kathi den Kaffee in die Laube im Garten. Dort such´ ich ihn auf.“


4.

Auf dem Stadtplatz, wo morgens Gemüse und Geflügel feilgehalten wurde, begegnete Ida, die von ihrer Köchin begleitet war, der Majorin Langbein. Anch dieser folgte eine korbtragende Dienerin.

„Darf ich meinen Augen trauen?“ rief die Majorin. „Die Frau Baronin auf dem Markt!“

„Ich bin erstaunt, Sie zu sehen,“ entgegnete die Angeredete. „Seit meine Tochter morgens ihren Brunnen trinkt, Tag für Tag. Gott, wie heiß es schon ist! Und dieses Gedränge! Und dabei jammern die Hohenwarter immer über schlechte Zeiten!“

Jetzt traten alle Vier aus dem Gewühl in den nächsten Bogengang. Den Herrinnen glänzten die Augen vor Kampflust; die Mägde machten ernste Gesichter, heimlich zwinkerten und lächelten sie einander listig zu. Heute begann die Majorin den Angriff.

„Ist es wahr, Frau Baronin,“ fragte sie „- mein Gott, man hört so viel in diesem Krähwinkel, leider nur selten die Wahrheit - geht Lieutenant Imhofs Urlaub wirklich schon nächste Woche zu Ende?“

„Warum wundert Sie das, liebe Majorin? Sie dürfen ruhig sein, es geht bloß der Urlaub zu Ende.“

„Aber die Hochzeit?“

„Da Exzellenz der Freund des Regimentsinhabers ist, wird Helmuth zur Hochzeit wohl einen neuen Urlaub erhalten. Andernfalls dauert eine Trauung keine Ewigkeit.“

„Ah, das freut mich zu hören - ich sagte ja gleich - aber die Welt ist so böse …“

„Was sagte die Welt und was sagten Sie, meine liebe Majorin?“

„Ich natürlich nur Gutes. Wenn wir Offiziersfrauen nicht zusammenhielten! Verzeihung! Für mich sind Sie die Oberstin. Zwar nach den Jahren könnte ich Ihre Mutter sein.“

„Wirklich?“ fragte Ida frostig.

„Nein, nein, der Unterschied im Alter ist nicht so groß, nur bin ich ernster veranlagt als Sie, kühler. Vielleicht fühle ich mich gerade deshalb so zu Ihnen hingezogen. Lassen wir also die Welt reden! Die Welt ist eben schadenfroh.“

„Warum schadenfroh?“

„Es heißt, die Hochzeit sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden, weil - weil - nun, es ist ja ein öffentliches Geheimniß, daß Excellenz keine Reichthümer gesammelt hat. Sein Vater, wenn ich mich nicht irre, war Gerichtsschreiber, seine Frau eine Geborene von Muggenthal. Die Muggenthals, du lieber Gott! Allerdings bezog Excellenz ein ziemlich hohes Gehalt und entsprechend ist jetzt seine Pension, aber was Söhne beim Militär kosten, wissen wir beide. Und -“

„Und Vitus Müller, meinen Sie, hat auch nicht viel. Beschwichtigen Sie Ihre Theilnahme und Sorge! Das Haftgeld wurde von mir gestellt.“

„O!“

„Und die Hochzeit findet, wie von Anfang an beschlossen war, am Geburtstage des Erbprinzen statt. Hoffentlich wird Ihre Minna uns die Ehre schenken, Brautjungfer zu sein - wenn sie nicht selbst früher Hochzeit feiert, denn daß zwischen Fräulein Minna und Herrn Haspinger ein - na, sagen wir die Einleitung zu einer Verlobung spielt, ist auch ein öffentliches Geheimniß.“

Ida sprach’s und raschelte davon, denn sie trug nicht Seide, sondern ein frischgesteiftes Linnenkleid. „Haben Sie gehört?“ fragte sie die Köchin.

„Gehört hab’ ich nichts,“ antwortete diese, „aber gesehen genug. Majors Peppi hat jetzt auch schon Spitzenfalbeln wie die Frau Baronin.“

Der Bäcker Unterberger stand vor seinem Laden im Gespräch mit dem Bürgermeister Zappel. Beide grüßten die Richterin schon von weitem. Sie hatten mächtige Baßstimmen. „Ihr Diener, Frau Baronin!“ und „Frau Baronin, meine Hochachtung“ dröhnte es wie ein Gewitter durch den gewölbten Gang. Ida blieb stehen und schüttelte den Bürgern herzhafter als sonst die Hand, da sie die Majorin noch in der Nähe und auf der Lauer wußte.

„O, Frau Baronin,“ sagte der Bürgermeister, „was muß ich hören! Freund Unterberger erzählt mir soeben, daß das junge Brautpaar in der Residenz Hochzeit macht! Unsere Baronesse an ihrem Freudentag nicht bei uns? Wär’ nicht übel! Nein, nein, die Hochzeit muß bei uns sein. Ganz Hohenwart wird Spalier bilden, dafür lassen Sie die Bürgerschaft sorgen.“

„Die Bürger,“ raffte sich jetzt der Bäckermeister auf, der duselig aussah, weil er noch nicht geschlafen hatte, „die Bürger - das muß man uns lassen.“

„Ja, die Bürger sind meine Freund,“ fiel Ida ein. „Und wenn es nach mir geht - und hoffentlich geht es nach mir -“

„Nach wem sonst?“ fagte Zappel.

„Wird die Hochzeit nirgend anders als hier gefeiert. Und nach altem Brauch mit Kranzeljungfern und Kirchgang.“

„Und Hochzeitsmahl,“ meinte Unterberger.

Es hatte ganz den Anschein, als ob Ida die Hohenwarter am kleinen Finger halte. Grauköpfe drehten sich nach ihr um, böse Buben heuchelten unter ihren Blicken Wohlerzogenheit und Harmlosigkeit. Die schöne Apothekerin, die hochmühtigste Frau im Städtchen, kam mit Blumen aus ihrem Garten und lief der „Frau Baronin“ nach, um ihr den Strauß zu überreichen. Alle diese Beweise ihrer Beliebtheit waren für Ida Balsam und Sporn zugleich. „Und wenn ich einen Kniefall vor Onkel Anton thun sollte,“ sagte sie sich, „die Würde muß gewahrt, das Geld muß heute beschafft werden!“ –

[487] Die Wände des Speisezimmers waren wie alle in der Richterwohnung hoch hinauf mit Holz verkleidet, doch war hier die Vertäfelung mit Blumen- und Blätterwerk übermalt. Die Mauern oberhalb zeigten allerlei Stillleben, die, zu ihrem Vortheil, stark gelitten hatten. Ein Hängeleuchterchen von venetianischem Glas, ein Erbstück des Richters, fügte sich gut in die verblichene Pracht. Als Vitus vom Amte kam, hörte er die Stimme seiner Frau im Speisezimmer und trat deshalb sofort ein. Noch war die Morgenkühle drin, und es roch nach den Blumen, die den wohlgedeckten Tisch zierten. Ida legte eben die letzte Hand an die Tafel. Dabei sprach sie mit einem Soldaten, der stramm neben der Anrichte stand. Die rothen Bänder eines Spitzenhäubchens hoben ihre Gesichtsfarbe, das lichte Linnenkleid zeigte ihren schönen Wuchs.

„Du bist’s!“ rief sie und nickte Vitus zu. „Sieh doch – Schütz, hier fehlt ein Wasserglas – sieh doch, wie aufmerksam Helmuth ist, schickt einen Korb Wein zur Tafel und seinen Burschen zur Aufwartung!“

Vitus putzte seine Brille, setzte sie wieder auf und musterte die „Aufmerksamkeiten“ Helmuths, zunächst den Bedienten. „Ah, Sie sind es, Schütz,“ sagte er. „Sind Sie denn auch wieder mitgekommen?“

Ida antwortete für den Soldaten, daß sein Herr ihn nicht habe entbehren wollen, daß Schütz gelernter Gärtner sei und sich jetzt mit Helmuths Erlaubniß um die Verschönerung des Städtchens verdient mache. Dann schickte sie den Burschen hinaus, um anrichten zu lassen. Als sie allein waren, wandte sie sich an ihren Gemahl und sagte halblaut. „Ein Glas Wein wird Dir gut thun, denn Du weißt: um drei Uhr!“

Der Richter seufzte.

„Es muß sein,“ ermunterte Ida, „und bitte den Onkel, Dir das Geld sogleich zu geben.“

„Wird er soviel liegen haben?“

„Er, der täglich Wechselgeschäfte macht! … Der Präsident hat sich auf fünf bei mir angemeldet – soll ich ihm die Wahrheit bekennen? Willst Du mich bloßstellen?“

„Aber Ida! Punkt drei Uhr bin ich beim Onkel. Es handelt sich um Dich und Verena. Da bedarf es keines Sporns.“

Gelächter klang aus dem Nebenzimmer. „Ah, Helmuth!“ sagte der Richter, und seine Mienen wurden heiter. „So herzlich kann nur ein guter Mensch lachen.“ Rasch öffnete er die Thürflügel und rief den Kindern im Nebenzimmer seinen Gruß zu.

Als noch das Banner der Ritter von Hohenwart vom Bergfried wehte, der nun schon seit einem Jahrhundert abgetragen war, fanden in der Burg wohl genug heitere Feste und Gelage statt, aber schwerlich ein fröhlicheres Mahl als das des kleinen Kreises. Ida und das Brautpaar waren von Anfang an in glücklichster Stimmung, und Vitus Müller that es bald ihnen gleich, weil er alles zufrieden sah. „Meine Frau hat recht,“ dachte er, „ich nehme die Geldfrage viel zu schwer, einem Onkel gegenüber ist man der Neffe, der bitten darf, nicht der Beamte, der sich etwas vergeben könnte.“ Nach dem zweiten Glase lachte er mindestens ebenso herzlich wie der Lieutenant. Die Sorge blieb ausgeschlossen wie der heiße Tag, der draußen vor dem breiten Fenster lag. Zwar hatten die Forellen zu lang gekocht, und der Braten war nicht allzu zart, gleichwohl konnten die Männer mit voller Aufrichtigkeit versichern, niemals besser gegessen zu haben. Die Gegenwart einer liebenswürdigen Hausfrau machte alle Fehler der Küche gut. Als schon der Kaffee aufgetragen war und die herzliche Fröhlichkeit der Vier ihre Höhe erreicht hatte, ward Vitus auf einmal still. „Jetzt zum Onkel!“ sagte er sich, und Ida, die seine Gedanken errieth, raunte ihm unbemerkt zu: „Ja, ja, spute Dich!“

Müller ging, ohne sich zu verabschieden, doch im Vorzimmer wurde er von Verena ereilt. Sie wollte ihn den wichtigen Gang nicht ohne ein Zeichen ihrer Liebe machen lassen, umschlang ihn mit beiden Armen und küßte seine Wange.

Wie heiß war es, sobald der Richter aus dem Baumschatten der Burgstraße trat! Jetzt fühlte er den starken Wein. Auf dem verödeten Markplatz lag grell der Sonnenschein; es flimmerte vor seinen Augen und der Schweiß drang ihm aus allen Poren.

„Was treibt denn Sie bei dieser Hitze aus der Kühle droben?“ redete ihn der Bezirksarzt an, der ihm entgegenkam.

Sie schüttelten einander die Hände. „Nun, bei Ihnen ist alles wohl,“ sagte der Arzt. „Ich sah am frühen Morgen schon die Frau Baronin unterwegs. Ja, sie versteht’s, sich jung zu erhalten. Da war ich heute bei Tannhauser, der versteht’s ganz und gar nicht.“

„Ist er kränker?“

„Wenn er sich ein paar Zähne ziehen und seine Zimmer lüften läßt, wenn er sich mehr Bewegung macht und weniger Bier trinkt, ist er bald so gesund wie Sie und ich. Allein da fehlt’s! Ein größerer Querkopf ist mir noch nicht vorgekommen. Er klagt wie ein Kind und will sich nicht helfen wie ein Mann. Sie als sein Vorgesetzter sollten ihm ins Gewissen reden. Mir folgt er nicht.“

„Seine Arbeiten sind meisterhaft.“

„Aber er wird bei dieser Lebensweise nicht lange mehr musterhaft oder überhaupt nicht lange mehr arbeiten. Und nun adieu! Meine Empfehlung der Gnädigen!“

Die Stadtuhr schlug halb drei, als Vitus den Weg fortsetzte. In der Sackgasse dort hinten wohnte sein Assessor. Es war ein gutes Werk, den Einsiedler zu besuchen und im Sinne des Arztes mit ihm zu sprechen. Gedacht, gethan. In der Stube des Assessors war es heiß wie in einem Backofen. Der Leidende saß in einem schmutzigen Schlafrock und mit verbundenem Kopfe am Tisch, der mit Aktenbündeln belastet war, und diktierte dem Gerichtsschreiber in die Feder. Ein feuchtschimmernder Maßkrug stand neben dem Kranken. Im Erdgeschoß des Hauses war die Bierschenke „Zum Raben“, finster, schmutzig und nicht selten von übelberufenen Leuten besucht. Um so besser war der Ruf des Bieres, das der Wirth aus der Hauptstadt bezog. Keine städtische oder allgemein politische Frage wurde in Hohenwart so eifrig und unaufhörlich erörtert wie diejenige, ob das Schloßbräu oder das Rabenbier besser sei. Tannhauser schwur auf den „Raben“.

So klein war des Assessors Klause, daß er dem Schreiber – offenbar zu dessen innigster Freude – befehlen mußte, einstweilen in der Küche der Wirthsleute sich aufzuhalten.

„Wie geht’s, Tannhauser?“

„Schlecht, schlecht, Herr Amtsrichter. Wenn ich nicht meine Akten und nachmittags unsern Schreiber, auch dann und wann das Bier vom ‚Raben‘ hätte, würde ich mich umbringen.“

Müller gab ihm vernünftige Rathschläge, allein Tannhauser schüttelte zu allem den Kopf.

„Herr Amtsrichter,“ sagte er, „jeder kennt selbst am besten seine Natur. Der Schmerz ist rheumatisch.“

„Aber der Bezirksarzt –“

„Der Bezirksarzt! Diese Aerzte! Alles über einen Kamm! Als Jurist behaupte ich meine Persönlichkeit; mein Zahnschmerz kommt nicht von den Zähnen. Vererbung! Die Tannhauser Familie ist zu alt! – Hat man bei der Veitenbäuerin schon gepfändet?“

Der Richter stockte mit der Antwort. „N – nein. Was – was meinen Sie, wenn wir noch ein paar Tage warten würden? Vielleicht bringt sie doch das Geld zusammen. Sie kam wirklich unverschuldet ins Unglück.“

„Sie kam dazu wie ich zum Zahnweh. Ihr Mann war ein Lump, der alles vergeudete. Der Mann ist todt, aber der Gesetzesparagraph ist lebendig, wir müssen uns an die Paragraphen halten. Was ich noch sagen wollte: der Schreiber Franz, der ja leider wieder los ist, verjubelte gestern mit dem ‚Pfannen-Gide‘ im ‚Raben‘ eine Menge Geld, trat heute erst um elf zu der Arbeit an, welche ihm der städtische Straßenmeister aus Mitleid gegeben hatte, und wurde deshalb entlassen.“

„Dachte ich es doch! Schlechte Kameradschaft währt am längsten.“

„Einsperren! Den einen wie den andern. Es gibt doch Paragraphen genug für die paar Spitzbuben! Da ist zum Beispiel Paragraph achthundert – au!“ Er drückte die Hand auf die Backe. „Ach, Herr Amtsrichter, wenn ich achthundert Zähne hätte – au!“

„Ich bedaure Sie lebhaft,“ versetzte Vitus, während er die perlende Stirn trocknete, „allein Sie sollten sich bessere Luft gönnen.“

„Herr Amtsrichter, nach dem, was man von alten Ritterburgen weiß, haben meine Vorfahren in den ihrigen eher zu viel als zu wenig Luftzug gehabt. Daher mein Rheumatismus! Für [490] mich ist frische Luft Gift – für mich – Wenn Sie erlauben, nehme ich einen Schluck. Es hilft auch nicht, aber es mildert …“

„Ein harter Mann, dieser Tannhauser,“ dachte der Richter, während er sich die finstere Treppe hinabtastete, „ein harter Mann gegen sich und andere.“

Die Gasse lag in kühlem Schatten, doch war die Luft darin ebenso verdorben wie im „Raben“ selbst. Müller beeilte sich, aus der drückenden Enge herauszukommen, und so entging ihm, daß einer der beiden Strolche, von denen droben die Rede gewesen war, am Fenster der Wirthsstube saß, der „Pfannen-Gide,“ ein gewaltthätiger, gefürchteter Mensch. Er war seines Handwerks ein Schlosser, doch Trunk- und Händelsucht machten ihn in jeder Werkstätte unmöglich; so trieb er denn ein abenteuerliches Leben. Einmal wurde er mit zerschossenem Bein heimgebracht, nach seiner Aussage war er im Wald „aus Versehen“ getroffen worden; die Geschichte blieb unaufgeklärt. Aber auch mit dem lahmen Bein ging er wohl noch die alten Wege des Wilderers und Schmugglers. Er übte auf junge Taugenichtse großen Einfluß aus, nicht zu ihrer Besserung. Dem Zauber dieser Persönlichkeit fielen die Ersparnisse wie die guten Vorsätze des Schreibers Franz zum Opfer. Vor der gemeinsamen Kneiperei hatte der „Pfannen-Gide“ beim wiedergefundenen Freunde eine Anleihe gemacht, davon lebte er heute nach seinem Geschmack abermals äußerst herrlich. Als der Amtsrichter das Haus verließ, lachte der Gauner hinter ihm her. Der Hochmögende da draußen hat seine guten Seiten, sagte er sich, doch im großen und ganzen taugt auch er nicht mehr als der Hauptmucker im zweiten Stock. Er schüttelte die Faust gegen die Decke – Ihr behandelt uns wie wilde Thiere, und trotzdem sind wir gewissermaßen eure Brotherren, denn wenn jedermann nach der Schnur lebte, wo blieben dann die Richter!

Vitus Müller athmete erst auf, als er in den Garten seines Onkels trat, das saftige Grün schien ordentlich Kühle auszuströmen. Er ging geradeswegs in die Laube, wo er den Gesuchten beim Kaffee zu finden hoffte. Allein bloß die Köchin Kathi saß drin, ein nicht mehr junges, aber noch leidlich hübsches Frauenzimmer mit dicken Backen und kleinen, verschmitzten Aeuglein. Sie that einen Schrei und sprang auf.

„Jesus, der Herr Amtsrichter! Bin ich aber erschrocken!“

„Ist der Onkel noch droben?“

„Der Herr Furtenbacher sind vor einer Viertelstunde ins Gebirge abgereist. Er läßt Ihnen sagen, daß er morgen wieder zurück ist.“

Vitus erschrak. Vor einer Viertelstunde! Mein Gott, warum ging er nicht zuerst zum Onkel und dann zu Tannhauser! „Vor einer Viertelstunde –“ wiederholte er laut.

„Ist der Herr abgereist, aber daheim war er schon mittags nicht mehr. Der Herr aß in der Bahnhofwirthschaft.“

„Am ersten Tage nach seiner Heimkehr? Kathi, was haben Sie verbrochen?“

„Ich? ich?“ rief Kathi – und nun erging sie sich in Klagen über die schlimme Laune, die ihr Herr aus Karlsbad mitgebracht habe. Gleich zu Anfang sei er unleidlich gewesen, weil sie nicht auf dem Bahnhof erschienen war. Du gerechter Himmel, sie hatte geglaubt, eine gebratene Gans sei ihm der liebste Empfang. „Und dann der Hund! Hat man je ein garstigeres Thier gesehen? Und dann fand der Herr schlechte Nachrichten über einen Schuldner im Gebirge vor.“

Indessen hatte Vitus die Laube verlassen und schritt, von Kathi begleitet, dem Ausgang zu. „Merken der Herr Amtsrichter keine Veränderung im Garten?“

Müllers Gedanken waren daheim. Wie wird Ida die verdrießliche Nachricht aufnehmen? Er blickte zerstreut umher und meinte, der Garten scheine ihm besser gehalten zu sein als in früheren Jahren.

„Das will ich meinen,“ rief sie. „Sehen der Herr Amtsrichter nur den Rasen an, ist er nicht wie Sammet! Und erst das Beet dort mit den blutrothen Nelken, die ein flammendes Herz vorstellen! Und das scheckige Strauchwerk! Das alles ist das Verdienst des Burschen vom Herrn Lieutenant, des Herrn Schütz, der so ab und zu sich des Gartens und meiner Einsamkeit erbarmt hat. Glauben Sie nun, daß unser Herr mit dieser Ueberraschung zufrieden war? Im Gegentheil, wüthend war er und schoß wie ein Kreisel auf den schönen dottergelben Kieswegen umher und schrie, daß er die neumodischen Gärtnersprünge nicht ausstehen könne.“

„Wissen Sie, mit welchem Zug der Onkel morgen zurückkehrt?“

Kathi wußte es nicht. „‚Sagen Sie: morgen komm’ ich wieder heim!‘ schnauzte er mich beim Abschied an, sagte aber nicht, mit welchem Zug er kommen wird! Bin ich dann morgen bei allen Zügen auf dem Bahnhof und laß’ das Kochen, wird’s dem Herrn wieder nicht recht sein. Ach, Herr Amtsrichter, lieber Sklavin bei einem Türken als Köchin bei Herrn Furtenbacher!“

*               *
*

Im Burghof traf der heimkehrende Richter den talentvollen Gärtner und das Stubenmädchen Idas am Brunnen. Schütz half der Jungfer Wasser tragen, augenblicklich jedoch pflogen beide eine Unterhaltung mit dem alten Strobel, der vom Bogengang heruntersah. Die Stirn in finstern Falten, ging Vitus in das Gerichtszimmer und ertheilte dem Amtsdiener, der ihm gefolgt war, einen strengen Verweis. Wie konnte er die Amtsräume ohne Aufsicht lassen!

„Aber Herr Richter, ich sah ja –“

Vitus unterbrach ihn mit harter Stimme. „Sie sind in Eid und Pflicht wie wir, es giebt für Sie keine Entschuldigung.“ Er war wider seine Gewohnheit mit dem Hut auf dem Kopf eingetreten. Er nahm ihn nicht ab; aus der Wohnung drüben tönte kräftiges Klavierspiel und ließ ihn vermuthen, daß seine Frau dem Brautpaar zum Tanze aufspiele. Sie ist so fröhlich, dachte er, und nun muß ich ihre Freude stören. Schon unterwegs hatte ihm der Wunsch, die nöthige Summe vorläufig anderswo aufzutreiben, eine Reihe trüber Gedanken erweckt. Er wußte niemand, an den er sich offenherzig hätte wenden können. Trotz seines vieljährigen Aufenthalts in Hohenwart war er freundlos. Alle die wohlhabenden Männer, die er sich herzählte, würden sein Gesuch mit Verwunderung hören. Oder sollte er beim Assessor anfragen? Von Tannhauser ging das Gerücht, daß er keineswegs arm sei, wie er vorgab, vielmehr bei irgend einem Hohenwarter Patrizier ein hübsches Stück Geld liegen habe. – Nein, Tannhauser wäre der letzte, den er auch nur um die kleinste Gefälligkeit, geschweige denn um ein Darlehen bitten möchte. Der Mann hat kein Herz oder weiß es so zu verbergen, daß niemand darauf zu rechnen wagt.

Jetzt erst bemerkte er, daß Strobel noch dastand. Er sah den Zerknirschten über die Brille weg forschend an. „Strobel,“ sagte er, „wenn nichts Dringliches für Sie vorliegt – “

„Herr Amtsrichter, auf Ehre nicht! Alles erledigt!“

„Dann schaffen Sie mir den unseligen Schreiber Franz zur Stelle, meinethalben mit Hilfe des Landjägers. Der Mann ist wieder in den Händen des ‚Pfannen-Gide‘, welcher ihn ins Verderben stürzen wird. Ich will ein letztes Mal in Güte mit ihm reden.“

„Zu Befehl, Herr Amtsrichter!“ erwiderte der andere voll Eifer. „Nur wende ich mich nicht an den Landjäger, sondern an die Obstfrau auf dem Stadtplatz. Woher einer kommt und wohin einer geht – sie weiß alles.“

Die Musik hatte aufgehört. Ida wird ihn erwarten, denn es ist schon vier Uhr vorüber; aber solang Helmuth drüben ist – hoffentlich empfiehlt er sich, bevor sein Vater kommt. Dann – da stand von den Verhandlungen des Vormittags her noch die Geldkasse neben den Rechnungsbelegen. Er setzte sich nieder, um Ordnung zu machen.

Bei dieser Beschäftigung traf ihn Ida. Sie hatte seine Rückkehr vom Burschen erfahren und eilte in größter Unruhe herüber.

„Nun?“ rief sie schon unter der Thür.

Vitus blickte auf und sah die Gluth der Aufregung in ihren Zügen, ihm war, als sei er an den Stuhl angewachsen. „Ist Helmuth schon fort?“ fragte er.

„Nein. die Majorin Langbein mit ihrer Tochter ist drüben und hält ihn fest. Aber sprich doch, was ist’s mit dem Onkel?“

Er brachte stockend die böse Nachricht vor.

„Vitus!“ rief sie und legte die Hand aufs Herz, „das darf, das kann nicht sein. Onkel versprach Dir ja –“

„Freilich. Weiß der Himmel, was dazwischen fuhr!“

„Aber was sage ich dem Präsidenten? Er reist heute noch in die Hauptstadt und will dort alles selbst besorgen!“

„Am besten, dünkt mich, die Wahrheit.“

„Unmöglich! O, Du kennst Deinen Schulfreund weniger als ich. Enthülle ihm die Wahrheit, und wie er jetzt für die Heirath [491] ist, wird er fortan dagegen sein. Die Wahrheit? Die Wahrheit ist, daß ich ihm bisher etwas vorgelogen habe. Sage Du ihm das! Ich – ich – Vitus, ich ertrage die Schande nicht.“ Sie rang die Hände. Plötzlich wurde ihr Blick starr. „Aber Vitus –“ sprach sie und deutete auf die Geldkasse, die jetzt offen stand, „da hast Du ja Geld.“

Müller antwortete mit schwermütigem Lächeln, daß er sie schon gestern über Herkunft und Bestimmung dieser Gelder aufgeklärt habe.

„Ich erinnere mich,“ entgegnete sie, ohne die Augen wegzuwenden. „Wieviel nanntest Du gestern?“

„Ja, gestern waren wir reich. Aber heute wurden ein paar Dorfprinzen mündig erklärt, und fast der ganze Mammon ist ihnen ausgeliefert worden. In die sechstausend Mark, die noch vorhanden sind, theilt sich dereinst ein volles Dutzend.“

„Es sind Staatspapiere?“

„Ja.“

„Und sie bleiben in Deiner Verwahrung?“

„Wenn ich solange lebe, bis die Rangen mündig werden –“

„Dann ist die Sache sehr einfach: Du borgst bis morgen mir das Geld.“

„Liebes Kind, welcher Einfall! Nicht einmal gegen gleiche Werte austauschen könnte ich die Papiere. Die Nummern sind gebucht.“

„Aber Männchen, es handelt sich ja bloß um einen Tag. Morgen kehrt der Onkel zurück; mit dem Gelde, das Du von ihm erhältst, fahr’ ich in die Residenz und tausche die Scheine dafür ein.“

Vitus schloß die Kasse zu und erhob sich. „Liebe Ida,“ versetzte er bestimmt, „Du solltest nach Deinen Gästen sehen.“

Seine Gemahlin warf einen verzweifelten Blick auf die Wanduhr. „Excellenz kann jeden Augenblick kommen,“ schluchzte sie, „ich gehe nicht mehr hinüber, ich laufe auf und davon. Sag’ der Majorin, Helmuth, dem Präsidenten – sag’ was Du willst – meinethalben alles!“

„Aber Ida, Du kannst die Wahrheit bekennen: das Geld ist heute nicht eingetroffen, kommt morgen aber sicher.“

„Morgen? Und wenn Dein Onkel wieder sein Wort bricht?“

„Du glaubst all diese Möglichkeit und forderst das von mir!“

Sie hob stolz den Kopf. „Was verlang' ich denn Großes? Im schlimmsten Fall handelt es sich um eine Woche. Niemand außer Deinen Vorgesetzten kann Schlüssel und Einblick von Dir fordern. Noch ist kein Monat seit der letzten Rechnungsabnahme vergangen, und man hatte, wie Du erklärt hast, alles zur Zufriedenheit gefunden. Bis wieder eine Revision erfolgt, wird die Baronin Gatterburg diese Summe doch aufbringen!“

Vitus fuhr mit der Hand immer hastiger über den Scheitel.

„Du überlegst nicht, was Du verlangst!“

„Was kann nicht Liebe von Liebe verlangen!“ rief sie leidenschaftlich und brach in Thränen aus.

Diese Thränen waren furchtbar und unerträglich. Er drückte Ida plötzlich an sich, küßte sie auf die Augen, die Lippen, wandte sich dann zum Tisch, schloß auf, raffte die Papiere zusammen und gab sie ihr:

„Nimm!“ – –

[501] Als Ida aus dem Zimmer war, sperrte der Richter die Kasse ab und steckte den Schlüssel in die Tasche, doch gewann er es nicht über sich, die Kasse an ihren alten Ort zu tragen. Grauen und Ekel erfaßten ihn; stöhnend sank er auf einen Stuhl.

Da erschien der Amtsdiener mit dem Schreiber Franz. Das erste Wort des Alten war: „Der Herr Amtsrichter sehen übel aus, sehr übel –“

Vitus wehrte ihm mit der Hand. Was war das? Den ersten Blick richtete der Schreiber auf die Kasse, und seine Augen funkelten dabei so listig, so – war das Zufall, war es nur Einbildung? Er mußte sich zusammennehmen.

[502] „Sie hatten ihn ja bald, Strobel!“ hob er an.

„Ja, sofort; er war im ‚Raben‘.“

„Ist das der Ort, ist dort die Gesellschaft für einen Reuigen?“ herrschte Vitus den Landstreicher an.

„Ich trat nur zum Verschnaufen unten ein,“ vertheidigte sich der andere mürrisch. „Ich wollte zwei Treppen höher, wollte Herrn Assessor Tannhauser um Arbeit bitten.“

Er log, kein Spitzbube ging dem Wärwolf Tannhauser freiwillig unter die Augen. Der Amtsdiener lachte höhnisch; auch Vitus wußte, daß der Bursche die Unwahrheit sagte, doch er, der Richter, konnte dem Lügner nicht fest ins Auge sehen.

„Zum Assessor wolltest Du?“ murmelte er, erfaßte die Papierschere und legte sie wieder hin. „So? so? … ich glaube nicht, daß er – indeß, vielleicht –“

Vitus hatte dem Schreiber kräftig seine Meinung sagen, ihm mit Polizei und Gesetz drohen wollen – das war ihm nicht mehr möglich. Er brachte nur Redensarten vor, die nicht den geringsten Eindruck auf den Sünder machten. Nach einem letzten Versuch, sich zu beherrschen und seinen Worten die nöthige Festigkeit zu geben, entließ er den Franz, der ihm noch einen bösen Blick zuwarf.

Wieder allein, bedeckte Vitus Müller in tiefster Erschütterung sein Gesicht mit den Händen. „Gott! Gott!“ stöhnte er, „was habe ich gethan!“


5.

Die Unterredung zwischen Ida und dem Präsidenten fand im Speisezimmer statt, denn die Majorin Langbein wich nicht. Excellenz empfing die Gesammtsumme der Kaution und ging mit Amtsmiene die Werthpapiere durch.

„Alles in schönster Ordnung,“ meinte er. „Ich danke Ihnen.“ Damit überreichte er der Baronin den schon ausgefertigten Empfangsschein.

„Aber warum wollen Sie sich selbst bemühen, Excellenz?“

„Der kleinste Dienst, den ich Ihnen, verehrte Frau, erweisen kann, macht mir Vergnügen. Auch wissen Sie nicht, wie schwerfällig man heute noch in solchen Dingen seitens unserer Behörden ist; ich mache das morgen im Handumdrehen ab. In drei Tagen bin ich wieder zurück.“

„Gut denn, so begleiten wir Sie zum Zug.“

„Ich bitte, nein. Das würde einem Abschied ähnlich sehen und ich mache nur einen Ausflug.“ Er horchte nach der Thür. „Trotzdem die Majorin keine kräftige Stimme hat, hört man sie durch zwei Zimmer. Ich werde ihrer Neugier durch jenen Ausgang entfliehen. Entschuldigen Sie mich bei Ihren Gästen und grüßen Sie Ihre Lieben!“ Er bot ihr die Rechte und fuhr mit einem Blick auf das Paket in seiner Linken fort: „Alles Geschäftliche ist hiermit erledigt, es fehlt nur noch die Weihe des Bundes; ich wünsche mit Ihnen, daß sie bald erfolgt.“

Er sah in die blinkenden Augen Idas und küßte die Hand, die er immer noch hielt, mit etwas altfränkischer Artigkeit. „Auf Wiedersehen! – Bitte, keinen Schritt! Auf frohes Wiedersehen!“

Ida blieb im Zimmer stehen. Das wäre abgethan. Jetzt konnte man aufathmen. Und doch – warum wollte denn dieser dumpfe Druck nicht weichen? Warum nur wurde sie den Blick nicht los, mit dem Vitus ihr die Geldsumme vorhin übergeben hatte? Ach was, Vitus nimmt die Sache zu ernst. Es handelt sich um einen kleinen Betrag und einige Tage – freilich die Nummern! Nun, statt der alten trägt man einfach die neuen ein.

Schon hatte sie die Thür geöffnet, um zur Gesellschaft zurückzukehren, allein die schnarrende Stimme der Majorin aus dem dritten Zimmer machte sie stillstehen. „Ja, ja, meine liebe Verena, die Residenz ist ein gefährlicher Boden für junge Ehemänner. Die Offiziere des Regiments ‚Erbprinz‘ werden dort die erste Rolle spielen. Beiläufig: der neue Oberst ist der Vater der geistreichsten, schönsten, überall gefeierten Dame unseres Adels. Gräfin Winegg soll freilich gefallsüchtig sein, doch mir scheint das Wort nicht richtig für eine Dame, die eben des Sieges sicher ist, sobald sie will. Klopft Ihnen da das Herz nicht ein wenig, meine Süße?“

Verena war offenbar um eine Antwort verlegen, denn ein paar Sekunden lang blieb alles still. Aber da fiel Helmuth mit frischem Tone ein: „Meine Gnädige, warum soll meine Braut Herzklopfen haben? Entweder hat man in der Hauptstadt meinen Geschmack: dann wird Verena ‚die geistreichste, schönste, überall gefeierte Dame‘ sein. Oder man hat ihn nicht: um so besser für mich!“

Er sprach das mit so ruhiger Heiterkeit, mit solcher Bravheit und Wärme – man mußte ihm glauben!

Ida hätte hineineilen und dem wackeren Schwiegersohn recht wenig würdevoll und schwiegermütterlich um den Hals fallen mögen, allein plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf und hielt sie fest. Wenn Helmuth so treu zu seiner Braut stand, war dann diese hastige Abwicklung der Geldangelegenheit überhaupt nöthig gewesen, hatte sie dann nicht übereilt gehandelt? Für Vitus schien der kleine Schritt heraus aus der breitgetretenen Straße des Gesetzmäßigen doch ein ungeheures Opfer gewesen zu sein. Alle Vorgänge in der Amtsstube traten ihr vor die Seele; sie erblickte sein gutes Gesicht Zug für Zug, die Verlegenheit, das Entsetzen, den Kampf und dann die tödliche Blässe. Hatte sie recht gethan?

Mit einem entschlossenen Ruck warf sie das Haupt zurück. Das fehlte noch, daß auch sie diesen kleinlichen Bedenken Raum gab. Ein Keil treibt den andern, jetzt wird Vitus den Onkel Anton drängen, und die Sache kommt noch einmal so rasch in Ordnung. Und, sagte sie sich mit einem Erröthen, das sie um viele Jahre verjüngte, jetzt weiß ich wenigstens, wie sehr er mich liebt – und Liebe für Liebe!

Heiter trat sie ins Zimmer, wo eben die Majorin und ihre Tochter Abschied nahmen. Vitus, der müde herübergekommen war, begrüßte seine Frau mit einem gedrückten Lächeln. Als der unliebsame Besuch sich entfernt hatte, hing sich Ida vertraulich an den Arm ihres Gatten.

„Warum,“ fragte dieser, „warum hast Du die Majorin nicht zum Thee gebeten? Wie mir schien, wartete sie darauf.“

„Freilich hat sie drauf gewartet! Eben darum nicht.“

Aber da Helmuth vor dem Abgang des Zuges zu seinem Vater muß, wirst Du mit mir allein sein!"

„Und wenn ich nun am liebsten mit Dir allein bin?“

Vitus sah sie staunend an, konnte jedoch nichts erwidern, denn in diesem Augenblick näherte sich Helmuth, um von ihnen Abschied zu nehmen.

Hinter dem verfallenen Gemäuer der Burg lag ein Gärtchen mit einem gemauerten Vorsprung und einem steinernen Sitz. Dorthin begab sich das Ehepaar. Nicht wegen der Aussicht auf die Ebene und das mächtige Gebirge, obwohl die Ferne gerade heute unter der glühenden Pracht des Abendhimmels wie ein schöner Traum herüberwinkte, heute suchten sie das Lugaus einzig wegen seiner einsamen Lage auf.

Als sie auf der Steinbank nebeneinander saßen, ergriff Ida die Hand ihres Mannes und fragte: „Bist Du jetzt beruhigt?“

„Nicht beruhigt,“ antwortete er, „aber gefaßt. Ich habe über mein Leben nachgedacht, von der Knabenzeit an bis jetzt. Nach Juristenrecht ist meine Vergangenheit makellos. Nun trübt ein Augenblick die Besonnenheit, macht mich alle Grundsätze vergessen, vernichtet den Gewinn dieses ganzen Lebens – den Ruf eines ehrlichen Mannes.“

„Du übertreibst.“

„Ich übertreibe nicht. Mein Vorgesetzter ist Dir bekannt, Du warst von ihm entzückt, hast Dir sein baldiges Wiederkommen nicht aus leerer Höflichkeit, sondern in herzlichem Gefühl gewünscht. Wenn er aber jetzt durch jene Thür treten würde, müßte er Dir nicht furchtbarer sein als ein Gespenst?“

Es überlief sie kalt, doch gewann ihr nüchterner Sinn alsbald die Oberhand. Sie tröstete Vitus, daß morgen alles wieder gut gemacht sei.

„Was ich begangen, wird nie wieder gut gemacht,“ sprach er traurig. „Und trotzdem würde ich ohne diese Schuld mein Unrecht gegen Dich niemals erkannt haben. Es war ein Verrrath an Deinen dankbaren, gütigen Empfindungen für mich, ein Verrath an der Freundschaft, Dich an mein Los zu binden. Ich armer Mann, arm in jedem Sinne, durfte nicht um Dich freien.“

„Vitus, ich bin Dir böse …“

Es wühlte in ihm tiefer und tiefer. „So sind denn Abgründe in jedem Gemüthe! Ich war ruhig, fühlte mich sicher. Da borgt sich der Versucher Deine Stimme, und ich erliege –“

Sie drückte sanft seine Hand, er schaute auf. Nie war sein [503] Weib ihm so strahlend schön erschienen wie in dieser Stunde. Machte ihn die Schuld jünger und zum Schwärmer? Eine Blutwelle schoß ihm in die Schläfen und feurig rief er:

„Verzeih’ das schlimme Wort. Du hast die Allgewalt der Liebe mich kennen gelehrt, und ich liebe Dich. O, verlange nie, nie wieder ein Unrecht von mir, ich müßte es um Deinetwillen abermals begehen!“

Was Ida vorhin gedacht hatte, sprach sie jetzt aus: „Liebe für Liebe!“ Und innig küßte sie ihren Gatten. –

Wahr! wahr! Ohne ruhiges Gewissen kein ruhiger Schlaf. So sagte sich Vitus, als er in der folgenden Nacht nach einem kurzen Schlummer, der mehr eine Betäubung als ein Ausruhen war, um zwei Uhr erwachte. Zwei Uhr! Wie lang noch bis zum Tag, bis es Zeit ist, zu Onkel Anton zu gehen! Durch das offene Fenster strömte die Nachtluft herein. Der Amtsrichter stützte sich im Bette auf. Was er nie aus dieser Ferne gehört hatte, das Rauschen des Flusses, es war deutlich vernehmbar. Hochwasser! Wenn die Fluth, wie es vor Jahren einmal geschehen war, den Bahndamm unterwühlte und den regelmäßigen Verkehr störte! Onkel Anton, dem Bequemlichkeit über alles ging, der furchtsam war, würde sicherlich in den Bergen bleiben. Vitus strich sich über die Stirn, sie war feucht; auch die Nacht hatte keine Kühle gebracht. Leise kleidete er sich an und begab sich in den Bogengang. Da konnte er auf und nieder gehen und seufzen aus tiefster Brust. Doch die Sorge lastete auf ihm und das Hin und Her ermüdete ihn bald. Er nahm zwischen den Blumen Verenas Platz, und so, den Kopf in die Hand gestützt, saß er dumpf brütend, bis der Hof in bleichem Lichte lag.

Es ist Tag! Die Hähne krähen, die Sperlinge begrüßen sich laut und im Gang gegenüber kann er jetzt deutlich das Wort „Amtsgericht“ über der Thür lesen.

So viele Jahre ist er dort aus und ein gegangen, ohne an diese Aufschrift zu denken. Jetzt blickt er mit einem ähnlichen ängstlichen Ausdruck auf die Tafel wie ein schuldbewußtes oder einfältiges Bäuerlein, bevor es anklopft.

Fort!

Er hoffte, unter freiem Himmel, angesichts des erwachenden Lebens, der beginnenden Arbeit ringsum seiner Beängstigungen Herr zu werden.

Er schritt durch das Gärtchen rasch zum Lugaus, allein die Ruhebank war schon besetzt: mit dem Gesicht auf dem Arm lag dort ein Schläfer in abgetragenen Kleidern und schmutzigen Stiefeln. Auf Müllers Anruf richtete er sich auf – der Schreiber Franz! Beide erschraken, doch faßte sich der Gauner schneller als der Richter. Er raffte seinen Hut von der Erde auf, machte einen Kratzfuß und wünschte „Seiner Gnaden“ unterthänigst guten Morgen.

„Ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter,“ fuhr er fort, ohne dessen Frage abzuwarten, „ich bin seit gestern ohne Schlafstelle. Der Steig vom Schloßkeller hier herauf ist halsbrecherisch, aber meines Wissens kein verbotener Weg. Das Lager da wird mir niemand mißgönnen. Blumen sind vor uns sicher, und den alten Steinhaufen, die Burg, werd’ ich auch nicht forttragen.“

Der freche Ton brachte Vitus in Zorn. „Für Unterkunftlose ist die Polizeiwache,“ sagte er barsch. „Kommt es noch einmal vor –“

„Der Herr Amtsrichter würden an meiner Stelle ebenfalls der hölzernen Pritsche in der Wachtstube den härtesten Stein bei Mutter Grün vorziehen. Sie machen einem dort das Scheiden schwer, aus einer Nacht werden Wochen –“

„Still!“ unterbrach ihn Müller. „Merke Dir: der Weg hier herauf und hinab ist für jedermann verboten. Am Fluß sind jetzt Hände nöthig, das Hochwasser hat Schaden gethan. Sollte man Dich zurückweisen, so melde Dich bei mir – mittags in meiner Wohnung – Unglücksmensch, um Deiner ehrlichen Eltern willen, um –“ Vitus konnte vor Bewegung nicht weitersprechen; er winkte dem Burschen, ihm zu folgen, ging mit ihm über den Hof und schloß ihm selber das Burgthor auf.

Zum Lugaus kehrte der Richter nicht mehr zurück.

Kurz nach acht Uhr läutete er bei Onkel Anton an. Kathi öffnete, erröthete, knickste, bat ihn aber nicht, einzutreten, sondern theilte ihm zwischen Thür und Angel mit, daß ihr Herr mit dem Frühzug nicht angelangt sei.

„Sicherlich nicht,“ meinte sie, „denn er hat mir geschrieben. Es sind keine zehn Minuten, daß der Postbote den Brief brachte; Sie müssen ihm begegnet sein.“

Bei aller Zungenfertigkeit war sie offenbar verlegen, doch Vitus beachtete es nicht. Auf dem Herwege hatte er sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß sein Onkel mit dem Frühzug nicht zurückgefahren sei, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Gleichwohl traf ihn jetzt die Gewißheit mit der vollen Wucht der Enttäuschung.

„Schreibt der Onkel, wann er kommt?“ fragte er rauh.

Kathi wurde dunkelroth. Sie legte die Hand wie besänftigend auf den Arm des Besuchers. „Wissen Sie, Herr Amtsrichter, daß ich heute nacht kein Auge zugethan habe?“

„Ich auch nicht,“ entfuhr es Vitus unwillkürlich.

„Ich hatte nämlich ein schlechtes Gewissen – nein, nein,“ setzte sie, über den wilden Blick Müllers erschrocken, rasch hinzu, „denken Sie nichts Schlimmes! Das heißt, so gar schlimm ist’s nicht, aber freilich, wenn der Herr Amtsrichter sagen, ich hätte gestern gelogen, so ist’s beinahe die Wahrheit. Ich wußte nämlich schon gestern, daß der Herr Onkel heute nicht und morgen nicht, überhaupt so bald nicht wiederkommt.“

Vitus erblaßte bis in die Lippen.

„Wie Sie gehört haben, hatte ich gestern mit dem Herrn einen Zank. Erst wegen des Azor, dann wegen des Gartens und des Bedienten vom Herrn Lieutenant.“

„Aber Kathi, sagen Sie mir nur –“

„Alles, und heute mit voller Aufrichtigkeit. Herr Schütz und ich – Sie verstehen – mein Gott, man will doch auch einmal für den eigenen Hausstand kochen! Allein das paßt natürlich dem alten Herrn nicht. Wie er nun den Kriegerstand überhaupt und Herrn Schütz im besondern gar so heruntermachte, riß auch mir die Geduld, und ich erklärte ihm rund heraus, daß ich und Herr Schütz versprochen seien und daß wir einen Garten pachten wollten und so weiter. Aber so hab’ ich den Herrn noch nie gesehen, ganz zittrig war er vor Wuth. Doch ich blieb fest, und da verlegte er sich aufs Bitten. ‚Kathi,‘ sagt er, ‚ich gehe auf vierzehn Tage ins Gebirge. Kommen Sie zur Vernunft –‘ ‚Ich bin bei Vernunft.‘ ‚Sie finden landaus landein keinen solchen Herrn.‘ ‚Und der Herr keine solche Köchin!‘ Und da – denken Sie, die Beleidigung! – sperrte er außer der Küche und meiner Kammer alle Zimmer ab und machte sich auf und davon. ‚In vierzehn Tagen,‘ das war sein letztes Wort, ‚in vierzehn Tagen reden wir weiter!‘“

„Und das verschwiegen Sie mir gestern?“

Kathi lächelte mehr pfiffig als verschämt.

„Ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter, die junge Männerwelt von heute, und nun gar zweierlei Tuch –! Wenn Herr Schütz gehört hätte, daß es Ernst wird – nichts Gewisses weiß man nicht. Vielleicht, dachte ich, will er Dich nicht und Du mußt in vierzehn Tagen doch wieder mit Dir reden lassen. Ich that jedoch meinem Bräutigam unrecht, er war abends bei mir und Feuer und Flamme – und kurzum, im September wird er frei, und unterdessen pachte ich den Schmiedgarten. Der Herr Amtsrichter kennen ja den Schmiedgarten –“

„Aber was soll mir der Schmiedgarten! Sagen Sie mir endlich, was der Onkel schreibt!“

Kathi griff in die Tasche. „Jesus!“ rief sie, „ich ließ den Brief in der Küche liegen. Aber ich weiß ihn auswendig. Der Herr schreibt gestern abend aus dem ‚Rappen‘ in Steinberg – Steinberg, Sie wissen, die dritte Station nach Hohenwart – schreibt, daß er sich besonnen habe und daß ich seinen Dienst sofort verlassen könne. Und ich soll mir vom Herrn Amtsrichter einen Vierteljahrslohn auszahlen lassen und dem Herrn Amtsrichter den Schlüssel zu Haus und Garten übergeben. Nobel ist das nicht, doch mir ist’s recht. Halt, da hab’ ich ja den Brief! Lesen Sie selbst, ich und der Herr haben keine Geheimnisse. Und richtig – da steht noch etwas für Sie.“

Das Schreiben, das der Richter mit einem Blick überflog, war offenbar in Wuth hingekritzelt, kurz, aber grob. In einer Nachschrift war die Bemerkung angefügt: „Sagen Sie dem Herrn Vetter Amtsrichter, über das Bewußte reden wir nach meiner Rückkehr nächste Woche weiter.“

„Es ist gut,“ versetzte Vitus, indem er ihr den Brief wiedergab. „Kommen Sie zwischen zwei und drei Uhr in meine Wohnung – Sie brauchen mich nicht zu begleiten,“ wehrte er ab und sah [504] sich mit einem schwachen Lächeln nach dem Garten um. „Es ist so hübsch hier, ich werde mich ein paar Minuten in die Laube setzen.“

Dort sank er vernichtet auf die Bank.

„Das sieht ihm ähnlich,“ klagte er, „das sieht ihm ähnlich!“

Allein sofort nahm er den Onkel vor sich selbst in Schutz. Konnte dieser wissen, wie es seinem Neffen unter den Nägeln brannte? ahnen, daß „der Herr Vetter Amtsrichter“ –

Er wischte den Schweiß von der Stirn.

Mit matten Augen blickte er auf die Blumenpracht vor der Laube, und das Wort des Schreibers fiel ihm ein: „Blumen sind vor uns sicher.“

Vor Vitus tauchte das fahle Gesicht des Verbrechers auf, sein geschorenes Haar – „Sammetkopf“ heißt man es in der Gaunersprache – und er fühlte die Lumpen des entlassenen Sträflings auf seinen Schultern.


6.

Es kam nicht, wie der Richter erwartet hatte; gerade in der gefürchteten Amtsstube fand er wieder Ruhe und Entschlossenheit. Er eins mit dem achtmal bestraften Schreiber? Zum Lachen! Am Ende auch eins mit dem „Pfannen-Gide“! Er warf den Kopf in den Nacken. Außer Ida und ihm selbst wird in alle Ewigkeit niemand um sein Vergehen wissen; er selbst ist sein Richter in dieser Sache und erkennt auf „Nichtschuldig“, denn die verbrecherische Absicht hat gefehlt.

„Strobel!“

Der Amtsschreiber in der Nebenstube, über den ungewohnt herrischen Ton erschrocken, stolperte eilig herein.

Vitus erzählte ihm seine Begegnung mit dem Schreiber. Der Garten dürfe kein Schlupf für allerlei Gesindel werden, man müsse deshalb den Steig vom Schloß zum Lugaus unbegehbar machen, heute noch.

Strobel kraute sich hinterm Ohr. Sein Gewissen war in dieser Sache nicht rein. Wie Ida ahnte, benutzte er zuweilen die Hinterthür und den Weg durch die Wildniß zu einem letzten Abstieg in den Schloßkeller, wo es im Bräustübchen immer eine gemüthliche Gesellschaft ohne Polizeistunde gab.

„Herr Amtsrichter,“ erwiderte er, „heute wird’s schwer fallen, Arbeiter zu finden, alle Hände sind am Fluß nöthig. Der steigt und steigt. Ich war heute früh in den Auen, greulich! Die niedrigeren Stege sind schon alle unter Wasser. Das Fährhaus ist eine wahre Arche Noäh. Natürlich, bei einer solchen Hitz’ müssen ja die ältesten Gletscher schmelzen.“

Die andauernde Hitze! Alle mit Ausnahme des Richters schienen unter ihr zu leiden. Sogar der gefürchtete Doctor juris Taxenbichler, der Rechtsanwalt, war weniger redselig und einwandreich als gewöhnlich. Sämmtliche Vorgeladenen trafen in Schweiß gebadet ein und waren kleinlaut und merkwürdig versöhnlich. Die Verhandlung in einer Scheidungssache mußte vertagt werden, weil weder „er“ noch „sie“ sich einstellte, denn sie wohnten auf dem jenseitigen Ufer. Die Abwesenheit eines Zeugen wurde ebenso triftig wie traurig damit entschuldigt, daß den Mann gestern der Schlag gerührt habe.

Vitus Müller legte im Gegensatz zu allen andern eine außerordentliche Arheitsgewandtheit und Arbeitsfreude an den Tag. Er gedachte, alles Dringliche am Morgen zu erledigen, um mit dem Zuge um zwei Uhr nach Steinberg fahren zu können. Der „Rappe“ in Steinberg war ein vortreflliches Gasthaus mit weitberühmter Küche und deshalb wohl von nachhaltiger Anziehungskraft für den Onkel Anton. Nach aller Wahrscheinlichkeit war also dieser noch in Steinberg. Was wird er ihm sagen? Die Wahrheit! Und wenn das Herz des Geldmannes von einem ehernen Ring umschlossen wäre, dieses Geständniß müßte selbst das Erz sprengen!

Endlich schlossen die Verhandlungen, und das Gerichtszimmer leerte sich. Als Vitus allein war, verwahrte er vorsichtig wie vor einer langen Reise alle Schriftstücke in seinem Schreibtische, zuletzt die eiserne Kasse in einem alten eichenen Schrank. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit wie alle Tage seiner langen Dienstzeit sperrte er die Eingangsthür ab und drückte zur Probe nochmals auf die Klinke. Dabei überlegte er bereits die morgende Tagesordnung. Alles gut, er kann reisen! Und während der hundert Schritte in seine Wohnung machte er schon den Weg nach Steinberg. Aus dem Brodem des Bahnhofes ins heiße Freie, stromauf durch Wiesengründe in die Berge. Er sah die wohlbekannte laubumrankte Wartehalle von Steinberg, im Hintergrunde das Dorf, den schlanken spitzen Kirchthurm und die verwitterten Felsenwände. Dicht bei der Kirche steht der Gasthof „Zum Rappen“ …

Ida eilte dem Gemahl entgegen und riß ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte eine große weiße Schürze um. „Kommt Helmuth zu Tisch?“ fragte Vitus, der sich diesen Aufzug nicht anders erklären konnte.

„Nein, Helmuths Kameraden sind von ihrem Ausflug zurück und haben ihn zu einem Besuch bei Landraths gepreßt; einer von ihnen ist ein Neffe der Frau von Zorn. Helmuth wollte nicht mit, da stürmten sie mir ins Haus, und Verena und ich mußten ihn zwingen. Habt ihr denn den Höllenlärm, den die Jungens machten, nicht bis hinüber gehört?“

„Zum Landrath?“ wiederholte Vitus zerstreut. „Ein weiter Weg und immer in der Sonne.“

„Ach was, dafür sind sie Soldaten! Sie haben’s nicht heißer als ich in der Küche.“

„Aber warum bist Du in der Küche?“

„Was treibt den Weidmann in den Wald?“ sang sie – nur drei Takte, doch das Wenige falsch. „Du bekommst heute Dein Leibgericht.“

„Wie liebenswürdig Du bist! Indessen –“ setzte er hinzu, in der Erinnerung an die letzte Küchenüberraschung, die durchaus nicht fertig werden wollte, „ich mache Dich darauf aufmerksam, daß ich um zwei zur Bahn muß.“

„Amtlich?“

Sie waren in die Wohnstube getreten. „Verena?“ fragte der Richter mit einem bezeichnenden Blick.

„In der Küche. Niemand hört uns.“

Dennoch dämpfte er seine Stimme. „Onkel Anton kommt heute nicht, sondern erst in vierzehn Tagen. So fahre ich ihm nach.“

„Bravo! Dürfen wir mit?“

„Meine liebe Ida, es gilt eine traurige Fahrt und es ist klüger, wenn ich allein reise. So Gott will, kehre ich mit dem nächsten Zug zurück.“

„Bitte, bitte, nicht finster werden! Wer verzagt, der verliert. Wenn der Onkel nicht hilft, schaffe ich Rath. Der Bürgermeister ist mein Freund; ich wäre nicht die erste Frau, die heimliche Schulden hat!“

„Das niemals! niemals!“ rief er leidenschaftlich. „Du solltest – was fällt Dir ein! Lieber machen wir all unser Hab und Gut zu Gelde! – Du glaubst also, daß ich vergeblich nach Steinberg gehe?“

„Wie Du meine Worte verkehrst! Natürlich hilft der Onkel, wenn Du ihm bestimmt entgegentrittst. Lehre mich die Gevattern kennen! Aber jetzt verzeih’, weder Verena noch die Köchin dürfen Hand anlegen –“

Und fort war sie. Vitus grübelte über ihren Vorschlag nach. Der Bürgermeister, ein reicher Mann, rauh, doch gutherzig – der Bürgermeister würde dem Amtsrichter keinen abschlägigen Bescheid geben, und mit Verenas Heirath ließe sich der Schritt erklären. Indessen, Ida galt bisher als reich. Wenn der Bittgang ruchbar wurde – und was bliebe in Hohenwart geheim! – zuckte man nicht über ihn, sondern über die „Frau Baronin“ die Schulter. Einmal im Lästermund, blieb sie es immer – Still! noch war der nächste Schritt ungethan. Sein Blick fiel auf das Bild seiner verstorbenen Mutter. Wenn die Abgeschiedenen von unseren Schmerzen wissen – arme Mutter! Er betrachtete das gutmüthige Gesicht. Ihr Bruder Anton hat keinen Zug von ihr, mußte er denken. Aber die Blutsgemeinschaft ist wichtiger als Aehnlichkeit.

Mutter und Tochter kamen und hingen sich an ihn.

In dieser holden Nähe, beim Klang der lieben Stimmen empfand der Richter nur noch den Willen zum Leben. Je wärmer ihm das Herz wurde, desto leichter dünkte ihn seine Schuld. Die Reue blickt rückwärts, sie ist nicht fruchtbarer als Müßiggang; schaff’ das Geld und dann vergiß! Und wenn das Gestern wirklich seine fünfzehnjährigen guten Dienste zu nichte gemacht hätte, seine Zukunft soll es nicht verwirren! Er fühlt [506] sich gesund und rüstig; er schaut auf sein Weib, das er niemals wärmer liebte als jetzt, schaut auf die glückliche Braut und sagt sich: die frohere Hälfte des Lebens steht noch vor dir.

Als Ida in die Küche ging, um ihr Werk selbst aufzutragen, harrte er der Festschüssel mit gleicher Ungeduld und ebenso viel Vergnügen wie in seinen unschuldigsten Tagen.

Ida kehrte ohne Mehlspeise, dafür mit einem Briefe zurück, der durch seinen großen Umschlag und durch das mächtige Siegel einen wichtigen Inhalt versprach.

Und allerdings war er wichtig! Ida las über die Schulter ihres Mannes mit diesem, aber laut die Mittheilung des Ministeriums der Justiz, daß er zum Stadtrichter erster Klasse in der Haupt- und Residenzstadt befördert sei, seinem Nachfolger in Hohenwart, dem bisherigen Amtsgerichtsassessor Thomas Tannhauser dort sämmtliche Gerichtssachen zu übergeben und innerhalb acht Tagen sein neues Amt anzutreten habe. Das alles war im Kanzleistil, gedrängt, dennoch schwerfällig gesagt.

Stadtrichter – erster Klasse!

Verena flog zu ihm hin. „O Papa!“ jubelte sie, „ich wußte es schon gestern. Tausend, tausend –“

Sein hohler Blick ließ sie verstummen.

„Schon gestern – schon gestern,“ wiederholte Vitus und lachte, allein seine Empfindungen und Gedanken hatten nichts gemein mit diesem Gelächter.

„Aber,“ fragte Verena betroffen, „freut Dich denn die Nachricht nicht?“

[517] Ida, welche die Hand auf ihres Mannes Schulter hatte und die Wirkung der unerwarteten Beförderung zum Stadtrichter auf ihn noch nicht so recht begriff, drehte den Kopf nach der Thür. Die Kleine, welche im Hause Müller Küchenmagd, Kammerjungfer, Mädchen für alles war, trat ein. Sie trug ein weißes Häubchen und eine Schürze, die ihr sowohl zu weit wie zu lang war. Die Augen ängstlich auf ihre Gebieterin gerichtet, meldete sie, daß der Herr Amtsdiener weiterer Befehle harre und daß der Herr Amtsdiener sagen lasse, Herr Tannhauser werde sich um drei Uhr die Ehre geben, den Herrn Stadtrichter zu beglückwünschen. Ida schickte ihre Tochter hinaus, um den Ueberbringer der Nachricht zur Feier des Tags mit einer Erfrischung zu belohnen. Dann wandte [518] sie sich an Vitus: „Mein Lieber, Guter, nimm ’s nicht so schwer! Ich begreife Dich nicht!“

Er entfernte die Hände vom Gesicht, und sie erschrak.

„Vor wenigen Minuten noch,“ begann er leise, „vor wenigen Minuten redete ich mir ein, alles werde sich zum besten wenden. Als ich den Brief empfing, ahnte ich den Inhalt, aber nicht das volle Unheil; als ich den Namen meines Nachfolgers sah, wußte ich mein Schicksal.“

Ida zuckte die Schultern. „Tannhauser! Der oder ein anderer, das ist doch gleichgültig. Du hast volle acht Tage –“

„Nicht acht Stunden!“ fiel er ein. „Wenn ich nicht zu harmlos wäre, um Feinde zu haben, würde ich glauben, ein Feind habe mich im Verdacht und schicke mir nun Tannhauser auf den Nacken.“

Ida hob den Brief auf und las ihn nochmals, Wort für Wort. Und jetzt verstand sie ihren Gemahl: er mußte alles seinem Nachfolger übergeben und dieser konnte sein Amt sofort antreten.

Sie schritt einige Male auf und ab, dann sagte sie entschlossen: „Ich werde dem Assessor mittheilen lassen, daß Du heute außer stande bist, ihn zu empfangen, und daß er selbst sich schonen und nach Bequemlichkeit in den nächsten Tagen erst die Uebernahme vollziehen soll.“

„Und wenn er sterbenskrank wäre, würde er heute aufstehen, um sich die Amtsgeschäfte überweisen zu lassen. Wenn er Bücher und Aken einsehen will, muß ich sie vorlegen; eine Ausflucht und ich bin verdächtig, werde überwacht und ausgeforscht von diesem fürchterlichen Menschen. Schon als Referendar erhielt er den Uebernamen ‚der Korkzieher‘. Unfehlbar kommt er auf die Wahrheit, ich bin ihm nicht gewachsen.“

„Aber ich!“ rief Ida und ihre Augen blitzten.

Der Richter schüttelte traurig den Kopf. „Der Stein ist im Rollen. Wenn wir Tannhauser heute hinhalten, holt er mich morgen früh aus dem Bett, vorläufig aus Amtseifer.“

Ida dachte nach. „Verena oder ich müssen nach Steinberg fahren!“

Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihren Mann, erstarb indessen sofort wieder.

„Was kann das helfen! Selbst wenn Ihr Erfolg hättet und die Summe in gültigen Papieren bringen würdet – ach! vergiß nicht die Nummern, die unseligen Nummern! Die Luchsaugen Tannhausers werden den Fehler im Nu entdecken, und da er immer das Schlimme voraussetzt und ihm mein Lebensglück nicht mehr gilt als eine taube Nuß, wird er so lange spüren und forschen, bis er meine Schuld nachgewiesen hat. Das Geld ist wohl vorhanden, meine Ehre dennoch dahin!“

Er richtete sich mühsam auf. „Ida,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „mache Dich auf die Wahrheit gefaßt: ich bin verloren!“

Sie fielen einander in die Arme, und Ida, über den Umfang des Unglücks nicht mehr im Zweifel, brach in Thränen aus. – –

Verena fand nur noch die Mutter im Eßzimmer.

„Leise!“ Die Richterin deutete auf die Thür ins Nebenzimmer.

„Schläft Papa?“

„Er versucht’s. Die Nachricht hat ihn angegriffen.“

Verena blickte nachdenklich drein. „Ich mache mir jetzt Vorwürfe, daß ich Helmuth zu schweigen gelobte. Es würde besser gewesen sein, Papa auf das Ereigniß vorzubereiten.“

„Ach, freilich wär’s besser gewesen, unendlich besser!“

Das Mädchen schmiegte sich an die Mutter. „Weißt Du, ich begreife Papas Erschütterung vollkommen. Wenn ich früh morgens dem Tag die Fenster öffne, dann ist mir jedes Mal, als müßte ich rufen: Du liebe, schöne Heimath du! Und Papa ist so viele Jahre hier. Wenn er aus dem Fenster schaut, kann er sich sagen: Von der Burg bis zu den Bergen ist kein Haus und keine Hütte, in der ich nicht gekannt bin. Gekannt und geliebt. Der alte Strobel hatte vorhin Thränen in den Augen. ‚Einen Mann wie den,‘ meinte er, ‚kriegt Hohenwart in alle Ewigkeit nicht mehr! Und nun wird der Herr Tannhauser Amtsrichter. Eifrig ist der ja auch; wenn ich nicht gesagt hätte, daß die hohe Familie auf dem Schloß jetzt bei Tisch sitze, wäre er im Schlafrock heraufgelaufen! Eifrig ist auch er, aber – aber!‘ Ach, Mama, wir hätten nicht fortverlangen und Hohenwart und die treuen Freunde hier nie verlassen sollen!“

„Und Helmuth und Du?!“ – Verena schwieg betroffen. – „Für uns Alte freilich – aber ich hab’ es gewollt, und geschehene Dinge, Kind, sind leider, leider nicht ungeschehen zu machen.“ Und seufzend begab sich Frau Ida ins Nebenzimmer, um nach ihrem Manne zu sehen.

*               *
*

Der neue Amtsrichter wurde zu seiner Enttäuschung nicht vom Hausherrn, sondern von den Damen empfangen. Er war zwar sonst für die Lieblichkeit Verenas nicht unempfindlich, allein an jenem Nachmittag war er sich selbst genug. Das Hohenwarter Amtsgericht war die Welt, und er brannte vor Eifer, die Welt zu regieren. Die Unterhaltung mit den Damen verzögerte diesen großen Augenblick.

Er hatte das Gesicht verbunden, sein Scheitelhaar sträubte sich hinter der schwarzen Seide widerborstig empor. Obgleich er in seine Mienen sanfte Trauer legte, trat er doch ungleich zuversichtlicher auf als früher; er war ja des Hausherrn Nachfolger in Amt und Würden und – in der Wohnung.

Ida entschuldigte die Abwesenheit ihres Gatten; die Nachricht, die völlig unerwartet gekommen sei, habe ihn tief erschüttert.

„Frau Baronin,“ betheuerte Tannhauser, „auch mich; unerwartet und tief. Der Weggang Ihres Herrn Gemahls ist für uns ein großer, beinahe möchte ich sagen, unersetzlicher Verlust. Mein einziger Trost ist, daß der Mann, der in die Lücke tritt, sein leuchtendes Beispiel vor Augen hatte. Ich kann die Frau Baronin versichern, daß der neue Amtsrichter die Ueberlieferung hochhalten wird.“

„Wir übergeben Ihnen die Wohnung im besten Zustande,“ entgegnete die Richterin trocken. „Ein gemütliches Heim. Heute ist es allerdings auch hier oben heiß.“

Tannhauser benutzte die Gelegenheit, um neugierig um sich zu blicken. „Herrschaftlich. Uebrigens würde mir die Hälfte, was sag’ ich, ein Drittel, eine Ecke zum Schlafen genügen. Mein wahres Daheim liegt drüben. – Hoffentlich wird mein verehrter Herr Vorgänger heute noch sichtbar sein?“

„Hoffentlich!“ wiederholte Ida frostig und richtete sich kerzengerade auf. „Doch nahm ich ihm bereits das Versprechen ab, heute kein Wort mehr von Geschäften zu reden, sondern sich uns zu widmen. Und auch Sie bedürfen ja der Schonung. Oder sind Sie nicht mehr leidend?“

„Sehr, aber die Pflicht –“

„Bester Herr Amtsrichter, mein Mann denkt über Pflicht und Dienst so streng wie Sie; allein es giebt gewisse Rücksichten. Ich würde diese Hast, das Alte loszuwerden, tadelnswerth finden. Das Ereigniß bildet einen Wendepunkt in Ihrem wie in unserem Leben, freuen wir uns mit Würde!“

Tannhauser fühlte sich unbehaglich, Verena nahm sich des Verlegenen an. „Herr Tannhauser,“ fragte sie, „was werden Sie denn mit Ihrer neuen Wohnung anfangen, wenn Sie selbst so wenig davon brauchen?“

„O, ich werde Mutter und Schwester zu mir nehmen – sie wohnten seither in Altkirchen – Dorf mit fünfhundert Einwohnern, mein Geburtsort. Unsere Verhältnisse sind sehr bescheiden; mein Vater war Dorfschulmeister, und als er starb, war ich noch so klein.“ Er hielt die Hand etwa einen Fuß hoch über die Erde. „Trotzdem machte es die Mutter möglich, daß ich das Gymnasium besuchen konnte. Auf der Hochschule half ich mir selbst, hart, aber dennoch. Und so – und jetzt – jetzt kann ich Mutter und Schwester bei mir haben. Meine Mutter ist hoch in den Sechzigen, die Schwester auch nicht mehr jung, doch brav, sehr brav. Und insofern freut es mich, daß die Wohnung hübsch und geräumig ist.“

Das war der griesgrämige häßliche Tannhauser von vorhin nicht mehr. Er sah frischer aus, und mit eins wurde es ihm behaglich. Als ihm Verena den Hut aus der Hand nahm, hatte er nichts dagegen einzuwenden, sondern setzte sich tiefer in den Sessel und musterte nunmehr mit Muße das Zimmer. „Herrschaftlich! wie gesagt, herrschaftlich! … So kann ich mich nicht einrichten, das ist klar. Immerhin, da Mutter und Schwester zur Schwärmerei geneigt sind, werden sie hier oben wie im siebenten Himmel wohnen. Eine Ritterburg, wo vor so und soviel hundert [519] Jahren vielleicht auch eine Tannhauserin aus dem Fenster schaute; allerlei große und kleine Schränke in der Wand, Erker für die Nähmaschine mit Blick aufs Gebirge –“

„Einen Vorschlag, bester Herr Amtsrichter!“ unterbrach Ida seinen Redefluß. „Wir gehen in den Kurgarten. Wenn mein Mann nachkommt, um so besser, wenn nicht, müssen Sie mit unserer Gesellschaft vorlieb nehmen. O, wir werden uns schon unterhalten!“

„Wir werden uns herrlich unterhalten! Wenn die Damen gern Gefrorenes essen – am Eingang zum Kurgarten hängt ein Riesenzettel: ‚Heute Gefrorenes!‘ Allein die Damen müssen meine Gäste sein!“

„Angenommen beim Gefrorenen, nachher – –“

„Frau Baronin, wer heute früh so leidend war und nachmittags so gesund und vergnügt wird wie ich, ist der Schuldner der Götter und Göttinnen!“

Wenn das keine feine Wendung war! Fort alle Schüchternheit, fort der Zahnschmerz! Und –

„Herr Amtsrichter, wenn’s gefällig ist –“

„Frau Baronin, zu Befehl!“

Während des Ganges von der Burg zum Kurhaus überlegte Tannhauser als ein „Mann von Welt“, wie er sich heute wohlgefällig nannte, ob es schicklich sei, der Baronin den Arm zu reichen, aber man war im Kurgarten, bevor er mit der Frage im Reinen war. In der Sommerlaube hinterm Kurhause war es schattig und, da rings auf den Rasenplätzen Wasserkünste spielten, sehr angenehm und frisch. So gab es denn zahlreiche Gesellschaft, außer den Fremden Hohenwarter Damen die Fülle.

Wie ein Drache aus der Höhle schoß die Majorin auf die Ankömmlinge los, die unschlüssig dastanden. Doch lag ihr feindliche Absicht fern, sie brachte nur Tannhauser ihren Glückwunsch dar. Im Nu war der Würdevolle von mehr als einem Dutzend alter und junger Frauen und Jungfrauen umringt und hörte seinen neuen Titel von Sopran- und Altstimmen wie vieltöniges Festgeläut. Auch Ida und ihre Tochter wurden beglückwünscht; diese Glocken indessen hatten dumpfen Klang; für die Hohenwarter trat die Richterin schon mit einem Fuß ins Grab, binnen kurzem wird sie zu den Toten zählen – Thomas Tannhauser, der Bleibende, er ist der Löwe des Tages!

Nichts lernt man leichter ertragen, als Auszeichnung. Nach einem Stündchen schien es Tannhauser, als sei er zeitlebens ein verhätscheltes Sonntagskind gewesen. Er wurde geschwätzig, wurde von dem Ehrgeiz erfaßt, sich reden zu hören und gehört zu werden. In seinem Uebermuth nahm er die Schmerzensbinde ab und gebrauchte sie als Fächer. Der neue Stadtrichter kam nicht, allein der neue Amtsrichter war deshalb durchaus nicht böse. Sein eigener funkelnagelneuer Glanz würde durch das Erscheinen einer Nebensonne doch verlieren. Und er fühlte sich als Alleinherrscher so wohl! Frau und Fräulein Langbein hatten ihn ganz mit Beschlag belegt und suchten ihn mit hundert Liebenswürdigkeiten zu gewinnen, denn auch der Referendar war vorgerückt und der Nachfolger Tannhausers geworden; den Vorgesetzten unserer Freunde zum Freund zu haben, ist unter allen Umständen staatsklug und ersprießlich.

Je wohler es dem Gefeierten in der lauten Tafelrunde wurde, desto unbehaglicher fühlte sich bei der lärmenden Unterhaltung die Richterin. Wie hatte sie jemals an diesem Klatsch, an diesem Gelächter ohne Grund und Ende Gefallen finden können! Hatten diese Frauen denn keine Sorgen? Ihr unglücklicher Mann saß für sie mit an der Tafel wie Bankos Geist in Makbeths Schloß, saß da mit dem bleichen, kummervollen Gesicht … Ist denn keine Hilfe? Oft kommt die Rede auf Geld. Die Notarin erzählt von der großen Mitgift, die der Einödbauer seiner Tochter in die Ehe giebt; die Apothekerin hat eine reiche Tante beerbt, und Tannhauser sagt, daß der Rabenwirth seiner Höhle überdrüssig sei, alle Nachbarhäuser kaufe und großartige Um- und Neubauten plane. Die Zwanzig-, Fünfzig-, Hunderttausende schwirren durch die Luft. Welche Mienen würden diese Damen machen, wenn sie wüßten, welch geringe Summe die Familie Müller in Sorgen und Verzweiflung gestürzt hat.

Was thut Vitus jetzt? Zum ersten Male möchte Ida aus der Gesellschaft weg in die Einsamkeit, zum ersten Mal empfindet sie Sehnsucht nach dem Alleinsein mit ihrem Mann, brennende unbezwingliche Sehnsucht. Sie brach plötzlich aus und verbat sich jede, vor allem Tannhausers Begleitung. Der war es ganz zufrieden, seinen Festtag fortsetzen zu können, und so traten Mutter und Tochter ihren einsamen Heimweg an.

„Die Frau Baronin war ja heute ganz Baronin,“ flüsterte die Apothekerin der Frau Langbein zu.

„Mein Gott, als ob man nicht wüßte, wie alt diese adelige Würde ist!“ antwortete diese. „Uebrigens können wir mit dem Tausch einverstanden sein!“ setzte sie lauter hinzu.

„Ich hielt ihn bisher für einen Wärwolf,“ zischelte die andere.

Die Majorin wackelte mit dem Kopf, daß die Mohnblumen und Kornähren an ihrem Hute zitternd raschelten. „Meine Liebe, so lang man unter den Scheffel gestellt wird, kann man nicht leuchten! – Herr Amtsrichter, der Major wird sich unendlich freuen – –“

Frau Ida stieg schweigend am Arm ihrer Tochter bergan. Endlich unterbrach Verena die Stille und sagte mit einem ängstlichen Blicke nach den Wolken, die sich drohend am Himmel zusammengezogen hatten:

„Wenn Helmuth ins Gewitter käme –“

„Würde er naß,“ fiel ihr Ida rauh ins Wort. „Weun es sonst kein Unglück gäbe!“

Das Mädchen ging eingeschüchtert neben der Mutter her. Im Schatten der Bäume am Weg erschien Idas Gesicht schreckhaft bleich. Oder war’s nicht vom Zwielicht? Ihre dunklen Brauen waren düster zusammengezogen. Ein böser Tag, und Verena hatte so hohe Erwartungen von ihm gehegt!

Im Schloßhofe ließ Ida den Arm ihrer Tochter jählings los und flog voraus, die Treppe hinan. Die kleine Dienerin, welche, die Ellbogen auf die Kniee, den Kopf auf die Fäuste gestützt, schläfrig auf der obersten Stufe saß, war im Augenblick empor und munter. „Der Herr – ? Der Herr ist zu Hause!“

Stürmisch umarmte Ida den Gatten. „Du kommst zu früh,“ sagte er düster.

„Sprich nicht so!“ schrie sie, Thränen liefen ihr über die Wangen. „Gott sei gedankt, daß ich nicht zu spät komme!“

Als Ida gefaßter war, erzählte ihr der Richter, er habe nach Steinberg telegraphiert, daß er versetzt und befördert worden sei. Wenn der Onkel seine Rückkehr nicht beschleunige, treffe er den Neffen nicht mehr in Hohenwart an.

„O das ist gut!“ rief Ida, „daraufhin muß und wird er sich beeilen.“

„Zu spät.“

Das Wort klang nicht weniger schrecklich, weil er es gelassen aussprach.

Idas Nerven, ihre stählernen Nerven waren erschüttert. Jetzt hatte sie die Furcht vor dem Nachfolger. Wenn Tannhauser doch noch erscheinen würde –

„Mag er kommen,“ versetzte der Richter, „heute ist und bleibt das Amt geschlossen. Aber morgen, morgen Schlag acht Uhr ist er da. Wie ich ihn kenne, wird er sein heutiges Vergnügen morgen betrauern. Wehe dann dem Schuldbewußten! Er wittert ihn wie der Schweißhund das angeschossene Wild. Ich bin verloren!“ – –

Verena war in Sorge um ihren Verlobten. Der Weg vom Zornschen Gut zur Stadt läuft durch Felder nahe am Fluß hin – und sie hatte heute nachmittag soviel von den Schrecken des Hochwassers gehört. Die Düsterkeit der Wohnung machte sie beklommen. Sie eilte nach dem Lugaus, aber der weitere Umblick von dort beruhigte sie nicht. In brütender Stille und fahlem Lichte lag die Landschaft da. Am Himmel wälzten sich auf grauem Grunde schwärzliche und weißschimmernde und rostgelbe Wolken; der Wind hatte sich erhoben und wirbelte stoßweise den Staub empor. Doch kein Tropfen fiel. Ein Schauer überlief das einsame Mädchen, eine unfaßbare Angst beengte ihr den Athem. „Ein böser Tag!“ sagte sie bei sich, „wie wird er zu Ende gehen?“

Mittlerweile war es dunkel geworden, und der Gedanke an ihre Eltern bewog Verena, ins Haus zurückzukehren. Im Wohnzimmer, wo die Hängelampe einen freundlichen Schein verbreitete, traf sie die Gesuchten. Auf dem Tisch, zwischen Büchern und Zeitschriften, prangte ein Blumenstrauß; bequeme Lehnsessel luden zur Rast ein. Allein der traute Anblick gab den Dreien kein Behagen. Verena las, um abzulenken, aus der Zeitung vor. [520] Idas Augen folgten dem Gemahl, der ruhelos auf und ab schritt; beider Gedanken waren nicht beim Vortrag. Die Leserin selbst wußte kaum, was sie ihren Hörern bot, sie machte lange Pausen, während welcher sie lauschte.

Der Wind ward Sturm; in die Glocken der Stadtkirche greifend, meldete er sich selbst an und stürzte sich heulend gegen die Burg. Die Läden im Wohnzimmer klapperten, ein offenes Fenster im Nebenraum ging in Scherben. Vitus eilte, es zu schließen und die Läden vorzulegen; er dachte an das Hochwasser und horchte hinaus, durch das Pfeifen und Heulen des Orkans klang es wie Wogenrauschen.

„Wird das Gewitter zum Ausbruch kommen?“ fragte Verena den Zurückkehrenden.

„Mehr als eins,“ erwiderte Ida statt des Angeredeten mit einem Anflug wilder Laune, „aber keines will den Anfang machen. Ich kann das lange Fackeln nicht leiden. Bald zehn Uhr! Helmuth kommt nicht mehr. Willst Du nicht schlafen gehen?“

Ein Donnerschlag ersparte Verena die Antwort. Das Unwetter „fackelte“ nicht mehr.

Nach einer Schreckensnacht voller Gewitter, die wie das wilde Heer die Burg umtobten, schlief das Ehepaar erst gegen Morgen ein. Als sie ins Wohnzimmer traten, lag ein wunderbar blauer Himmel vor den Fenstern. Aber für sie war der Tag kein Freund.

Die Magd brachte den Kaffee, ihr auf dem Fuße folgte der alte Amtsdiener, er sah blaß und verstört aus. „Frau – Herr – Herr Amtsrichter!“ stammelte er, „es ist – man hat – die Thüren drüben stehen sperrangelweit auf, die Schränke sind aufgebrochen. Kommen Sie, sehen Sie – –“

„Bleib!“ sagte der Richter zu Ida.

Nach wenigen Minuten kehrte Strobel allein zurück. Der Herr lasse der gnädigen Frau mittheilen, daß nachts im Amtsgericht eingebrochen und die Kasse mit den Mündelgeldern gestohlen worden sei. Eben sei Herr Tannhauser eingetroffen, schloß er seinen Bericht, und er müsse gleich wieder hinüber.

Sobald Ida allein war, sank sie in die Kniee, streckte die Arme gen Himmel und rief aus befreiter Seele: „Gerettet!“


7.

Inzwischen war Tannhauser in die Amtsstube des Gerichts eingetreten, nachdem er jede Thür untersucht und betastet hatte. „Wie ich erwartete,“ hatte er wohlgefällig gebrummt, „mit Gewalt, dennoch mit Geschick – Schlosserarbeit!“

Vitus Müller saß unweit des aufgesprengten Eichenschrankes, von der jähen – durfte er sagen: glücklichen? – Wendung betäubt. „Guten Morgen, Herr Stadtrichter!“ redete ihn der Nachfolger an, indem er ihm mit ungewöhnlichem Freimuth die Hand bot. „Vor allem meinen Glückwunsch!“

„Wozu?“ fragte Vitus mit schwacher Stimme. „Zu diesem Abgang?“

„Auch dazu. Für Sie ist das Ereigniß eine Art Rechtfertigung. Ich bezeuge, daß Sie wiederholt an maßgebender Stelle auf die Nachtheile und Schäden der alten Burg als Amtsgebäude aufmerksam gemacht, daß Sie vergebens auf Vorsichtsmaßregeln und Aenderungen gedrungen haben. Sie brauchen sich nichts vorzuwerfen. So mußte es kommen.“ Er warf den Kopf zurück, steckte die Hände in die Taschen und durchmaß das Zimmer, jetzt sein Gebiet. „Um dem Heren Kollegen vorläufig in Kürze die Ergebnisse meines Eingreifens mitzutheilen –“

Dieser Hinweis auf eine schon vorgenommene Untersuchung traf Vitus wie ein Schlag. Was mochte zu Tage gefördert worden sein? „Wenn auch Ihr neues Amt Sie zu solchem Vorgehen ermächtigt,“ fiel er Tannhauser ins Wort, „so würde es doch freundschaftlich gewesen sein, mich beizuziehen.“

Tannhauser nahm den Vorwurf gelassen hin und fuhr in halb geschäftsmäßig kühlem, halb wichtigthuendem Tone fort: „Als voraussichtlicher Gehilfe bei dem Einbruch ist der Schreiber Franz zur Haft gebracht. Die Kasse –“ Er hielt inne, denn der Amtsschreiber war inzwischen eingetreten. „Kommen Sie näher, Herr Huber! Stellen Sie die Kasse auf den Tisch! – Die Kasse ist, wie der Augenschein zeigt, gefunden – allerdings erbrochen und geleert.“

Vitus war beim Anblick der Kasse emporgeschnellt, jetzt sank er aufathmend in den Stuhl zurück.

„Das ist freilich unangenehm,“ setzte Tannhauser hinzu und sah nachdenklich vor sich hin, „aber für mich ohne Belang. Ich weiß, wer der eigentliche Thäter ist, und das weitere wird sich finden. Auch Sie, Herr Kollege, werden über die Hauptperson bei dem Anschlag nicht im Zweifel sein!“

„Der ‚Pfannen Gide‘?“

„Errathen! Noch ist er flüchtig, doch da bekannt ist, wo er steckt, läuft er nicht lange. Von Stund an, Herr Stadtrichter, bitte ich Sie um Ihren werthen Beistand. Herr Huber, verlesen Sie den Bericht, den ich Ihnen heute früh diktiert habe!“

Der Schreiber nahm die Bogen näher an sich heran, räusperte sich und begann mit eintöniger Stimme zu lesen. Der Verfasser stand mit der Haltung und Würde eines Porträts am Tische; Vitus saß beiden gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte starr auf das Schriftstück.

Ich, Thomas Tannhauser, wollte mich mit dem neuesten Regierungsblatt spät abends noch zu meinem Amtsvorgänger begehen. Drohende Gewitter standen am Himmel; als sie losbrachen, war ich noch unterwegs. Ich beschloß umzukehren, verlor aber in der plötzlichen Dunkelheit den Fußsteig, den ich eingeschlagen hatte um rascher daheim zu sein, und mußte nun wohl oder übel wieder aufwärts, denn so kam ich wenigstens zur Burg und konnte von dort aus mich wieder zurechtfinden. Der Wind blies stark und mir entgegen, auf der Plattform droben packte er mich so, daß ich taumelte. Ich suchte nach einem Halt und ergriff einen menschlichen Arm. ‚Holla!‘ rief ich. Gleichzeitig empfing ich einen Stoß gegen die Brust und erkannte beim Schein eines Blitzstrahls den Mann als den kürzlich aus der Haft entlassenen Schreiber Franz. Der Bursche warf sich auf mich, wir rangen und fielen beide. Er war zuerst auf und entsprang, ich verfolgte ihn schreiend den Burgweg hinab bis zum Kurhause. Dort hielt ein Fuhrwerk, dessen Kutscher auf meinen Ruf herbeieilte und mir den Flüchtling dingfest machen half. Wir verbrachten ihn ins Kurhaus, von wo ich Nachricht in die Stadt sandte. Nach kurzer Zeit erschien der Wachtmeister mit einem Gendarmen, und wir begaben uns mit unserem Fang auf die Polizeiwache. Dort wollte ich den Schreiber verhören, allein dieser heuchelte völlige Erschöpfung, warf sich auf die Erde und rührte sich trotz alles Redens und Rüttelns nicht mehr. Was sollte ich machen? Die Sache war äußerst verdächtig; denn was hatte der Mann so spät auf der Burg zu schaffen? warum griff er mich an? Da erinnerte ich mich der Kameradschaft des Verhafteten mit dem berüchtigten ‚Pfannen-Gide‘; vermuthlich hatten beide einen gefährlichen Anschlag miteinander ausgeheckt. Ich schickte nach dem gewöhnlichen Unterschlupf des ‚Pfannen-Gide‘, der Strolch war nicht anwesend. Nun zog es mich nach der Burg, dort war vielleicht eine Spur zu entdecken. Allein da ich eben aufbrechen wollte, traf die Nachricht ein, daß der Sturm einen großen Baum der Allee entwurzelt und zwischen Kurgarten und Schloßkeller über den Weg gelegt habe; gleichzeitig kam ein triefender Mann – angeblich mit Lebensgefahr – von der Furt: das Fährhaus drohe mit Mann und Maus fortgeschwemmt zu werden. Die Feuerwehr wurde zusammengeblasen; die Gendarmerie, alle Hände waren am Fluß nöthig. So mußte ich auf meinen Plan verzichten. Nachgerade fühlte ich mich auch todmüde, ich streckte mich auf einer Holzbank aus und schlief ein. Gegen sieben Uhr erwachte ich, alle rüstige Mannschaft war noch am Fluß. Alte Leute mußten aufgeboten werden, um den Burgweg frei zu machen. Man meldete mir, daß er binnen einer halben Stunde gangbar sei. Ich benutzte die Frist, um Vorstehendes dem Gerichtsschreiber zu diktieren.“

Der Vorleser machte eine Pause. Ohne die Augen von dem Schriftstück zu verwenden, sagte Vitus tonlos und doch mit einer Stimme, die vor verhaltener Spannung zitterte: „Und weiter hat sich nichts ergeben?“

„Doch, Herr Kollege! Wie Ihnen die Kasse dort verrathen dürfte, sind wir auf guter Spur.“ Tannhauser sah bei dieser Antwort den zusammenzuckenden Vitus im Bewußtsein seiner richterlichen Findigkeit überlegen an, und auf seinen Wink las der Schreiber weiter:

„Während ich die Niederschrift meines Berichtes durchflog, wurde mir ein hiesiger Badegast. Herr Lieutenant von Imhof, gemeldet. Er erschien in Begleitung seines Dieners und hinterlegte eine eiserne Kasse. Sie wurde von mir sofort als diejenige erkannt, welche im Amtsgerichte hier zur Verwahrung der Mündelgelder [522] dient. Sie war offen und leer, offenbar durch Anwendung eines Stemmeisens gewaltsam erbrochen. Darüber, wie sie in seinen Besitz gelangt ist, gab Herr von Imhof folgendes zu Protokoll:

‚Ich war gestern mit Kameraden auf dem Gute des Landraths von Zorn zu Besuch. Als sich ein fürchterliches Unwetter entlud, wollte unser Wirth seine Gäste nicht ziehen lassen. Da ich aber aus besonderen Gründen am nächsten Morgen in Hohenwart zu sein wünschte, so bat ich gegen Mitternacht um ein Pferd und ritt davon. Der Weg war schauerlich, und das endlose Blitzen und Gepolter machte das Thier dumm und wild wie eine Hummel, so daß ich seelenvergnügt war, als mit dem erwachenden Morgen die Burg Hohenwart in Sicht kam. In diesem Augenblick, wo ich abgezogen war durch die erfreuliche Aussicht, bald daheim zu sein, und auf die Dinge um mich her weniger achtete, sprang ein kräftiger Kerl vor mir auf und warf einen schweren Gegenstand von sich. Im Nu war er jenseit der Straße verschwunden. Ohne mich zu besinnen, schwang ich mich auf den Boden, band den Gaul an einen Baumast und verfolgte den Mann, der offenbar kein gutes Gewissen hatte, über den Damm zum Flusse hin. Der Boden war glitschiger Lehm; vor mir tauchte ein Rücken über dem niedrigen Strauchwerk auf; geduckt bewegte sich die Gestalt vorwärts, schnell, doch auf so eigene Art, daß ich vermuthete, der Fliehende hinke. Schon hatte ich ihn fast erreicht, da richtete er sich gerade auf und ein Schuß krachte. Dann hatte der Nebel den Mann verschluckt, und wie ich vorwärts drängte, gerieth ich an eine breite Kluft, mit einem schmutzigen raschen Gewässer in der Tiefe; ein schmaler, halb von der Fluth überströmter Steg führte hinüber. Ich gab die nutzlose Verfolgung auf, da der Bursche das Gelände jedenfalls besser kannte als ich. Oben auf der Straße sah ich mich nach dem Ding um, das der Strolch weggeworfen hatte, und fand eine leere Kasse. Als mir gleich darauf der Gendarm von Jöching mit der Nachricht entgegenkam, daß ich wegen Hochwassers nicht hundert Meter weiter könne, schickte ich ihn dem Gauner auf die Fährte.‘“

„Soweit die amtliche Aufnahme,“ ergriff wieder Tannhauser das Wort. „Der Lieutenant ritt nach der nächsten Bahnhaltestelle zurück, gab das Pferd ab und fuhr mit dem Frühzug hierher, sammt der gefundenen Kasse. Er ging zunächst nach der Polizeiwache, wo er von mir empfangen und vernommen wurde. Das ist vorläufig das ganze Ergebniß, ich hoffe aber –“ Tannhauser rieb sich vergnügt die Hände – „ich hoffe, wir werden bald weiter sein.“

Der neue Beherrscher des Amtsgerichts von Hohenwart wandte sich mit einer triumphierenden Gebärde an den Gerichtsschreiber Huber und rief: „Man führe mir den Gefangenen von heute nacht vor!“

Dieser wurde hereingebracht und blickte Tannhauser trotzig an. „Ich möchte wissen, Herr Assessor, warum Sie mich gestern verhaften ließen; ich erhebe Beschwerde bei dem Herrn Amtsrichter,“ begann er, ohne eine Frage abzuwarten.

Tannhauser nahm diese Frechheit gelassen hin. „Schweig’, bis Du gefragt wirst!“ entgegnete er ruhig, „und damit Du’s weißt, ich habe jetzt hier zu befehlen, ich bin seit gestern der oberste Richter in Hohenwart. Warum ich Dich verhaften ließ? Sieh Dir einmal diese Kasse an! Ist sie Dir nicht bekannt? Ja, nun hast Du Deinen Lohn. Der ‚Pfannen-Gide‘ ist mit dem Heidengeld entkommen und jetzt irgendwo in Sicherheit und lacht sich ins Fäustchen über Dich ungeschickten Neuling.“

Was Tannhauser vorausgesehen hatte, traf ein. Der Schreiber Franz kam in solche Wuth über das Glück seines Genossen, daß er sich selbst verrieth, nur um den Kameraden womöglich mit zu verderben. So gestand er denn.

Die Kenntniß vom Inhalt der Kasse und die Vertrautheit mit den Gewohnheiten der Burginsassen hatten folgenden Plan in ihm gereift. Er hatte sich am gestrigen heißen Nachmittag abermals in den Lugaus gestohlen. Unter den Blumen lag er verborgen, während Verena sich dort aufhielt. Als Strobel erschien, um alsbald ins Dickicht hinabzutauchen und seinen gewohnten Weg zum Schloßkeller einzuschlagen, wußte Franz, daß die Richterfamilie daheim und der Thorweg verriegelt sei. Ein Dietrich öffnete ihm die Hinterthür, die aus dem Gärtchen ins Haus führt. Er horchte im Hof, am Thor; drinnen und draußen alles still! Nun schob er die Riegel zurück, ließ den harrenden „Pfannen-Gide“ ein und schlüpfte hinaus, um Wache zu stehen. Nach Verabredung sollte „Pfannen-Gide“ im Gerichte einbrechen und die Kasse stehlen. Dann wollten sie gemeinschaftlich fliehen, zunächst an den Fluß, wo wegen der Schutzarbeiten immer Kähne lagen. „Pfannen-Gide“, stark und im Rudern erfahren, fürchtete die Hochfluth nicht. Das Ufer auf der andern Seite war öde, er kannte die Schmugglerpfade in die Berge und über die Grenze. Jenseit der Grenze glaubten sie sich jenseit der Gefahr. Den Umsatz der Staatspapiere stellten sie sich nicht schwierig vor, Hehler finde man überall.

Als der „Pfannen-Gide“ auffallend lange nicht erschien, wurde Franz unruhig und wollte in die Burg, um nach dem Säumigen zu sehen, entdeckte jedoch zu seinem Schrecken, daß das Thor geschlossen war. Er fürchtete, die Sache sei verrathen, und war im Begriff, sich davonzumachen, als der Amtsrichter vor ihm stand.

„Es ist gut,“ beendete Tannhauser nach diesem Geständniß das Verhör. „Und Du kannst Dir also nicht denken, wie es zuging, daß die Riegel am Burgthor plötzlich wieder vorgelegt waren? Dann will ich Dir’s erklären: der ‚Pfannen-Gide‘ ist ein wenig schlauer als Du, sicherlich hat er selbst Dich hinausgesperrt, damit er in Ruhe auf der Hinterseite mit seiner Beute entwischen könne und sie nicht mit Dir theilen müsse. Begreifst Du jetzt? Ja, werde nur wüthend, Du wirst Zeit bekommen, Deinen Zorn an den Gefängnißmauern auszutoben. Und nun kannst Du abtreten.“

[533] Als der Schreiber Franz hinausgeführt worden war, blieb Tannhauser einen Augenblick nachsinnend stehen, dann fuhr er, zu dem regungslosen Vitus gewendet, in seinem Redestrom fort: „Mir ist bloß eins noch nicht klar: wann verließ ‚Pfannen Gide’ die Burg und warum schleppte er die eiserne Kasse mit weg, statt sie gleich zu leeren?“

Er klingelte; Strobel trat ein und fragte demüthig: „Sie befehlen?“

Sie! Ich erwarte ein Bekenntniß Ihrer gestrigen Fahrlässigkeit.“

Ach, die neuen Besen! dachte der Amtsdiener, die neuen Besen! Er bekannte sich ohne Umschweife schuldig, schuldig der Uebertretung der Hausregeln. Allein die Hitze war so groß und sein Durst „enorm“. Auch habe er vorschriftsmäßig die Riegel vorgeschoben.

„Auch das Schloß zugesperrt?“

Strobel sah Vitus Müller an. Nun stellte sich heraus, daß aus Sparsamkeitsgründen nur ein Thorschlüssel vorhanden war, der sich im Besitze des Richters befand. Wenn Vitus den Abend auswärts verbrachte, schloß er das Thor ab, und dann wurden die Riegel vorgelegt; blieb die Familie zu Hause, so begnügte man sich mit der Sicherung durch die Riegel, welche Strobel um neun Uhr vorzuschieben hatte.

„Auch ich bin für Sparsamkeit,“ sprach der Nachfolger mit der Würde eines Ministers, „aber man darf einer kleinen Ersparniß nicht jede Vorsicht opfern.“

„Ich bitte Sie, Herr Amtsrichter,“ fiel der Alte ein, „die Riegel sind auch allein so fest, daß kein Riese sie sprengt. Indessen die Festung hat schwache Punkte. Da ist die Hinterthür mit einem Schloß, das der jüngste Gauner mittels eines Nagels öffnet. Hier oben sind die Schlösser gut, allein das Holzwerk taugt nichts.“

„Um so sträflicher ist Ihr heimlicher Ausgang!“

„Herr Amtsrichter, angenommen, ich wäre gestern daheim gewesen: entweder hätte ich geschlafen, dann mögen Sie mit Kanonen schießen, mich wecken Sie nicht; oder ich wäre wach gewesen, dann hätte ich vor der himmlischen Kanonade nichts gehört.“

„Beweis, daß Sie den Pflichten eines Hauswarts nicht mehr gewachsen sind. Wo waren Sie und wann kamen Sie heim?“

„Ich war in der Braustube im Schloßkeller und gönnte mir nach des Tages Hitze ein Glas Bier. Eben will ich aufbrechen, da geht das Donnerwetter los. ‚Warte ab!’ sagen alle. Ich warte ab und warte ab, aber das nimmt kein Ende. Wie der Himmel schließlich Ruhe giebt, geht das Getute und Trommeln der Feuerwehr los. Ich weiß nicht mehr, wer fragen ging – es sei wegen des Hochwassers, hieß es. An den Aufstieg in dieser nassen Finsterniß war nicht mehr zu denken; ich wollte jedoch die Burg wenigstens in der Nähe haben, und so bat ich um eine Nothmaß [534] und um Nachtherberge in der Braustube. Das viele und wegen des Wetters laute Sprechen hatte mich müde gemacht, ich schlief bis in den hellen Tag hinein.“

„Wie lange?“

„Bis sieben,“ versetzte Strobel kleinlaut. „Der Hausknecht vergaß, mich zu wecken. Ueber glatte Steine und Windbruch arbeitete ich mich mühsam den Schloßberg herauf. Daß ich am Lugaus die Thür offen fand, machte mich nicht lange unruhig; die Frau Baronin oder Fräulein Verena konnte im Garten gewesen sein. Da komme ich in den Hof und lasse die Augen umhergehen. Teufel! Die Thür zum Amtsgericht ist ja sperrangelweit auf! Sollte der neue Herr Amtsrichter schon droben sein? Ich laufe Sturm, und da sehe ich die Bescherung. Alle Kasten und Schubladen erbrochen, die Schriften – Herr Amtsrichter, ich bitte“ – er zeigte auf den Wirrwarr ringsum.

„Und von dem Thäter entdeckten Sie keine Spur?“

„Nein, er hat nicht auf mich gewartet, Herr Amtsrichter. Allein meine unmaßgebliche Meinung ist, daß er sich über den Lugaus davon gemacht hat, dem Schloßkeller zu.“

„Ist der ‚Pfannen-Gide‘ mit den Oertlichkeiten des Schloßkellers vertraut?“

„Wie mit dem Rabenbier!“

„Glauben Sie, daß ihn die Hunde kennen?“

„Er kennt alle Hunde. Bürgermeister Zappel drohte ihm einmal beim Betteln mit seinem Sultan. Da zieht der Lumpazi eine Zehnguldennote aus der Tasche und sagt: ‚Ich wette einen Zehner, Ihr Sultan thut mir nichts.‘“

„Ein frecher Mensch!“ knurrte der Amtsschreiber, aber es klang wie höchste Bewunderung.

„Es ist klar,“ rief Tannhauser, „der Einbrecher entwischte über den Steig durch den Schloßkeller. Aber warum mit der Kasse? Doch vielleicht ließ ihm das Wetter keine Muße zum Oeffnen, irgendwelche Umstände verhinderten ihn an der Ueberfahrt, und als er endlich heute früh dazu kam, die Kasse aufzusprengen, wurde er von dem Lieutenant überrascht. So war der Verlauf. Was meinen Sie, Herr Kollege?“

„Ich werde die Werthe unter allen Umständen ersetzen.“

„Dazu sind Sie nicht verpflichtet. Uebrigens erlangen wir heute noch das Gestohlene. Das Hochwasser treibt den Flüchtling den Gendarmen in die Arme. Stellen Sie sich die Auen im gegenwärtigen Zustande vor. Er kann dort nicht bleiben, und geht er heraus, so haben wir ihn.“

„Wie dem auch sei,“ sagte Vitus ungeduldig und schlug mit der Hand aufs Knie, „ich komme für den Schaden auf!“

„Halten Sie das, wie Sie wollen! Ich würde es nicht thun. Auch ist der Schadenersatz Ihrerseits kaum zulässig.“

„Oho!“

„Nicht zulässig! Indessen, mich und meine Zeit nimmt die Pflicht in Anspruch. Mit Ihrer werthen Erlaubniß werde ich nun Ihre verehrliche Familie und das Gesinde vernehmen.“

Vitus zitterte vor diesem Verhör, aber er fühlte doch eine gewisse Erleichterung, als er bemerkte, daß Tannhauser nicht mehr der Schneidige von heute nacht war. Der neue Amtsrichter spürte jetzt die Anstrengungen, die hinter ihm lagen; bald war ihm heiß, bald kalt, und alle Zähne thaten ihm weh.

Beim Eintritt Idas erhob ihr Gatte zum ersten Male die Augen. Obwohl er die Brille abgenommen hatte, blickte er fest und stet und zwang Ida, ihn anzusehen; so lange sie sprach, ruhten ihre Blicke ineinander.

Die Richterin gab der Wahrheit gemäß zu Protokoll, daß sie den ganzen Abend zu Hause gewesen sei, bis gegen Morgen gewacht, aber nur Wind und Wetter gehört habe. Allerdings habe es geklungen, als fegten tausend Hexen durch die Gänge, allein so sei es bei jedem Sturm.

Verenas Aussage lautete ähnlich. Sie sei erst am Morgen durch die Mägde von dem Einbruch verständigt worden, und Strobel habe vorhin noch hinzugefügt, daß ihr Verlobter den Dieb unterwegs überrascht hätte. Helmuth sei doch hoffentlich ohne Unfall weggekommen?

„Ihr Bräutigam ist heil und gesund!“ erwiderte Tannhauser, trotz aller Hoheit unter dem Zauber der schönen Augen. „Er läßt die Baronesse grüßen und wird bald drüben sein. weshalb ich die Damen nicht länger stören will.“ –

Die Köchin faßte die Frage, ob sie zuweilen nach Thorschluß noch ausgehe, als Beleidigung auf. Sie gehe überhaupt außer auf den Markt und zur Kirche niemals aus.

„Niemals?“ fragte Tannhauser spöttisch. „Und doch wurden Sie am Pfingstsonntag nach elf Uhr mit einem jungen Mann im Schloßkeller gesehen!“

Diese Allwissenheit mußte auch die Unschuld verwirren. „Das war mein Vetter, der Schullehrer von Jöching,“ gestand sie verschämt, „und die Gnädige –“

„Wie war’s gestern?“

Gestern war sie beim Ausbruch des Gewitters schon zu Bett. Sie sprach laut ein Gebet nach dem andern und entschlief glücklich, etwa während des vierten. Täglich um sechs Uhr klopft Strobel an ihre Thür, bis sie aufwacht. Heute klopfte er nicht und so habe sie „richtig“ die Zeit verschlafen.

Tannhauser sah die brave Köchin mit einem Blicke an, als wenn er mit Ueberwindung tausend Zweifel an ihrer außerordentlichen Biederkeit in seinen Busen zurückdränge, und entließ sie. Die Kleine mit der großen Schürze, die ihrer Küchengebieterin folgte, wußte vollends nichts auszusagen. Aengstlich stammelte sie, daß sie vor Gewittern große Furcht hege und sich deshalb nach dem Schlafengehen beide Ohren mit den Kissen zugehalten habe. So sei es ihr unmöglich gewesen, etwas zu vernehmen, und bald müsse sie nicht mehr gewacht haben. Es habe ihr dann allerdings viel Merkwürdiges geträumt, erst von einem Festessen, das die Frau Baronin ganz allein gekocht habe, nachher von –“

„Schon gut!“ unterbrach sie Tannhauser ungeduldig. „Du kannst gehen, wir wissen genug.“

Da zunächst weitere Anhaltspunkte in der Sache nicht zu gewinnen waren, ersuchte der neue Amtsrichter seinen Vorgänger um Uebergabe der Bücher. Vitus kam stillschweigend der Aufforderung nach. Alles mar in guter Ordnung. Aus dem Vorzimmer hörte man unterdessen ein Aus und Ein, ein Räuspern und Wispern: Parteien warteten, Rechtsanwalt und Notar erschienen. Die laufenden Geschäfte nahmen beide Richter vollauf in Anspruch, es war Mittag, ehe sie sich dessen versahen. Tannhauser beantragte den Schluß der Verhandlungen.

„Ich werde heute noch Herrn Haspinger schreiben,“ sprach er, „daß er den Antritt seiner neuen Stellung beschleunigt. Mir ahnt eine schwere Krankheit, Nervenfieber und so weiter. Ich habe mich heute nacht in diesem Unwetter verdorben, in meinen Zähnen tobt’s wie in einem Vulkan.“

Strobel brachte ihm Hut und Stock; Tannhauser holte die schwarzseidene Binde aus der Tasche und legte sie wehmüthig um.

„Strobel!“

„Herr Amtsrichter?“

„Ich habe einen Auftrag für Sie, warten Sie unten! – Was ich noch sagen wollte, Herr Kollege. machen wir die Nummern der Werthpapiere erst heute abend bekannt! Eine Gefahr, daß der Flüchtling die Scheine an den Mann bringt, besteht nicht, im Gegentheil ist seine Festnahme sicher. Zu weit westlich verschlagen, hat er die Ueberfahrt bei Nacht verpaßt, und wer jetzt über den Fluß wollte, der hätte hüben und drüben Zuschauer. Der Gauner muß also auf unserer Uferseite bleiben, und da sind ihm die Gendarmen sicher schon auf den Fersen. Warten wir also! Wenn wir die Werthe ohne Ausschreiben wiederbekommen, steht die Klugheit der Justiz in ihrer ganzen Größe vor den Leuten. Deshalb meine ich, wir unterlassen vorläuflg die Bekanntmachung.“

„Wie Sie meinen, jedenfalls fühle ich mich zum Ersatz verpflichtet, wenn die gestohlene Summe nicht mehr beigebracht werden kann.“

„Zum Ersatz verpflichtet? Das sind Sie nicht, wie ich schon mehrmals Ihnen erklären mußte. Weshalb in aller Welt halten Sie so hartnäckig an diesem Gedanken fest? Wollen Sie dem Staate für die Nichtbeachtung Ihrer berechtigten Beschwerden eine Schenkung machen? Da werden Sie schön ankommen! Man dürfte oben ein solches Anerbieten unverständlich oder, wenn man nach einem Verständniß sucht, verdächtig finden.“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fuhr Vitus in jäher Gluth auf, sodaß Tannhauser rasch einen Schritt zurücktrat.

[535] „Ich spreche ja nicht von mir, sondern von den Gründen, welche das Urtheil der Oberbehörde leiten könnten, und es lag mir nichts ferner, als Sie beleidigen zu wollen. Aber ich merke, der Herr Kollege ist von den Ereignissen nicht weniger angegriffen als ich; ich will Sie nicht länger stören.“

Im Bogengang drüben trat Ida wie eine jener Feen in alten Zauberstücken hinter Blumenbüschen hervor und legte den Finger auf den Mund.

„Helmuth ist da.“

Die Gatten reichten sich die Hände.

„Helmuth erzählte uns alles,“ sagte sie leise. „Die Kasse –?“

„Sie stand während Deiner Vernehmung auf dem Tisch.“

„Ich sah nur Dich. Nun ist alles gut!“

„Gut? Wenn sie den Dieb ergreifen, kommt die Wahrheit ans Licht. Weißt Du, warum er auf Helmuth schoß? Aus Wuth über die Enttäuschung.“

„Aber Vitus! Wer traut denn einem Einbrecher zu, daß er die Wahrheit sagt? Niemand, selbst Tannhauser nicht, wird zwischen Dir und ‚Pfannen-Gide‘ schwanken.“

Vitus stöhnte. „Ich habe eine Bitte an Dich.“

„Endlich einmal!“

„Bewege Helmuth, daß er bei Tische von der Sache nicht spricht! Bedenke, was ich schon litt! Ich bin krank und wund.“

Sie drückte ihm aufs neue die Hand.

Als die Herren beim Kaffee saßen, wurde ein Brief Tannhausers an Vitus abgegeben. Der neue Amtsrichter bat um Nachsicht, er könne heute nachmittag nicht in die Kanzlei kommen. Zu seinem rheumatischen Uebel habe sich noch Schüttelfrost gesellt; er sei nicht imstande, die Feder, geschweige denn die Gedanken festzuhalten; der Bezirksarzt schreibe für ihn diese Zeilen. Vom Flüchtling habe er noch keine Kunde, aber er vertraue auf die Hochfluth und die Gendarmen. –

„Verehrter Herr und Freund!“ lautete eine Nachschrift, „unser Tannhauser ist jetzt ernstlich krank, hohes Fieber!“

„Ich fahre zum Onkel,“ sagte Vitus, indem er seiner Frau den Brief hinreichte. Sie las, sah ihren Gemahl an und gab ihm recht. Der Lieutenant wandte ein, daß wahrscheinlich sein Vater heute abend ankomme, doch Vitus versicherte, daß er bis dahin zurück sein werde.


Die Fahrt nach Steinberg war für einen Sorgenlosen herrlich. Die Luft wehte kühl, Wiese und Wald waren nach dem nächtlichen Bade von sattem Grün. Und es ging den Bergen entgegen, man glaubte sie höher und höher in den Himmel wachsen zu sehen. Aber Vitus war nicht sorgenlos. Sein Blick suchte immer nur den Fluß, der, das einzig Düstere im Bilde, schmutzig gelb dahin schoß. Die Auen bildeten einen spiegelglatten, blauen See, der anmuthig herüberwinkte; nur die schwanken Baumkronen, die aus dem Gewässer emporragten, verriethen seine Tücke …

„Meinen ergebensten Glückwunsch, Herr Stadtrichter!“ rief der Bahnbeamte zur Begrüßung dem Reisenden zu, der als einziger beim Halteplatz Steinberg den Zug verließ. „Ich habe mich über Ihre Depesche ebenso gefreut wie der Herr Onkel. Wie geht’s der Frau Baronin und dem Fräulein Braut? Das sind Neuigkeiten über Neuigkeiten!“

„Mein Onkel ist also noch da?“

„Ja freilich, dem schmeckt’s bei uns! Entschuldigen Sie –“ Und der Freundliche wurde im Nu feierlich stramm. „Abläuten!“

„Fertig!“ schnarrte der Zugführer.

Vitus hielt sich nicht auf. Im kühlen Flur des „Rappen“ lag Azor, er rührte sich nicht, aber er knurrte. „Jesus! der Herr Stadtrichter!“ rief die Kellnerin, die aus der Schenkstube trat. So schnell verbreitet sich jede Nachricht, dachte Vitus, als er auch hier schon mit dem neuen Titel empfangen wurde. Sein Onkel, der sein Mittagsschläfchen im Sommerhause des Wirthsgartens hielt, war durch den Bahnlärm wach geworden. Er rieb sich die Augen und sprang auf.

„Neffe Stadtrichter, schön, daß Du kommst! Soeben wollte ich Dir schreiben!“ Furtenbacher wurde von einer Lüge nicht roth. „Mich freut’s namentlich wegen der Frau Baronin, die gehört in eine Großstadt. Dir wird der Abschied von den Spieß- und Pfahlbürgern dort auch nicht schwer werden. Doch? Ist es zu glauben! Was hattest Du denn in Hohenwart? Arbeit und Undank und zuguterletzt einen Einbruch. Der Bahninspektor brachte die Nachricht, die ihm telegraphisch zugegangen war, an den Mittagstisch. Du kannst von Glück sagen, daß die Spitzbuben nicht auch bei Dir einbrachen.“

„Sie würden bei mir nichts gefunden haben.“

Furtenbacher kraute sich hinterm Ohr. „Ach so,“ versetzte er zögernd, „Du kommst deswegen?“

„Ja, ich komme deswegen. Am Abend Deiner Ankunft –“

„Erinnere mich nicht an den! Mit dem Lieutenant fing’s an, und womit der Tag aufhörte, wirst Du von der Kathi gehört haben. Die läßt mir den Garten verwüsten und verliebt sich hinter meinem Rücken in den Burschen des witzigen Lieutenants. Sieht sie ihren Undank und ihre bodenlose Falschheit noch nicht ein? Natürlich nicht. So kann man wie ein Engel kochen und doch eine Schlange sein. Aber es giebt noch andere Küchenengel. Hier –“

„Lieder Onkel, verzeih’! Ich möchte um fünf Uhr wieder heimfahren.“

„Was fällt Dir ein? Heute abend kommt der Fischer-Sepp mit Krebsen.“

„Ich kann nicht bleiben, wenn Du also die Güte hättest –“

Doch da zwängte sich die kugelrunde Rappenwirthin durch die Thür, klatschte in die Hände und rief: „Gehorsame Dienerin, Herr Stadtgerichtsrath! Auch mal wieder die Ehre? Wünsch’ Ihnen halt recht schön Glück. Warum sind denn die Gnädigen nicht mitgekommen? Aber ich kann mir’s denken, der Schreck um dem Diebstahl! Mein Mann meint, für den Schaden müsse der Aerar aufkommen, und dem Aerar, meint er, schadet das nichts.“

Und jetzt erschien er selbst, der kluge Wirth, und dann die Schwiegertochter, und zuletzt holte die Hausherrin ihre Enkel herbei. Vitus litt unter dieser gutmüthigen Zudringlichkeit unsäglich, und Onkel Anton kam ihm nicht zu Hilfe, denn diesem war an einem Selbander wenig gelegen.

Im Sommerhause war auf kein Alleinsein mehr zu hoffen, so schlug Vitus dem Alten einen Spaziergang vor.

„Hm, meinetwegen!“ erwiderte Furtenbacher zaudernd, „dem Azorl thut Bewegung noth.“

Zwischen dem Dorf und der westlichen Gebirgswand erhob sich ein vereinzelter, mäßig hoher Hügel mit einem „Leidensweg“, einigen kleinen Kapellen hüben und drüben und drei Kreuzen auf dem Gipfel. Dahinauf stiegen die beiden. Droben setzte sich Onkel Anton auf eine Bank, blickte in die Landschaft hinaus und tätschelte den Hund, der ebenso schnaufte wie sein Herr. Müller trug stehend seine Bitte vor.

Der Onkel antwortete mit einer langen Geschichte von Vertrauensbrüchen und Geldverlusten. aber Vitus sei ein sicherer Mann und sein Schwestersohn, da müsse das älteste Glied der Familie ein Einsehen haben. Also nach der Rückkehr in ein paar Tagen!

„Nein, Onkel, Du mußt mir sogleich helfen: Nicht mehr Verenas Heirath ist meine nächste und schwerste Sorge, sondern der Ersatz der Mündelgelder. Ein Makel hat sich rasch an einen guten Namen geheftet. Du mußt selbst sagen, daß ich Hohenwart unter diesem Eindruck nicht verlassen, meine fünfzehnjährige Thätigkeit nicht damit beschließen kann!“

„Womit? Was geht Dich die Sache an? Du warst Amtsrichter, nicht Hauswart. Warum verlegt der Staat das Amtsgericht in einen baufälligen Ritterkasten, anstatt irgend einen steuerzahlenden Hausbesitzer etwas verdienen zu lassen! Du bist aufgeregt, morgen wirst Du über Deinen Großmuthsdusel lachen. Seit wann schenkt der Arme dem Reichen?“

„Das ist Gefühlssache, Onkel. Bevor sich der Staat zur Zahlung entschließt, giebt es eine endlose Untersuchung, man wird dies und das an meiner Amtsführung bemäkeln, und ich komme, wenn’s gut geht, mit blauem Auge davon. Wenn ich jemals wieder des Lebens froh werden soll, muß ich, ich das Geld ersetzen.“

Furtenbacher stand auf und steckte die Hände in die Taschen. „Mein lieber Neffe, ein letztes Wort! Ich mache mir nichts, gar nichts aus der Excellenz und dem thierquälenden Lieutenant; [536] trotzdem würde ich das Nöthige zur Heirath beigesteuert haben. Aber nachdem Du mir mit diesem verrückten Gedanken kommst – für Ueberschwang habe ich weder Verständniß noch Geld. Punktum!“

Bei diesem „Punktum!“ nahm ihm der Wind, der da oben kräftig blies, den Hut fort. „Such’, such’!“ rief Furtenbacher, allein Azor rührte sich nicht; der dicke Herr mußte dem Flüchtling selbst nachspringen. Vitus blieb stehen und schaute thalauf, thalab, ohne der Schönheit rings gewahr zu werden; den Schuldigen grüßt nicht der Glanz der Welt. – –

In der Hohenwarter Bahnhalle wurde Vitus vom Bürgermeister und vom Gerichtsschreiber erwartet und sofort in die Mitte genommen. „Er ist gefunden!“ sagte Zappel mit seiner dumpfen Stimme. Vitus warf einen scheuen Blick auf ihn.

„Der – der Dieb?“

„Ja, tot, ertrunken. So gegen vier trieb beim Fährhaus ein Leichnam vorbei. Die Arbeiter fischten ihn heraus. Grausig war er zugerichtet, doch männiglich erkannte den ‚Pfannen–Gide‘. Das Wasser muß ihn über Gestein und Gestrüpp geschleift haben, denn er hat tiefe Risse am Leibe.“

„Ja, und die Papiere treiben wer weiß wo im Fluß,“ fiel der Schreiber ein, „die kriegen wir nimmer!“

„Ich ließ den Todten einstweilen in der Wache aufbahren. Da Herr Tannhauser krank daniederliegt, haben wir mit der Protokollaufnahme bis zu Ihrer Ankunft gewartet.“

Im Zwielicht der Wachtstube lag der Verunglückte auf einem Schragen. Sein Gesicht war nicht viel blässer als das des Richters.

Nach einem häßlichen Leben ein häßliches Ende! Da lag er, von niemand betrauert, der Trunkenbold, Wegelagerer und Dieb und – Vitus wandte sich bebend ab – der Ehrenretter dessen, der sein Richter war.


8.

„Und nun,“ sagte Herr Zappel, während er sich Bahn brach durch den Haufen Kinder, die mit scheuer und doch neugieriger Miene vor der Wache standen, „nun, da wir das traurige Geschäft hinter uns haben, sollen Sie etwas Erfreuliches hören, Herr Stadtrichter. Der Erbprinz hat die Regierung übernommen und der Vater Ihres Herrn Schwiegersohnes ist Ministerpräsident geworden! Sehen Sie nur, alle Läden sind geschlossen, denn die ganze Bevölkerung ist im Schloßkeller oder auf dem Weg dahin. Ein Ausschuß ist in aller Eile zusammengetreten, um über den Empfang Seiner Excellenz zu berathen. Morgen wird alle Welt erfahren, daß der neue Minister die Hohenwarter Moorbäder gebraucht. Und Sie wußten wirklich von all diesen Ereignissen nichts?“

„Man kann vorbereitet sein und doch überrascht werden.“ Vitus ging müde neben seinem strammen Begleiter her und erwiderte gedankenlos die Grüße. Der Bürgermeister blieb stehen.

„So geht’s!“ rief er. „Immer kommt alles auf einmal. Während sonst Monate lang der Tag nichts bringt als höchstens eine neue Grenzsperre, die uns arme Fleischer zu Grunde richtet, reißt seit gestern der Faden nicht ab. Ueberschwemmung, Einbruch, gewaltsamer Tod, Richter, und Ministerwechsel! Gestern waren die Leute noch ganz hingenommen von der Nachricht, die Sie betraf, und heute versetzen andere Dinge, die nicht nur uns angehen, die Gemüther in Aufruhr. Aber Sie dürfen nicht glauben, Herr Stadtrichter, daß wir über den Angelegenheiten der großen Politik Sie selbst vergessen und das, was wir mit Ihnen verlieren: einen Ehrenmann, den rechtschaffensten Beamten des ganzen Landes! Glauben Sie mir, Ihre Versetzung ist für jeden Hohenwarter ein Familienfall.“

Vitus hing bei den letzten Worten mit dürstendem Blick am Munde des Redenden: ein Ehrenmann, ein rechtschaffener Beamter? Ja, niemand kann ihm das bestreiten. Der, welcher dort in der Wache liegt, dessen Mund allerdings – doch die Toten schweigen!

Nach dem Befunde des Arztes ist Gide schon mehrere Stunden tot. Wahrscheinlich stürzte er in der Hast von einem Steg, verletzte sich beim Fall und wurde bewußtlos vom Wasser fortgewirbelt. Hat er zwischen seiner Entdeckung durch Helmuth und seinem Sturz noch jemand gesprochen? Möglich, aber nicht wahrscheinlich.

Er war verfolgt und auf einem Gebiete, das auch für den erfahrenen Schmuggler ein gefährliches war. Der Boden war durchwühlt, alles in Bewegung, alles Schlund, Wirbel, Falle. Da war sicher außer dem Flüchtling keine Menschenseele in dieser todbringenden Gegend gewesen. Er ging unter, ohne das Geheimniß der Kasse verrathen zu können, morgen deckt es die Erde. Und Vitus scheidet als Ehrenmann, als rechtschaffener Beamter!

Denn auch Tannhauser ist nicht mehr zu fürchten. Wie der Fall jetzt liegt, bietet er selbst für den größten Tiftler und Schwarzseher keine Haken und Schlingen mehr, um einen Dritten zu fangen; die Sache ist klar und abgethan. Der Schreiber Franz wird für seine verbrecherische Absicht verdientermaßen bestraft, und Vitus Müller, als gekränkter feinfühliger Mann, ersetzt das Geld. Wenn er die Uebersiedlung in die Hauptstadt zum Vorwand nimmt, kann er sein Hab und Gut zu Gelde machen und den Ersatz leisten. Nach den gebuchten Nummern der Werthpapiere wird dann wohl niemand fragen; ist kein Mensch weiter geschädigt, so wird auch nirgends die Unterlassung des Ausschreibens auffallen. Und wenn so die Gefahr der Entdeckung beseitigt, die Schuld gesühnt ist, dann darf Vitus die Vergangenheit vergessen!

Was hat er denn überhaupt verbrochen? Zum ersten Male kommt ihm der kühne Glaube, daß nicht alle Handlungen unter das Urtheil eines Paragraphen gebracht werden dürfen. Er spricht sich, er fühlt sich frei! Und sein braver Begleiter hat nicht übertrieben: das Scheiden des Richters geht den Bürgern nahe. Nie haben ihn die Frauen und Mädchen so freundlich, die Männer so tief gegrüßt wie heute. Er ist jetzt sehr aufmerksam auf die Vorgänge und Erscheinungen um sich her, er prüft die Mienen und liest in allen: ein Ehrenmann, der rechtschaffenste Beamte!

Am Eingang des Kurgartens erwartete Ida ihren Gemahl und nahm ihn dem Bürgermeister ab. Als sie nach dem Bahnhof gewollt hatte, war sie von Helmuth über die traurige Pflicht aufgeklärt worden, die der Richter bei seiner Ankunft zunächst zu erfüllen habe.

Während das Brautpaar in der Kurhalle mit Bekannten sich erging, harrte Ida wohl eine Stunde lang vor dem Garten und sah auf das Gewoge der heiteren Menge, nicht kummervoll, aber mit ernsten Augen. Alles hatte der Himmel zu glücklichem Ende gefügt, dennoch fand sie den gewohnten leichten Sinn nicht mehr. Zu tief und nachhaltig war sie in ihrem innersten Wesen erschüttert. Sie rühmte sich niemals großer Belesenheit und war aus naheliegendem Grunde sparsam mit geflügelten Worten. In dieser Stunde qualvollen Wartens jedoch – eine verschwindende Spanne Zeit und ein unendliches Maß von Leid! – fiel ihr ein Vers ein. Sie wußte nicht, wo sie ihn gelesen oder gehört hatte, er kam ihr angeflogen und verließ sie nicht mehr, wie uns zuweilen eine Melodie verfolgt:

„Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein …“

Nein, der Himmel hatte sie nicht verlassen, der Himmel war ihr gnädig. Dort kam ihr Gemahl, Arm in Arm mit dem ersten Bürger der Stadt, und trug den Kopf hoch und grüßte heiter nach rechts und links.

Während das Ehepaar tiefer in den Garten ging, um sich unter die Gesellschaft zu mischen, fragte Ida leise: „Geschwind, geschwind, Vitus! Bist Du jetzt zufrieden? Hast Du nichts mehr zu fürchten?“

„Nichts mehr.“

„Gott sei gelobt! Gott, ich danke Dir!“ Ihre Lippen zitterten, ihre Augen schwammen in Thränen.

[550] Mit dem Schnellzug waren Nachrichten von Excellenz Imhof an seinen Sohn angelangt. Excellenz kenne die Gesinnung Hohenwarts, er sehe daher voraus, daß man infolge der neuesten Ereignisse ihm, dem ersten und treuesten Diener des Erbprinzen, einen Empfang mit mehr oder weniger Gepränge bereiten wolle. Ein solcher dünke Excellenz, nachdem erst kürzlich Hoheit selbst festlich begrüßt worden sei, nicht annehmbar. Er wolle von niemand erwartet sein, werde sich aber freuen, um neun Uhr den Sohn und die liebenswürdige Familie Müller-Gatterburg im Kurhaus anzutreffen.

Als eine Abordnung der Bürger erschien, um sich bei dem Lieutenant genauer nach der Ankunft Seiner Excellenz zu erkundigen, theilte Helmuth die väterlichen Wünsche mit. „Schlimm!“ sagte der Bürgermeister, der unterdessen die Führung des Ausschusses übernommen hatte. „Allerdings wollten wir Papa Excellenz in feierlicher Gesammtheit einholen. Insofern aber als Staatsgründe – wir verstehen uns – doch Excellenz spricht wohl nur vom Bahnhof, wie steht’s mit Nummer zwei: um halb zehn Fackelzug der Alt- und Jungbürger? Will Excellenz auch keinen Fackelzug haben?“

„Fackelzug?“ fragte Helmuth. „Wie stark würden Sie denn antreten?“

„Wir sind fünfhundert Fackeln. Die Musikanten lassen ihre eigenen Lichter leuchten.“

„Fünfhundert Mann? Das ist ja sehr anständig! Wissen Sie was, ich nehme den Fackelzug auf meine Kappe. Lassen Sie die Fünfhundert los!“

Herr Zappel sah sich um, ob der Richter außer Hörweite sei, dann neigte er sich zum Ohr des Lieutenants. „Ob es Excellenz nicht ungnädig aufnehmen würde, wenn die Fackeln vom Kurhaus dem scheidenden Richter zu Ehren nach der Burg zögen? Es ginge halt in einem hin.“

Ungnädig aufnehmen? Wo denken Sie hin, Herr Zappel! Die Huldigung bleibt ja auch in der Familie! Aber weshalb auf die Burg hinaufmarschieren, wo Sie nicht einmal Platz zur Entfaltung der Fünfhundert haben? Da Richters um neun hier im Kurhaus bei meinem Vater sein werden, können es beide Theile bequemer haben. Der Sprecher – und das sind natürlich Sie, alter Freund und Bürgermeister – bringt ein Hoch aus auf den bedeutenden Staatsmann und liebenswürdigen Gast Hohenwarts, auf den Vater meiner Wenigkeit, und da Sie an dessen Seite ‚zufällig und unvorbereitet‘ den allverehrten Herrn Stadtrichter erblicken, so fordern Sie die Fünfhundert auf, auch diesem braven Mann zu Ehren ein dreifaches Hoch ertönen zu lassen. So geht es wirklich in einem hin.“

„Wir verstehen uns, Herr Lieutenant,“ sagte Zappel, „wir verstehen uns.“ –

Die Richterfamilie verbrachte die Stunden vor dem großen Ereigniß allein. Man saß im Lugaus beisammen. Die Damen meinten zwar, daß ihnen der Ort durch die jüngsten Vorgänge verleidet sei, doch Vitus nahm den Kampf mit den Gespenstern wacker auf und überredete die andern, ihm zu folgen. Die Nacht war mild und klar, der Mond leuchtete, und aus unergründlichen Tiefen grüßten die Sterne. Wer dachte bei diesem Himmel an das schwarze Gewölk, an die Windsbraut und die Blitze von gestern! Wer sah dem Paare, das Hand in Hand auf der Steinbank saß, die Stürme an, unter denen gestern ihre Seelen gezittert hatten! Verena hatte ihren Platz den Eltern gegenüber. Der sanfte Schein ringsum hob ihre Schönheit. Wie unter silbernem Schleier zeigten sich die Fülle und das matte Blond der Haare, die lieblichen Züge, der schlanke Hals und die fein geschwungenen Schultern. Ihre klare Gesichtsfarbe war um einen Ton bleicher, ihre Augen schienen jetzt so dunkel zu sein wie ihre Brauen.

Für Dich und Deine Mutter litt ich, dachte der Richter. Möge dafür Dein Leben ohne Stürme, Deine Seele rein von Schuld bleiben!

Durch die Baumkronen über dem gastlichen Gebiet des Schloßkellers blitzten Lichter, doch war es unten still geworden und „des Lebens Schauspiel“ spielte vorläufig wieder in der Stadt.

„Horcht!“ rief Ida plötzlich in die träumerische Stille hinein, die sie alle umfangen hatte. Trommeln wirbelten, dem Marktplatz entstieg röthlicher Qualm, den zuweilen ein helleres Aufflammen durchzuckte. Jetzt setzte die ganze Musik mit einem wohlbekannten Marsche ein.

„Der Fackelzug,“ sagte Vitus, „wir müssen ins Kurhaus.“ Verena sprang davon, um Hüte und Umhänge zu holen.

Die Richterin lehnte sich an die Schulter ihres Gatten. „Ich würde den Abend lieber mit Dir allein verbringen.“

„Imhof ist Beamter wie ich. Sie ehren uns alle, indem sie Einen ehren; ich darf nicht fehlen.“

„Seit wann bist Du ehrgeizig geworden?“

„Meine liebe Ida, man lernt ein Gut schätzen, wenn man in Gefahr stand, es zu verlieren.“

„Wahr!“ erwiderte sie leise und schmiegte sich fester an ihn.

Vitus blickte nachdenklich vor sich hin. „War das alles nur Zufall oder Fügung?“

„O Vitus. wie kannst Du fragen! Eine höhere, eine gütige Hand ist in diesem allem!“

Ihr Mann seufzte auf, um dann wehmüthig zu lächeln. „So hätte mich auch der Himmel freigesprochen!“


*               *
*


Ein Venezianer kann auf seine Piazza nicht stolzer sein als die Hohenwarter auf ihren Stadtplatz. Und sicherlich hat derselbe wenn auch nicht alles, so doch allerlei mit dem Markusplatz gemein: ehrwürdige Gebäude, Bogengänge mit Läden und Wirthschaften und eine Menge Tauben, die aber ungerechter Weise von den Fremden nie gefüttert werden; auch Italienisch wurde einstmals hier gesprochen, vom Großvater des Zuckerbäckers Martinelli, der, von Bologna nach Hohenwart verschlagen, bei der Witwe des städtischen „Bretzel-Bäckers“ in Dienst trat und später des Seligen Nachfolger wurde. Das ist aber lange her. Der Enkel Martinelli spricht einzig die Hohenwarter Mundart mit einem leichten Anklang an einen achtwöchigen Aufenthalt in Wien: „Schaffen’s ein Gefrorenes oder schaffen’s –“ Er nannte eine Fülle Herrlichkeiten für Feinschmecker. „Heut haben wir alles, ich kenne meine Hohenwarter. Ihnen wird das Ende schwerer als der Anfang. Gestern abend war Fackelzug, heute ist das Abschiedsessen für den Stadtrichter und morgen haben wir jedenfalls eine allgemeine Nachfeier.“

„Diese ewigen Aufregungen greifen meine Nerven an,“ sagte die Majorin Langbein. „Nichts Süßes, Martinelli! Geben Sie mir eine Flasche Selterswasser und ein Glas Wermuth. Wo belieben Frau Bahninspekor Platz zu nehmen? Minna, spann’ den Schirm auf, denk’ an Deinen Teint!“

Die drei Damen ließen sich an einem der beiden Tische nieder, die Martinelli sommers nach dem Mittagsläuten vor seinem Haus und Laden auf den Stadtplatz stellen durfte.

„Wenn Sie erlauben,“ fuhr die Majorin fort, „setze ich mich mit dem Rücken gegen die Obstbude; dort ist die Lästerschule Hohenwarts, und ich hasse eine böse Zunge. Sollte man nicht glauben, es sei Markt, soviel Leute! Und im Kurgarten ist auch Markt, aber dort mehr Grünzeug als Leute! Schade um die jungen Tannen! Die Hohenwarter übertreiben wie immer. – Mir den Wermuth, Martinelli, und meiner Tochter das Selterswasser!“

„Aber Mama, ich würde lieber ––“

„Auch ich würde manches lieber, allein denk’ an Deinen Teint!“

Die Bahninspektorin tauchte den Löffel langsam in ihr Himbeereis. „Wie mir mein Eduard mittheilte, sind für Müllers Damen zwei kostbare Sträuße in der Residenz bestellt. Als ob Hohenwart nicht auch Gärtner und Gärten hätte!“

„Ganz Ihrer Meinung, Frau Inspektor! Beiläufig, ist Ihnen schon bekannt, daß Furtenbachers Köchin –“

„Mama, sieh doch!“ rief Minna mit dem Diskant und der Kindlichkeit einer Vierzehnjährigen. „Ein Transparent!“

Die Majorin griff geschwind zum Augenglas. Zwei Dienstmänner [551] trugen vorsichtig eine schwarze Tafel vorbei, auf dunklem Grunde war in ölgetränkten bunten Buchstaben zu lesen:

„Fünfzehn Jahre treu im Amte,
Stets ein Ehrenmann warst Du,
Darum ruft Dir die gesammte
Bürgerschaft beim Abschied zu:
 ‚Glück und Segen
 Allerwegen,
 Vitus Müller!

Lebe wohl und lebe hoch!‘“

„Ein Ehrenmann, das ist wahr,“ bestätigte die Frau Inspektor.

„Sicherlich. nur würde ich ihn in seiner Familie strammer wünschen. Je nun, welcher Mann hat keine Fehler! Ihren Eduard natürlich ausgenommen.“

Der Bahninspektor war als unleidlicher Haustyrann stadtbekannt, seine Frau ging daher über die letztere Bemerkung hinweg und erzählte, daß alle Welt heute abend erscheinen werde. „Herr Landrath von Zorn nebst Gemahlin kommt auch. Was sagen Sie, der Unzugängliche! Und Excellenz übernimmt den Vorsitz!“

„Du mein Gott, wenn der gute Müller nicht zufällig der Stiefvater der zukünftigen Schwiegertochter Seiner Excellenz wäre! Uebrigens, im Vertrauen gesagt, er scheint sehr in Geldverlegenheit zu sein. Wie ich aus sicherer Quelle vernehme, wird all sein Hab und Gut versteigert.“

„Ich möchte nur wissen, wo die Kaution hergekommen ist. Der alte Imhof soll ja nichts besitzen als sein Amt, und der Stadtrichter hat sicherlich nicht viel mehr. – Ah, der Herr Bürgermeister!“

Die Majorin folgte den Augen ihrer Freundin, welche auf ein Haus gegenüber sah. „In Hemdärmeln, wie gebildet! Was thut er denn auf dem Balkon?“

„Er gähnt.“

„Wahrscheinlich hat ihm der Notar sein Festgedicht vorgelesen. Ich kann mir schon denken, wie langweilig die ganze Sache werden wird. Ich gehe auch nicht hin, denn erstens bin ich nicht für diese erzwungenen Festlichkeiten, und dann ist der Major wieder so leidend. Ich und Minna lesen ihm Abend für Abend vor, englische Bücher. Zwar versteht er nicht gut Englisch, aber es zerstreut ihn doch … Das Gedränge auf dem Markt wird nachgerade unausstehlich; haben denn diese Leute nichts zu thun? Was sehen meine Augen! Die Apothekerin mit der Steuereinnehmerin! Das ist ja ganz was Neues!“

„Ja, die Dinge ändern sich und die Menschen auch, die Frau Apotheker als die ewige Erbin —“

„Hierher, meine Damen, rasch hierher! Ohne Umstände! Und woher kommen denn die lieben Freundinnen, wenn man fragen darf?“

„Vom Kurhaus,“ antwortete die Apothekerin. „Das giebt ein Mahl! In der Küche hantieren zehn Hilfsköchinnen, sogar Herrn Furtenbachers Exköchin läßt sich herab. Und im Schloßkeller ist der gleiche Wirrwarr! Alle Bäume haben Papierlaternen.“

„Ich sag’s ja, was zuviel ist, ist zuviel!“

„O, Richters sind liebe Leute,“ vertheidigte die Apothekerin, „und besonders die Frau Baronin ist gar nicht stolz.“

„Um stolz zu sein, ist sie zu wenig Dame,“ erwiderte die Majorin und senkte vornehm die Wimpern. „Es wird immer unleidlicher, da – wahrhaftig ein Puff! Herr, sehen Sie sich doch gefälligst vor, wen Sie hinter sich haben! – Man hat doch wahrhaftig nirgends seine Ruhe!“ …

Währenddem stand Gerichtsdiener Strobel drüben bei der alten Obstverkäuferin. Er hatte unterm Arm ein Bündel Schriften, die er vom kranken Amtsrichter in der Rabengasse geholt hatte, und blickte schwermüthig drein.

„Die Akten sind bereits unterwegs nach der Residenz. Der Schreiber Franz wird wieder ein paar Monate sitzen, den Schaden trägt der Staat, ich kriege eine Nase und die Geschichte ist aus!“

„Und wie macht sich der neue Herr?“

„Liebe Frau, man redet über Vorgesetzte nicht oder, wenn sie in der Nähe sind, nur Gutes. Aber wenn ich mir vom Erbprinzen unsern alten Amtsrichter zurückerbitten könnte, auf den Knieen wollt’ ich von hier nach der Hauptstadt rutschen!“

„Ja, ein Besserer als der steht nimmer auf, Wissen Sie nicht, wird das Klavier auch versteigert? Ich möchte meiner Tochter schon lange eins kaufen.“

Strobel antwortete zurückhaltend. „Darüber kann ich Ihnen nichts Genaues sagen. Natürlich handelt es sich um keinen Zwangsfall. Die Frau Baronin hat Geld wie Heu. Sie erkundigte sich vorläufig nur unter der Hand –“

„Unter der Hand in Hohenwart? O, die Einfalt! – Aber gestern waren die Hohenwarter beim Zeug. Einen solchen Fackelzug hat Excellenz in der Haupt- und Residenzstadt gewiß noch nicht erlebt!“

„Da ich Zugordner war, verbietet mir die Bescheidenheit, darüber zu reden.“

„Und wie glauben Sie, wird’s heut abend werden?“

„Großartig!“

„Recht, recht, unser Herr Richter verdient’s.“ – –

Nicht nur in diesen Gesprächen auf dem Markplatz, überall in Hohenwart stand Vitus Müller im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er war, trotzdem er immer ein stiller Mann gewesen, zum Liebling der Stadt geworden. Eine zugleich würdige und herzliche Abschiedsfeier wurde vorbereitet, ein Abendtrunk und Imbiß im Kurgarten. Drahtnachrichten wurden an die Standespersonen im weiten Umkreise gesandt. In der Stadt selbst wurde nachmittags gefeiert, im Kurgarten um so fleißiger gearbeitet. Kein Lufthauch ging, doch der Himmel war bewölkt, und die Landschaft hatte für Feinfühlige eine herbstliche Stimmung wie zum Abschied.

Als es dunkel geworden war, fuhren an der Burg zwei Wagen vor, und die Richterfamilie wurde von denselben vier Herren, welche sie vormittags in feierlicher Weise eingeladen hatten, mit derselben Feierlichkeit abgeholt. Alle vier erschienen im Frack, einer sogar mit weißer Binde und Klapphut – der Notar, der für einen Schöngeist galt und auch als Familienvater noch Werth auf sein Aeußeres legte. Vitus war blaß, stotterte und stolperte, mit einem Wort, er hatte das Lampenfieber. Die Damen empfingen ihre kostbare Blumenspende; Ida, in rothem Atlas unter schwarzen Spitzen, sah nach einer Aeußerung des Notars „schön wie eine infernalische Fürstin“ und die hellgekleidete Verena „wie eine Maienlilie“ aus. Die Straße von der Burg bis zum Kurgarten war mit brennenden Pechpfannen besetzt und bildete auf dunklem Grunde ein flammendes Meer.

Ein dichtes Gedränge umgab die Wagen. Da war die Jugend und was zu ihr gehört, Schüler und Lehrer, Kinder und Kindermädchen. Das Geschrei, das der junge Nachwuchs beim Anblick der Gefeierten erhob, war betäubend. Wo die Straße ein Knie machte, mußte man halten. Erste Ueberraschung! Auf den Kuppen und Matten des Vorgeländes und der Berge innerhalb des Gerichtsbezirkes brannten Feuer; auf dem höchsten Gipfel, auf der „Grenzwacht“, an deren Fuß das Gut des Landraths lag, stieg auch die gewaltigste Flamme auf. An den Bäumen im Schloßkeller hingen bis zuhöchst farbige Leuchtkugeln und erhellten malerisch das grüne Gewölbe, eine Welt für sich, ein Stück Morgenland. Aber unter den Bäumen ging es urgermanisch zu.

Als die Gefeierten beim Kurhaus anlangten, drängte alles auf die Straße, und wer nicht mehr hinaus konnte, stieg auf den Tisch, und jedermann ließ sein Taschentuch flattern und schrie: „Hoch, unser Richter hoch!“ Im Garten war ein ähnliches Gedränge und die Begrüßung der Ehrengäste ebenso herzlich, nur stieg man nicht auf die Tische. Die große Wandelhalle mit ihren Gewinden aus Blumen und Tannenreis, ihren Fahnen, Bändern und Teppichen glich einem strahlenden, prachtvollen Lustgarten. Die schön gedeckten Tafeln, die festlich gekleideten Damen und Herren, die Musik – jeder Hohenwarter konnte wie die Obsthändlerin sagen: die Haupt- und Residenzstadt soll uns das nachmachen!

Nach dem ersten Gang erhob sich der Bürgermeister zur ersten Rede. Excellenz Imhof hatte es zur Bedingung seines Erscheinens gemacht, daß er als bescheidener Fremdling nur beim Nachtisch einige Worte sprechen müsse. Herr Zappel also erhob sich und begann:

„Verehrter Herr Stadtrichter! Es sind fünfzehn Jahre, daß die Angesessenen Hohenwarts Sie kennen. In dieser langen Zeit verging sicherlich kein Tag, an dem nicht Hunderte von uns Ihrer gedachten. Entweder man begegnete Ihnen, und Ihr gutes ehrliches Gesicht zu sehen war allein schon eine Freude. Oder es hatte einer einen Rechtshandel, dann sagte er sich: Unrecht kann mir nicht geschehen, denn mein Richter ist ‚unser Richter‘. Oder man sah zur Burg hinauf, und da fiel einem natürlich auch das Amtsgericht ein und Sie als der erste Mann beim Zeug’l. Oder man dachte an den andern Schloßflügel und wiederum an Sie erst als musterhaften Junggesellen und Einsiedler, im letzten Drittel Ihres hiesigen Aufenthalts als ebenso [554] mustergültigen Ehemann in Gesellschaft einer Frau und einer Tochter, über die ich nichts weiter bemerken will als: ‚Hut ab!‘ Kurzum, wenn man alle die Gedanken an Sie in einem Haufen zusammenhaben könnte, wär’s ein Berg, höher als die ‚Grenzwacht‘, aber von lauterem Golde. Denn alle, Beamte, Bürger, Stadtherren, Bauern, Mann unb Weib und Kind und Kegel, kennen Sie als einen Mann ohne Makel, als einen gerechten und rechten Mann!

Und jetzt sollen Sie fort von uns! Eher, hätten wir geglaubt, falle die Burg ein, als daß unser Vitus Müller droben auszieht! Aber Sie bleiben am Leben und im Land – das ist die Hauptsache! Wenn Sie in unserer Hauptstadt Einzug halten, grüßen Sie sie von uns und sagen Sie: wir Hohenwarter schicken ihr unser Bestes! Und wenn Ihnen je die Großstadt zu laut oder die Arbeit einmal leid wird, so kommen Sie in das Städtchen zurück, in das die Berge hereinschauen. Und wenn Sie in nachtschlafender Zeit ankommen, klingeln Sie nur an der ersten besten Thür, denn Sie sind in jedem Haus zu Haus. Uns haben Sie angehört und Sie bleiben unser, dort und da und allezeit!

Ich hab’ starke Lungen, aber so weit hört man mich nicht, als Sie bekannt und geehrt und geliebt sind. Drum schießen wir’s ins Land! Und wenn der Schuß kracht, weiß Berg und Thal: jetzt bringt der Bürgermeister Zappel zu Hohenwart die Gesundheit unseres Richters aus, und auf steht ein jeder und ruft wie wir: ‚Er lebe hoch! hoch! hoch!‘“

Und alle sprangen auf, die Hochrufe ertönten und dazwischen krachte ein Schuß, dessen Donner von den Bergen zurückgegeben wurde.

Der Ansprache des Bürgermeisters folgten manche andere. Der Notar feierte die Burgfrau und das Burgfräulein in „schwungvollen“ Versen. Ein halbes Dutzend ländlicher Schönen überreichte im Auftrage der Berggemeinden ihrem alten, allverehrten Herrn Richter einen Strauß von Almenrausch und Edelweiß. Die Wirkungen des guten Weines und der munteren Musik offenbarten sich mehr und mehr; die weisesten Stadtväter gaben ihre steife Würde und die jüngsten Backfischchen ihre Schüchternheit auf.

Da jedermann Vitus die Ehren herzlich gönnte, sah man kein sauertöpfisches Lächeln, keine scheinheilige Miene; die Feier war eine fröhliche, und der Lärm wuchs mit der Fröhlichkeit. Doch als Excellenz Imhof aufstand und ans Glas tippte, wurde es im Handumdrehen mäuschenstill, so still, daß Vitus Müller das Hochwasser rauschen hörte – oder zu hören glaubte. Jeder fühlte: jetzt kommt die Hauptsache, denn ein Minister kann nur Gescheites sagen. Die längste Rede aus seinem Munde würde niemand ermüdet haben, doch Excellenz hielt Wort und faßte sich kurz.

„Mein lieber Herr Stadtrichter! Hochgeehrte Versammelte! Wohl sind alle darin einig, daß die höchsten irdischen Güter Macht und Recht sind. Möchten wir doch auch eins sein in der Ueberzeugung, daß Recht vor Macht geht. Leider ist das nicht der Fall. Und doch lehrt die Geschichte, das heißt die Erfahrung, daß jeder Machthaber die Erfolge, die er durch List oder Gewalt errang, alsbald durch irgendwelche Rechtstitel zu sichern und so erst das, was er besaß, in sein Eigenthum zu verwandeln bestrebt war. Also muß das Recht über die Macht gehen, oder mehr noch, das Recht muß allein die wahre Macht sein. Die Würde und Bedeutung des Richteramtes ergiebt sich daraus von selbst. Auch der Richter ist ein Priester, der dem Glauben an die Weihe und Unverletzlichkeit des Rechtes zu dienen und diesen vor allem durch seine eigene Lebensführung zu beweisen hat. Er muß ein Beispiel sein für jeden. Wie vollkommen Sie, Herr Stadtrichter, diese Aufgabe gelöst, wie redlich Sie während Ihres langen Aufenthaltes hier diese wichtigste Berufspflicht erfüllt haben, beweist mir der heutige Abend. Als erster Minister des regierenden Fürsten sage ich Ihnen öffentlich dafür Dank, als Ihr einstmaliger Studiengenosse, als Ihr ältester Freund in diesem Kreise sage ich Ihnen, daß ich stolz auf Sie bin!“

Kurze Pause; sämmtliche Anwesende murmelten Beifall. Und wieder hörte Vitus durch dieses Gemurmel hindurch das Rauschen der Wellen.

„Ein Meteor überrascht und blendet uns, aber nach kurzem Glanz zerspringt es und seine Atome werden von der Dunkelheit aufgesogen. Der Strahl eines echten Sternes dagegen braucht lange, bis er das menschliche Auge trifft, doch dann ist er bleibend. Möge dieser Tag Sie für die Stille entschädigen, die Sie in Ihrer Bescheidenheit als das Herkömmliche und Ihrem Wirken Angemessene betrachteten, die Sie nicht selbst unterbrachen. Dank dieser glorreichen Erinnerung werden Sie in Ihren neuen Wirkungskreis treten wie ein Jüngling und dort wie hier unmerklich, aber unwiderstehlich Ihre Umgebung zwingen, Sie durch stille Bewunderung und Nachahmung zu ehren. Dem neuen Stadtrichter, dem alten Hohenwarter Braven, dem priesterlichen Hüter der Gesetze bringe ich dies Glas. Hoch! hoch! hoch!“

„Der Hohenwarter Brave!“ Das Wort zündete. Es erhob nicht nur den Richter, sondern die ganze Stadt. Und der Minister, der erste Mann nach dem Fürsten, sprach das Wort. Wer da seine Lungen schont, ist kein Braver!

Nachdem Imhof mit seinem einstmaligen Studienfreunde, der ihm gegenübersaß, angestoßen hatte, wandte er sich an seine Nachbarin zur Rechten.

„Liebe Baronin, sind Sie mit mir zufrieden?“

„Mehr als das, Sie machen mich glücklich!“ Ida war selig, sie erinnerte sich keines militärischen Abends, der mit dem heutigen verglichen werden konnte. Und alles, was von ihrem Manne gesagt wurde, war so zutreffend! Das letzte Sorgenwölkchen zerfloß ins unermeßliche Blau freudiger Erregung. Als der Zug der Glückwünschenden zu den Ehrengästen um die Tafel wogte, stieß Ida hüben, Vitus drüben mit den Wallern an, sie kräftig, ihr Gatte mit zitternder Hand.

Jetzt kam bei dem Richter ein kleiner, stämmiger, sehr erhitzter Herr an die Reihe. Er trug kein Glas, umschlang den Gefeierten kräftig mit beiden Armen und küßte ihn, da er nicht höher reichte, auf den Rockkragen.

„Mein Neffe Stadtrichter, mein braver, herrlicher Vitus! Komm ein bißchen beiseit!“ Und Onkel Furtenbacher ergriff den Ueberraschten und entführte ihn ins Freie.

„Schön, daß Du auch da bist,“ sagte Vitus gelassen.

„Haspinger, den ich gestern in Steinberg sprach, telegraphierte mir heute; ich bestellte umgehend auf demselben Wege mein Gedeck und fuhr mit dem Eilzug hierher. Bis jetzt gewann ich es nicht über mich, Dir unter die Augen zu treten.“

„Warum?“

„Nun, wegen des Korbes, den ich Dir in der galligen Stimmung der letzten Tage gab.“

„Ja so! Schön war’s allerdings nicht.“

„Du mußt Dich in meine Lage versetzen, in die Lage eines alten Junggesellen. Du mit einer Frau wie die Baronin, mit einer Stieftochter wie Verena lebst im Paradies. Aber ich! Was habe ich vom Leben, außer dann und wann einen guten Tisch? Und da kündigt mir die Köchin, dieselbe Köchin, die heute abend die Hühner mit dem köstlichen Ragout bereitet hat! Dieses Genie will heirathen, dazu noch in einen Garten, wo sie den ganzen Tag damit zu thun hat, die Mistbeete auf- und zuzudecken! Vom Lieutenant will ich nicht reden. Azorl ist mir durch, mit Kärrnern! Ein gemeiner Hund!“

„Lieber Onkel, verzeih’! Ich muß zur Tafel zurück!“

Allein Furtenbacher hielt ihn an einem Knopfe fest. „Laß mich mein Herz ausschütten! Mein Betragen war trotz alledem, ich will nicht sagen häßlich, aber unverzeihlich. Vitus!“ rief der Alte in weinerlicher Rührung, „ich hielt Dich stets für einen braven Mann, allein, daß man im Ministerium auf Dich stolz und für Deine Freundschaft dankbar ist, das hätte ich nie, nie erwartet! Auch ich bin jetzt stolz auf unsere Verwandtschaft! Wieviel brauchst Du? Sechstausend Mark? Siebentausend? Morgen früh punkt acht Uhr liegt jede gewünschte Summe für Dich bereit! Zahle sie mir zurück, wann und wie Du willst! Mach damit, was Du willst! – Doch vielleicht hast Du das Geld nicht mehr nöthig?“

„Mehr als je!“ fiel Vitus ein. „Und ich bin Dir tief, tief verpflichtet.“

„Still, abgemacht! Morgen, sagen wir lieber um elf, denn Du mußt ausschlafen, morgen um elf hast Du das Geld. Punktum! Und jetzt umarme mich!“

Assessor Haspinger, der zu dem Fest zurückgekehrt war, kam eilig herbeigestürzt.

„Herr Stadtrichter! Herr Stadtrichter! Der Herr Landrath redet!“ –

[555] Endlich mußte der Gefeierte doch selber sprechen. Allein nach einigen kaum vernehmbaren Einleitungs- und Entschuldigungsworten versagte ihm die Stimme. Er stammelte nur noch: „Dank – dank – ich bin nicht –“ Dann ließ er sich auf den blumengeschmückten Sitz zurückfallen und barg sein Gesicht in den Händen.

Die Versammelten begriffen, ehrten, theilten seine Bewegung. Keine noch so schöne Rede würde tieferen Eindruck gemacht haben.

Bald darauf zogen sich die Ehrengäste zurück. Der Gefeierte verbat sich Wagen und Geleit, nur Strobel leuchtete mit einer Laterne voraus. Das Brautpaar ging hinter ihm; am Arm seiner Gemahlin, die ihn stützte, ihm besorgt ins Antlitz sah, schritt Vitus langsam und mühevoll bergan. Die Pechpfannen waren ausgebrannt, doch als die Heimkehrenden den halben Weg zurückgelegt hatten, erglühte die Burg in bengalischem Feuer. Droben verabschiedete sich Helmuth.

„Das Fest war schneidig!“ rief er fröhlich. „Auf Wiedersehen morgen!“

In der Wohnung angelangt, küßte Vitus seine Frau auf die Stirn und bat sie, sich zur Ruhe zu begeben; er komme nach. Seine Nerven bedürften der Beschwichtigung, seine Gedanken der Ordnung.

„Ich bin müde zum Umfallen,“ sagte Ida, „aber selig. Du hast doch jetzt keine Furcht, keine Sorgen mehr?“

„Da mir Onkel Anton morgen das Geld vorschießt, nein.“

Vitus blieb allein im Wohnzimmer zurück. Durch die offenen Fenster hörte er die Musik und, wenn sie eine Pause machte, den Lärm der Gäste, die ihm zu Ehren die Nacht durchjubelten. Doch Vitus wachte länger als alle. Es war am Fuße des Schloßberges und im Städtchen still geworden und der Richter saß noch im Sorgenstuhl, matt, schlaflos, nachdenklich, immer das Rauschen des Flusses im Ohr.

Die ersten Kirchenglocken klangen, das Morgenlicht lag über den Bergen und ließ ferne Schneegipfel erglänzen, als Vitus sich in den Saal Karls des Großen begab. Sein Haar war wirr und zerwühlt; er trug noch den Festrock, aber in heißen Gedanken hatte er Hals und Brust entblößt. So sah er wie ein heimkehrender Nachtschwärmer aus, fahl und matt.

Der Saal lag noch in Dämmerung; Vitus trat vor das gebietende Bild des richtenden Königs. Er sah es nicht deutlich, denn seine Augen schwammen in Thränen, doch kannte er ja die alte Malerei Zug für Zug.

Jetzt hob auch er gleich dem König die Hand zum Schwur empor und sprach feierlich: „So wahr mir Gott helfe!“

[565]
9.

Seine Excellenz, Minister Imhof, saß in seinem Empfangszimmer im Kurhaus und schrieb Briefe. Er war zum Ausgang gekleidet. Nur wenige Minuten fehlten zur Mittagsstunde, als ihm der Diener Herrn Richter Vitus Müller meldete. Ach er kommt, um mir für die Anerkennung feierlich zu danken, dachte Imhof. „Ich lasse bitten.“

Vitus, zum Befremden der Excellenz nicht im Dienstkleid, sondern in schwarzer Civiltracht, trat gemessen ein. Nach einigen höflichen Worten hin und her überreichte er dem Minister ein Paket.

Imhof blickte in den offenen Umschlag und sagte: „Geld?“

„Sechstausend Mark.“

„Und was soll ich damit?“ fragte erstaunt der Minister. Dann schlug er sich vor die Stirn. „Mein guter Müller, der Streich sieht Ihnen ähnlich. Sie wollen das Gestohlene ersetzen.“

„So ist es, Excellenz.“

Der Minister lachte. „Mein lieber Stadtrichter und alter Freund, sehr schön, sehr großmüthig, allein es geht nicht!“

„Es muß gehen,“ erwiderte ernst der andere, „denn die Mündelgelder sind von mir entwendet worden.“

Imhof lachte nicht mehr. Er sah dem Räthselhaften besorgt ins Gesicht.

„Erlauben Sie, das ist denn doch eine Auffassung –“

„Wenn ich, um mich deutlich zu machen, das harte Wort gebrauchen muß: nicht der Verunglückte, ich war der Dieb!“

Der Minister saß sekundenlang wie erstarrt, dann aber war er mit einem Satze auf und an der Thür und schloß sie ab.

Vitus Müller legte dem Minister ein offenes Bekenntniß ab, nur eines verschwieg er, den Antheil seiner Frau.

„Eine furchtbare Geschichte!“ flüsterte Imhof und rang die Hände. „Ich glaube Ihnen, daß Sie nicht die Absicht hatten, jemand zu schädigen, daß Sie des sofortigen Ersatzes sicher [566] waren, allein der Paragraph des Gesetzes ist ein eherner Fels, unbiegsam, erbarmungslos!“ Er fuhr sich in die Haare, die sorgfältig gescheitelt und über den kahlen Stellen kunstvoll geordnet waren. „Warum, wird der Staatsanwalt sagen, warum hat der Richter Müller seinem Nachfolger die Anzeige nicht sofort gemacht?“

„Es ist menschlich, daß ich, der Aeltere, der so lange der Vorgesetzte des Herrn Tannhauser war, gerade diesem Manne gegenüber zögerte.“

„Menschlich! menschlich! Ein Wort, womit man alles entschuldigen kann. entschuldigt nichts … Heillos! Bedachten Sie denn, bevor Sie zu diesem Gang sich entschlossen haben, alle Folgen? Sie machen nicht nur sich unglücklich, sondern bringen auch Schmach über die Baronin, Trauer über Ihre Stieftochter; denn vergessen Sie nicht, daß der Verlobte Offizier ist.“

„Wenn Ihr Sohn deshalb sein Wort zurücknimmt, wird er ein tausendmal größeres Unrecht begehen als ich. Was hat der Fall Müller mit der Baronesse Gatterburg zu thun? Ein Wort von Ihnen und Verena wird nicht genannt, nicht vernommen. Ich verwendete das Geld in meinem Nutzen. Hier ist der volle Ersatz. Alles liegt klar.“

„Sie werden dem Gefangniß nicht entgehen können.“

„So kann und wird meine Frau die Scheidung verlangen.“

„Weiß die Baronin um all das?“

„Um nichts!“

Der Minister athmete erleichtert auf, um alsbald aufs neue zu stöhnen.

„Und daß Sie mich, mich mit dem Geständnis, belasten! Verdiene ich das um Sie?“

„Excellenz, Sie haben sich gestern meinen ältesten Freund genannt!“

Die Erwähnung des gestrigen Abends traf den Minister wie ein Schlag. Er warf die Papiere auf dem Schreibtisch zornig durcheinander.

„Wie konnten Sie mit Ihrem Schuldbewußtsein diese Feier annehmen?“

„Excellenz – wie wenn der Himmel Mitleid mit mir gehabt hätte, fügte sich alles so, daß eine Entdeckung meines Vergehens unmöglich war. Daß ich das Geld in irgend welcher Weise ersetzen würde, stand außer Frage. Ich athmete auf, ich war dankbar bewegt. Die Einladung klang so harmlos, die Bürger wollten mir Lebewohl sagen. Einen Händedruck hatte ich mir vielleicht dennoch verdient. Was ich dann während und nach der Feier litt – Ihr Wort: ‚der treue Hüter der Gesetze‘ – o!“

Nach einer Pause ließ Vitus die Hand sinken, die er über die Augen gelegt hatte, und fuhr entschlossen fort: „Recht muß Recht bleiben, hier bin ich. Es werde dem Gesetz wie dem Schuldigen sein Recht: die Sühne!“

„Sie sind ein furchtbarer Mensch!“ rief der andere. „Welche Gedanken wühlen Sie in mir auf! Wenn Sie geschwiegen hätten –“

„Würde mein Gewissen jemals geschwiegen haben?“ erwiderte Vitus schlicht. „Wie sollte ich Recht sprechen ohne den Glauben an dessen Unverletzlichkeit? Hätte ich immer eine Maske tragen, mit der Maske sterben sollen? Excellenz, nicht leicht war mein Kampf, aber daß ich siegte, zeugt für das Recht und die Richter!“

Der Minister sah scheu den Redlichen an, dem eine Thräne über die Wange rann. Auch er wurde von einer tiefen, unwiderstehlichen Rührung ergriffen und hingerissen, er nahm die Rechte des ehemaligen Genossen in beide Hände. „Vitus!“ sagte er, „verzeihen Sie mir! – Sie sind ein ehrlicher Mann.“

„Ein bedauernswerther armer Mann, Excellenz. Schuldig, aber nicht gewissenlos.“

Imhof ging nachsinnend im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Vitus stehen. „Ich muß mit dem Schnellzug in die Hauptstadt. Seine Hoheit erwartet mich morgen früh zum Vortrag. Lassen Sie mir zur Anzeige Zeit bis morgen. Versprechen Sie mir, gegen jedermann von der Sache zu schweigen, bis Nachricht von mir eintrifft.“

„Ich bin meiner Frau Wahrheit schuldig.“

„Gut, sprechen Sie mit der Baronin, aber nur mit ihr! Denken Sie nicht bloß an das Recht, sondern auch an mich. Ich bin Vater, und in dem Punkt – o Gott, ich fühl’s! – nicht standhafter als Sie. Vitus!“ er warf sich dem Bestürzten plötzlich an die Brust, „schweigen Sie bis morgen!“

Die Jugendfreunde hatten sich – wenigstens in diesem Augenblick – gefunden. Schon im nächsten hatte der Minister Fassung und Haltung wieder gewonnen; er klingelte dem Diener und befahl den Wagen. Noch während jener anwesend war, wandte er sich an den Richter:

„Sie machen Besuche? Ich werde mich unterdessen bei den Damen verabschieden. Grüßen Sie den Bürgermeister! Er schoß gestern den Vogel ab. Auf Wiedersehen!“

Vitus verbeugte sich und ging. –

Ida erwartete ihren Gemahl voll Ungeduld. Helmuth war in der Burg, als sein Vater zum Abschied erschien. Der Minister hatte für Mutter und Tochter die gleiche Artigkeit wie immer; er entschuldigte sich, daß er ihnen seinen Sohn für einen Augenblick entführe, und küßte der Hausherrin beim Lebewohl die Hand. Dennoch wurde Ida, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten, das Gefühl nicht los, daß etwas nicht in Ordnung sei. Beim Zusammentreffen mit Helmuth hatte Excellenz, freilich kaum merklich, die Stirn gerunzelt; als Ida vom Wiedersehen in der Hauptstadt sprach, hatte er verlegen gelächelt. Sie war in der schweren Zeit empfindlich wie die Armuth geworden.

Endlich kam Vitus heim, nicht gesprächig, aber keineswegs finster; verändert, doch zu seinen Gunsten. Ida verwandte bei Tisch keinen Blick von ihm. Sobald sie allein waren. warf sie sich an seine Brust.

„Vitus,“ sagte sie, „hab’ ich Deine Liebe nicht mehr? Du hast Herrn von Imhof ins Geheimniß gezogen!“

Müller löste sich sanft aus ihrer Umarmung und ergriff ihre Hände. „Es mußte geschehen,“ erwiderte er, „und lieber ihn, als Tannhauser oder einen Fremden.“

„Du erzähltest ihm doch nur vertraulich –“

„Vertraulich? Dem Minister?“

„Aber – er wird schweigen –“

„Wie kann er das! Die Klage geht ihren Weg.“

Ida stieß einen Schrei aus, jetzt verstand sie ihn. War’s möglich? Er selbst, ohne Noth, freiwillig! Sie sah ihn mit entsetzten Augen an; der Wahnsinnige, der Unbegreifliche!

„Höre mich!“ sprach er. „Alle Einwände, die Du machen kannst, wurden von mir erwogen. Die Wahl blieb immer dieselbe: zwischen Wahrheit und Lüge, Sühne und Schuldbewußtsein, Heilung und Krankheit.“

„Zwischen Ehre und Schande!“ flel Ida leidenschafttich ein. „Die Welt wird nicht die Wahrheit, sondern das Schlimmste glauben. Aus der entschuldbaren That des Augenblicks wird ein Verbrechen! Wir bleiben lebenslang gebrandmarkt.“

„Unsere Bekannten mögen mich verdammen, Dich wird man nur tief bedauern. Uebrigens ist die Welt groß. Der Richter Müller verkriecht sich nach verbüßter Strafe in irgend einen Winkel, für die Baronin Gatterburg öffnen sich alle Thüren.“

„Rede keinen Unsinn!“ entgegnete sie weinend. „Ich kann Dir nicht ausdrücken, wie zuwider mir in diesen Tagen alle Titel wurden. Ich bin Deine Frau, Du durftest nicht hinterrücks einer abgeschlossenen Sache eine neue Wendung geben!“

„Eben weil die Sache nicht abgeschlossen war, brachte ich sie zum Austrag.“

„Die Wahrheit würde ein Geheimniß zwischen uns Zweien geblieben sein. Ein gemeinschaftliches Geheimniß ist ein Band mehr!“

„Auch ein unseliges Geheimniß? Als sie mich gestern so lobten, wagte ich nicht, Dich anzusehen. Ida kennt mich besser, dachte ich.“

„Freilich kenn’ ich Dich besser als alle, und eben darum haben sie mir Dich bei weitem nicht genug gelobt. Schau, Vitus, ich weiß ja, wie alles kam und daß wir beide nichts Gemeines wollten, daß nur Deine unverhoffte Versetzung uns das Elend brachte. Wenn wir einen Fehler begangen haben, ist er mit unsern Todesängsten hundertmal gebüßt. Der Himmel war uns gnädig, er führte die Sache zum Guten; nun machst Du sie schlimm. Das ist ein Frevel!“

„Die himmlische Nachsicht ist kein Rechtstitel. Weißt Du nicht, daß zu einer Lüge ungezählte andere gehören? Ein verlogener Richter! Ida, ich will wieder ein rechtschaffener Mann sein!“

Die Baronin trocknete ihre Thränen. „Nun wohl, mir geschieht recht, aber Verena, was kann Verena dafür? Glaube mir, Excellenz will mit Helmuth hoch hinaus. Jetzt hat er einen Vorwand zum Rückzug.“

[567] „Da wird denn doch Helmuth auch mitreden!“

„Er ist Offizier.“

„Also tapfer.“

„O Vitus, wenn ich mir alles ausmale – die Verhandlung, die Strafe, die Zeitungen! Du wirst des Amtes entsetzt – wir erholen uns von diesem Schlag nicht mehr. Und warum das alles? Aus lauter Hochachtung vor der heiligen Justiz! Wenn jeder öffentlich beichten wollte, was er gegen den einen oder andern der ungezählten Paragraphen verbrochen hat, die halbe Welt wäre im Gefängniß!“

„Die Strafbarkeit wächst mit der Einsicht. Wenn ein Richter strauchelt –“

„Aus Liebe zu seiner Frau strauchelt. Ich bat, ich drängte Dich –“

„Laß Dich aus dem Spiel!“

„Um mich weißzuwaschen, willst Du Dich schwärzer machen. Aber ich rede mit! Wenn schon die Geschichte an die große Glocke kommt, sollen sie auch mich ausläuten. Mir ist es nur um Verena leid!“

„Noch einmal: Dich und Verena berührt die Sache nicht. Ihr begebt Euch zu Deinen Verwandten in Wien. Von dort reichst Du den Scheidungsantrag ein.“

Ida horchte auf. „Was sagst Du?“

„Du kannst diese Rechtswohlthat beanspruchen.“

„Das wäre eine Wohlthat! Vitus! Lernt ihr als Richter so schlecht von uns Frauen denken? Scheidung! In meinen Augen bist Du so schuldlos und brav und liebenswerth wie immer. Der Strahlenkranz, den sie gestern um Dein Haupt gelegt haben, ist wohlverdient und ich sehe Dich nie wieder ohne ihn.“ Sie drückte seine Hand an ihr Herz. „Da, da ist der Paragraph, nach dem ich mich richte!“

„Ich will dies Opfer nicht.“

„Opfer? Ich denke, Treue ist meine Pflicht!“

Vitus zog sie fest an sich. „Nein, meine schöne, lebensfrohe Ida soll nicht mit mir theilen. Jetzt fühlst Du Dich stark, denn noch stehen wir im Kampf. Allein nach der Aufregung kommen die grauen Tage. Ich denke nicht gering von den Frauen, doch daß ihr gegen Nadelstiche empfindlicher seid als wir, das weiß ich. An der Seite des Bestraften würdest Du vergehen. Ich finde im schlimmsten Fall Schutz in der Einsamkeit; ich fürchte sie nicht, ich kenne sie. Aber Du!“

„Aber ich, meinst Du, müsse meine Kaffeeschwestern und Klatschbasen um mich und Hinz und Kunz hinter mir her haben. Die Frau Baronin in allen Ecken! – Seit ich weiß, was ein fahriger Sinn für Unheil stiften kann, bin ich damit zu Ende. Vor Nadelstichen ist mir nicht bange, ich steche wieder. Und wenn es uns zu toll wird, gehen wir ein Haus weiter. Selbander ist man nicht einsam.“

Und sie bot ihre Rechte so treuherzig hin und ihr Blick war so warm, daß Vitus einschlug.

Verena trat mit einem offenen Brief ins Zimmer. Sie war blaß, ihre Miene verstört.

„Eben war Helmuths Diener da,“ sprach sie. „Helmuth schreibt mir – Was soll ich davon halten? Ich bitte Euch, lest, sagt mir: was bedeutet das?“

Die Gatten schauten sich rasch an, dann nahm Vitus bestürzt das Blatt aus der Hand seiner Tochter und las mit halblauter Stimme:

„Liebe Verena! Papa wünscht oder, um genau zu sein, befiehlt, daß ich meine Koffer packe und mit ihm abreise. Meine Rechnung hat er aus seiner Tasche bezahlt. Sehr nett, aber warum soll ich heute nicht mehr nach der Burg? Bei aller Ehrfurcht vor meinem Vater: traue einer diesen Staatskünstlern! Gestern waren doch Papa Excellenz und Stiefpapa Stadtrichter noch die besten Freunde! Sollten sie Montecchi und Capuletti aufführen? In diesem Fall Dein Romeo!

Wie dem sei, wenn ich nicht schon wüßte, wo mein Glück liegt, diesen Nachmittag würde ich es inne geworden sein. Zum ersten Mal im Leben ein schweres Herz! Aber sei nicht bange! Ich würde Dir zulieb Papa den Frieden und dem Fürsten den Dienst kündigen! Sage Dir das, liebe Seele, wenn auch Du beunruhigt bist. Tausend Grüße und Küsse und bald Neues aus der Hauptstadt von
Deinem Helmuth.“ 

Vitus wandte sich zu Verena und sah das jugendliche Gesicht zum ersten Mal von Schmerz entstellt. Er dachte nicht an die Opfer, die er Mutter und Tochter so manches Mal gebracht hatte, ebenso wenig daran, daß Verena die unschuldige Ursache seiner Leiden sei, er fühlte nur, daß sein Liebling nicht ins Verhängniß mitgerissen werden dürfe. Er las zum zweiten Mal das Schreiben, Wort für Wort, und fand seine gute Meinung von Helmuth bestätigt. Der treuherzige Junge wird den Kampf mit seinem Vater wacker ausfechten, aber man muß ihn dabei unterstützen, indem man Verena aus dem Ungewitter entfernt. In Wien lebt ein Schwager Idas, arm wie Hiob, allein auf das neue Wappen der Gatterburg ebenso stolz wie ein Spanier auf einen tausendjährigen Stammbaum. Verena verzichtet auf die Verbindung mit dem Hause Müller, und der alte Onkel wird ihr Vormund und Anwalt.

Zunächst ist Vitus seiner Stieftochter die Wahrheit schuldig. Doch gegenüber diesen unschuldigen, vertrauensvoll auf ihn gerichteten Augen – wie soll er da beginnen? Der kühle Vortrag, der ihm beim Minister gelang, wird ihm hier unmöglich. Er möchte sich vor ihr vertheidigen, den harten Namen, den das Gesetz für seine Handlung hat, mildern. Und er kann das nicht, ohne seine Beweggründe, sein Innerstes, seine volle Zärtlichkeit für die Seinen aufzudecken. Das war dem schlichten Mann nun vollends nicht gegeben. Mag Ida sprechen! Sie wird weder zu wenig noch zu viel sagen.

Er ließ die beiden Frauen allein. Sie saßen auf dem Sofa und die Richterin erzählte, wie alles gekommen war.

„Armer Vater!“ flüsterte Verena.

Die Mutter drückte ihr dankbar die Hand. „So ist’s recht, mein Kind! Wie schwer Dir auch das Leben in der nächsten Zeit werden mag, denke, daß Papa am meisten leidet. Ein Richter als Verbrecher angeklagt!“ Sie streckte die Arme von sich und faltete und rang die Hände. „Mußte es sein? So frage ich immer und kann nicht in seinem Sinne antworten. Alles ließ sich vermeiden. Aber höre ihn das Ungeheuerliche vertheidigen und sei ihm dann noch gram!“

Die Tochter hob betroffen die Augen zur Mutter empor. „Wie meinst Du, wie hätte sich’s vermeiden lassen?“

„Wenn Papa klugerweise geschwiegen hätte. Der Nachruf des ‚Pfannen-Gide‘ wird um kein Titelchen besser, wenn die Welt erfährt, daß er die leere Kasse gestohlen hat. Das Geld wurde von uns ersetzt, niemand kam zu Schaden und wir drei blieben glücklich.“

Verena, das Haupt vorgeneigt, entgegnete ganz leise: „Papa hielt die Anzeige für seine Pflicht.“

„Pflicht!“ rief Ida. „Mir ein Unglück vom Leibe halten, ist auch meine Pflicht. Wenn ich zwischen einer Pflicht, die mir nützt, und einer andern, die mir schadet, zwischen ‚ja‘ und ‚nein‘ wählen muß, bin ich für ‚ja‘.“

„Aber Mama, Unrecht bleibt Unrecht, auch wenn es nicht entdeckt wird. Gerade weil Papa aus diesem Gefühl heraus gehandelt hat, wird den Guten das Herz schlagen für den Mann, der nicht heucheln kann.“

Ida wurde ungeduldig. „Du glaubst doch nicht, den Vater vor mir verteidigen und loben zu müssen? Er mag thun, was er will – ich liebe ihn und Liebe verzeiht alles. Ob er recht hat oder nicht, ich stehe zu ihm. Allein Dein Glück, Deine Verlobung steht in Frage.“

Verena schlang den Arm um die Mutter. „Der Brief erschreckt mich nicht mehr. Wenn Helmuth die Wahrheit erfährt, hält er auch zu uns.“

„Wir wollen’s hoffen, doch dann muß er seinen Abschied nehmen.“

„Unmöglich!“ rief Verena, mit einer Gebärde des Schreckens. „Er – am Anfang der Ehren, so stolz auf seinen Beruf, so ganz erfüllt von ihm! Unmöglich!“

„Oder Du mußt uns verleugnen. Onkel Gatterburg in Wien –“

Ein Kuß verschloß Idas Mund. „Nicht weitersprechen, Mama! Jedes Wort davon ist eine Sünde an Dir und mir! Ich verlasse den Vater im Unglück nicht.“

„Dann bleibt für Helmuth nur der Abschied.“

Verena blickte trüb vor sich hin. „Ich würde mir das eine wie das andere nie verzeihen.“

„Aber Du hast nur diese Wahl –“

[568] Das Mädchen warf sich aufschluchzend an die Brust der Mutter. „Ach, ich war so glücklich!“

„Und sollst es wieder werden,“ antwortete Ida gerührt. „Was von Mann und Weib gilt, gilt auch von Verlobten. Du verläßt uns, jedoch mit unserem Willen, unserem Segen.“

Mit einer schlichten Bewegung legte Verena die Hand aufs Herz. „Gott weiß, wie lieb ich den Helmuth habe, aber ich verlasse meine Eltern im Unglück nicht!“

„Ueberlege Dir’s, meine Tochter!“

„Da ist nichts zu überlegen. Ich fühle, was recht ist.“

Ida blickte in den Schoß. „Sei’s denn! Du stellst Helmuth vor eine harte Entscheidung. Indeß – wenn auch er das Rechte fühlt, wird er handeln, wie er schreibt, und lieber auf den bunten Rock als auf seine Braut verzichten.“

Ein Wort schwebte auf Verenas Lippen, doch sie unterdrückte es. Nach einer Pause äußerte sie: „Helmuth ließ mir durch den Diener mittheilen, daß er vor seiner Abreise einen Brief von mir erwarte. Ich werde ihm schreiben.“

„Willst Du mir den Brief zeigen?“

„Dir, ja, aber versprich mir, daß er für Papa ein Geheimniß bleibt!“

„Gut – und was darf ich ihm sagen?“

„Daß ich seine treue und dankbare Tochter bin.“

Die Richterin entfernte sich schweigend; als sie nach einiger Zeit wieder zu Verena zurückkehrte, saß diese an ihrem Schreibtischchen, den Kopf aufgestützt, still und blaß.

„Der Diener ist da. Bist Du fertig?“

Verena nickte und reichte ihr die wenigen Zeilen hin, die sie aufs Papier geworfen hatte. Sie lauteten:

„Lieber Hellmuth! 0 Dein Vater wird Dir alles erklären. Halte ihn nicht für hart und füge Dich seinem Willen! Ich muß Dir entsagen. Helmuth, ich muß! Mit der Zeit wirst Du mir recht geben. Erinnere Dich, daß ich niemals unglücklich sein kann, wenn ich Dich glücklich weiß … Verena.“  

Ida faltete den Bogen und sagte: „An diesen Ausweg hab’ ich nicht gedacht.“

„Es ist kein Ausweg, sondern meine Pflicht.“

„Schon wieder das traurige Wort! Und darüber bricht Dir das Herz.“

Das Mädchen lächelte wehmüthig. „Du hast gebrochene Herzen immer zu den dichterischen Uebertreibungen gezählt – jetzt werden wir ja sehen.“

Während sie den Briefumschlag versiegelte und überschrieb, trat die Mutter ans Fenster und schaute gedankenvoll nach der ferngelegenen Bahnhalle hinüber. Dann nahm sie der Tochter den Brief ab. Sie selbst werde ihn dem Boten geben; so verweint könne sich Verena keinem Fremden zeigen.

Nach wenigen Minnten kam sie zurück; wortlos sank das weinende Kind in ihre Arme.

Als die Richterin mit Verena bei ihrem Gemahl erschien, waren auch ihre Augen feucht, aber erfüllt von Lebensmuth wie immer. „Da!“ sprach sie, „frage nicht, wie sie den Knoten gelöst hat, laß Dir mein Wort genügen, daß wir beisammen bleiben. Das heißt, ich verschwinde vorläufig.“

„Wir begleiten Dich,“ sagte Vitus, der seine Frau an der einen Hand und seinen Liebling an der andern führte.

„Ich muß zum Tapezierer, zum Fuhrherrn, zur Bahn – hab’ ein Dutzend Gänge, bei denen Ihr nur im Wege seid. Ich nehme das ‚Wiesel‘ mit.“ Die vielbeschäftigte Kleine mit der großen Schürze hieß in der Familie das „Wiesel“. „Quält Euch inzwischen nicht mit schwarzen Gedanken, nicht mit dem, was war und sein wird. Politisiert, spielt Schach! Wenn ich um fünf nicht daheim bin, so geht zu Onkel Anton, fliegt aus! Was ich sagen wollte, Vitus: versprich mir, weder heut noch morgen den kranken Tannhauser zu besuchen. Der Bezirksarzt empfiehlt die größte Schonung; auch haben die Raben-Mutter und zwei junge Raben die Pocken. Meide um unsertwillen das Haus! Und nun gebt mir jedes einen Kuß und gehabt Euch wohl. Auf Wiedersehen!“

Sie begab sich in die Küche; das „Wiesel“ – jetzt die Küchenmagd – spülte das Tischgeschirr. „Laß das jetzt und mache Dich zum Ausgehen fertig, Du begleitest mich zur Bahn.“

Ida trat an den Herd, in welchem für das Spülwasser ein Feuerchen brannte. Sie zog einen Brief aus der Tasche, drehte ihn nachdenkich hin und her, betrachtete die Aufschrift – „Herrn Lieutenant von Imhof“ – dann bückte sie sich, und mit einem Ruck flog das Ganze in die Flammen.

*               *
*

Ueber dem sommerreifen Gelände spannte sich ein Himmel von durchsichtigem Blau. Das Geläute der Kirchenglocken gab dem Landschaftsbilde eine Sonntagsstimmung. Aber im Widerspruch mit diesem Frieden wehte ein frischer kräftiger Wind, er wühlte im Land und trieb mit den Spaziergängern allerlei Kurzweil. Die Richterin fühlte ihn als angenehme Kühle und sanften Druck im Nacken, als sie auf der Straße zum Bahnhof dahinschritt, festen und doch leichten Fußes. In kurzem Abstand hinter ihr trieb das „Wiesel“ – jetzt Kammerjungfer – mit einer großen Pappschachtel in der Rechten vor dem Winde. Glockenschläge vom Bahnhof her verkündigten das baldige Nahen des Eilzugs.

Ida sah auf die Uhr über dem Eingang des Bahngebäudes. Jetzt erhält Vitus die Zeilen, die sie vor ihrem Weggang in Hast und Heimlichkeit an ihn geschrieben hat. Zurückgeholt kann sie nicht mehr werden, dazu ist es zu spät, und sie selbst denkt nicht an Umkehr. Sie trat ein und an den Schalter.

In der Nähe des Wartezimmers für hohe und höchste Herrschaften stand ein Schwarm Hohenwarter; sie hatten gehört, daß der Minister mit diesem Zug abzureisen gedenke, und wollten es sich nicht nehmen lassen, durch ihre Anwesenheit dem hohen Besucher ihres Bades eine letzte Ehre zu erweisen, die freilich von diesem nicht in ihrem ganzen Umfang gewürdigt zu werden schien. Denn Excellenz Imhof war mit einem verdrießlichen Gesicht durch ihre Reihen hindurchgeschritten und harrte nun, umgeben von einem Kreis staatlicher und städtischer Würdenträger, schweigend der Zeit zur Abfahrt.

Lieutenant Helmuth stand in trüber Stimmung am Fenster, das auf den Bahnsteig ging. Verena hatte nicht geschrieben. „Näheres mündlich!“ ließ ihm die Baronin durch den Burschen sagen. Helmuth warf einen finsteren Blick aus dem Fenster. Dort stolzierte sein Schütz im Gedränge der Geschäftigen und Müßigen mit gespreizten Beinen, und dessen Braut Kathi schmiegte sich zärtlich an ihn. Wie verliebt sie ihren Bräutigam anblickt! Diese glücklichen kleinen Leute!

Ein langgedehnter Pfiff, ein gelles Läuten nebenan – der Zug fährt in die Halle. Nun geräth die stille Gesellschaft in Bewegung. Der Bahninspektor reißt vor Seiner Excellenz beide Thürflügel auf. Draußen rennen die Reisenden, die Bleibenden, die Beamten wirr durcheinander.

Imhof Vater und Sohn sind bereits in der für sie freigehaltenen Abtheilung eines Wagens erster Klasse. Man giebt das zweite, das dritte Zeichen. Da, im letzten Augenblick, wird die schon geschlossene Thür von dem Bahninspektor diensteifrig noch einmal aufgerissen und Excellenz macht große Augen – die Baronin steigt ein.

„Excellenz haben doch nichts dagegen?“ sagt sie mit ihrem freundlichsten Lächeln, „auch ich fahre nach der Residenz.“

Das Gesicht des Lieutenants strahlt. „Ausgezeichnet!“

[581]
10.

Das Schloß des Prinzen Rüdiger ist ein Renaissancebau, vornehm und gefällig. Die östliche Stirnseite und zwei Flügelgebäude haben im Erdgeschoß Säulengänge; Blumen, Gesträuche und ein mächtiger Springbrunnen zieren den Vorplatz. An den westlichen Langbau grenzt ein Park. Aus dem dorthinaus gelegenen Arbeitszimmer des Prinzen sieht man über einen alten Lindengang weg ins freie Gelände, hinüber zur blauen Ferne des Gebirgs. Der Prinz stand am Fenster, das der Morgenkühle geöffnet war, als sein Adjutant Falkenberg bei ihm eintrat.

„Ein wundervoller Morgen,“ sagte der junge Fürst, indem er einen letzten Blick ins Grüne warf. „Am liebsten würde ich zu Pferde steigen. Leider ist es dafür zu spät. Um acht Uhr erwarte ich Excellenz Imhof zum Vortrag, zum ersten Vortrag, mein Lieber! ‚Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.’ Ich habe mich bis zwei Uhr früh durch Imhofs Denkschrift durchgearbeitet, und als ich fertig war, da war’s auch mit dem Schlaf vorbei. Um mich zu beruhigen, zu erheitern, griff ich auf gut Glück ein Buch heraus und – rathen Sie, was mir in die Hände fiel?“

Der Adjutant machte ein verlegenes Gesicht. „Hoheit wissen, wenn das Buch kein militärisches war –“

Ein Lächeln überflog das strenge, bräunliche Gesicht des Prinzen. „Da liegt es noch: ‚Goethes Italien’.“

Herr von Falkenberg lächelte auch, aber nur aus Höflichkeit.

„Merken Sie doch für die nächste kleine Tafel Professor Weber vor, er ist ein Goetheforscher. Ich möchte näheres über die schöne Mailänderin erfahren, die in Rom die Neigung des Dichters gewann. Das Wenige, das Goethe selbst darüber sagt, hat mich ergriffen. Ist Ihnen die Stelle bekannt?“

[582] „Zu meinem Bedauern nein, Hoheit.“

„Der Dichter, von dem Mädchen hingerissen, erfährt, daß sie Braut sei. Wie kommt er nun darüber hinweg? Hören Sie!“ Er las:

„‚… indem ich sie als Braut, als künftige Gattin ansah, erhob sie sich vor meinen Augen aus dem trivialen Mädchenzustande, und indem ich ihr nun eben dieselbe Neigung, aber in einem höhern, uneigennützigen Begriff zuwendete, so war ich, als einer, der ohnehin nicht mehr einem leichtsinnigen Jüngling glich, gar bald gegen sie in dem freundlichsten Behagen.‘ Wie finden Sie das?“

„Wenn man dem Dichter glauben darf –“

„Sie unverbesserlicher, ‚leichtsinniger Jüngling‘ –“ Die Standuhr schlug acht. Der Prinz klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch zurück. „Schon acht,“ rief er. „Auf unsere Posten, lieber Falkenberg! Ja, ja, ‚die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende!‘“ – –

Der Vortrag Seiner Excellenz hatte lange gedauert. Als der Minister seine Schriftstücke langsam und zögernd in die Mappe schob, fuhr sich Rüdiger über die gefurchte Stirn.

„Sie haben noch etwas auf dem Herzen?“ fragte er den Zaudernden.

„Eine persönliche Bitte, Hoheit.“

„Einem vorsichtigen Staatsmanne, einem redlichen Beamten wie Ihnen kann man sie im voraus gewähren.“

„Die Gemahlin des Stadtrichters Vitus Müller bittet heute um gnädiges Gehör.“

„Müller? Stadtrichter Müller? Mir unbekannt.“

„Bisher Amtsrichter in Hohenwart.“ Der Prinz horchte auf. „Seine Gemahlin ist die Mutter meiner zukünftigen Schwiegertochter, der Baronesse Gatterburg.“

„Ah, jetzt weiß ich – will sie nicht in die Residenz?“

„Sie kommt, um für ihren Mann die Nachsicht und Gnade Eurer Hoheit zu erbitten. Es handelt sich um die Unterschlagung amtlicher Gelder.“

Der Prinz fuhr empor. „Unterschlagung amtlicher Gelder? Ich bin für die Dame nicht zu sprechen, Herr von Imhof!“

„Hoheit, ich drückte mich nicht glücklich, nicht einmal genau aus. Allerdings hat sich Richter Müller eines Amtsvergehens schuldig gemacht, doch wie das Schicksal ihm zugleich widrig und hold gewesen, und wie er selbst dann die entscheidende Wendung herbeigeführt, um seine Schuld zu sühnen, das verdient die Theilnahme Eurer Hoheit.“

Der Prinz sah Imhof ungläubig an.

„Nicht weil auch das Glück meines Sohnes von dem Entschlusse Eurer Hoheit abhängt, spreche ich für den Richter,“ fuhr der Minister mit Wärme fort, „sondern weil ich den Unglücklichen trotz seines Vergehens für einen redlichen Mann halte!“

„Ein unredlicher Redlicher! Sie spannen meine Neugier. Ich kann den Fall ja auch von Ihnen hören!“

Imhof bewies sich brav in dieser schwierigen Lage.

„Hoheit!“ entgegnete er, „die Dame hat mich gebeten, ihre Sache selbst führen zu dürfen.“

„Ich bin nicht bestechlich. Wenn der Richter geurtheilt hat, darf der Fürst begnadigen. Frau Müller wendet sich zu früh an mich.“

„Auch ich habe das erwogen und glaube als Eurer Hoheit getreuster Rath den Eingriff in den gewohnten Rechtsgang verantworten zu können. Wird Müller bestraft, so ist er als Beamter unmöglich. Eure Hoheit, der Richter ist vielleicht kein glänzender Verstand, aber eine große sittliche Kraft. Geistreiche Arbeiter haben wir die Fülle, allein in einer Zeit wie die unsrige thun ganze und feste Männer noth. Vitus Müller war vor einer Entdeckung seiner Schuld, vor einer Verurtheilung sicher, er hat sich als sein eigener Ankläger bei mir gestellt aus freiem Antrieb, aus lebendigem Rechtsgefühl! Hoheit, dieser Mann muß dem Staate erhalten bleiben!“

Nach einer Pause sagte der Prinz: „Sei’s denn, ich werde Ihren Schützling empfangen, aber ich verspreche nichts. Sie haben mich nicht überzeugt. – Ist Frau Müller schon in der Residenz?“

„Vorläufig hält sie sich bei meiner Schwägerin auf. In begreiflicher Angst erwartet sie dero gnädigste Entscheidung.“

„Nun, den Eindruck einer furchtsamen, überfein empfindenden Natur hat sie nicht auf mich gemacht.“

„Ihres Mannes Ehre, ihres Kindes Lebensglück stehen auf dem Spiel, das erschüttert auch ein starkes Herz. Ich will nicht sagen, daß sie fein empfindet, wie denn überhaupt an Bildung, Schliff und vornehmer Haltung unendlich viele Frauen sie übertreffen werden. Aber wo es sich um Großes handelt, hat sie ein starkes Empfinden und Thatkraft. Damit werden Wunder verrichtet.“

Die Miene des Prinzen heiterte sich auf. „Gestehen Sie, mein Freund: als Sie sich ein Urtheil über die Frau bildeten, sprachen doch auch Ihre Augen mit?“

In das vertrocknete Gesicht Imhofs kam Gluth und Ausdruck. „Hoheit, die Dame ist Mutter einer Braut, zum zweiten Male Frau, trotzdem gilt sie unbestritten noch für eine Schönheit. Solche Lebenskraft verleihen nur die Götter! – Um mich angemessener auszudrücken,“ setzte er hinzu, über seinen Schwung noch tiefer erröthend, „dieser glückliche Widerstand gegen die Wirkungen der Jahre setzt Herzensgüte und edle Heiterkeit voraus.“

„Oder ein ziemliches Maß Selbstsucht,“ fiel der andere ein. „Wie Sie wissen, ist gerade heute meine Zeit beschränkt. Jetzt erwarte ich meinen Hofstab, mittags bezieht mein Regiment zum ersten Male die Hauptwache und auf Befehl meines Vaters marschiert die Compagnie hier vorüber, dann –“ Er trat an den Schreibtisch, schob den Band Goethe beiseite und überflog ein Blatt mit Aufzeichnungen. „Die Geschäftsträger – die Behörden – anderseits haben Sie recht: Ungewißheit, wenn es sich um Glück und Ehre handelt, ist auch für ein starkes Herz eine Folter. Grausam bin ich nicht. Sei’s denn! Ich erwarte Sie mit Ihrem Schützling um zwölf Uhr.“

Der Minister verneigte sich dankend; der Fürst sah ihn spöttisch an. „Sie haben mich nicht zu Gunsten der Betheiligten gestimmt. Sie verriethen zu viel und zu wenig. Anstatt mich zu überraschen, ließen Sie mir Zeit, zu überlegen.“

„Hoheit, bin ich deshalb zu schelten oder zu loben?“

„Je nachdem. Jedenfalls bitte ich Sie, der Dame schlichtweg Auskunft zu geben, keinen Trost!“

*               *
*

Aus der Mittelthür des fürstlichen Arbeitszimmers trat man in den sogenannten schwarzen Saal. Die Fliesen waren von dunklem Marmor, die Wände mit buntgewebten Teppichen und mit Schnitzwerk bekleidet; die Decke bildete ein Meisterwerk eingelegter Arbeit. Das Holz war dunkel geworden, Färbung und Vergoldung verblaßt, doch wenn Hunderte von Kerzen in den Kronleuchtern brannten, machte der Saal noch immer einen festlichen, warmen Eindruck. Drei Pfeilerbogen führten nach vorn in den heiter gehaltenen Vorraum, sie entsprachen den hochgewölbten Fenstern des letzteren, die nach Osten, auf den Schloßplatz gingen. Am Tage erhielt der schwarze Saal einzig von dorther sein Licht; dann lag er im Halbdunkel, in düsterer Pracht und verdiente seinen Namen.

Die Thürflügel des Arbeitszimmers standen offen. Wenn der Prinz, der dort auf und ab schritt, an diesem Rahmen vorüberkam, konnte er jenseit des schwarzen Saals im Mittelfenster die silbern zerstäubende Wassersäule des Springbrunnens sehen. – Das unerwartete Nachspiel, das sich heute früh an den ersten Vortrag des Ministers geknüpft hatte, beunruhigte den Prinzen nachhaltig. Er war kein weiches Gemüth, dennoch hatte die Vorstellung, das fürstliche Amt mit dem schönsten Vorrechte des Herrschees zu beginnen, auch für ihn ihren Reiz.

Aber muß nicht ein Fürst mit seinem Vorrechte sparsam sein? Und beginnt man klugerweise mit dem, was man sparen soll? Ist es fürstlich, den Unterthan gegen den Ausspruch des Gesetzes in Schutz zu nehmen?

Er hielt inmitten des Zimmers inne und verschränkte die Arme, in Nachsinnen verloren. „Nein,“ sprach er dann plötzlich leise vor sich hin, „Recht geht vor Gnade.“

Ein gedämpfter Tritt im schwarzen Saal ließ den Prinzen aufschauen. Sein Kammerdiener näherte sich. Zwischen beiden bestand Fühlung ohne Worte. Ebenso sachte, wie er gekommen war, begab sich der Diener an seinen Standort zurück, und alsbald erschienen im Eingangssaal, für den Prinzen wie auf einer beleuchteten Bühne, Excellenz Imhof, der Adjutant und eine Dame. Alle drei hielten sekundenlang in der mittleren Pfeilerweite, dann begaben sie sich in den Schatten des schwarzen Saals. Dort [583] blieben die Herren stehen, ihre Begleiterin jedoch, die Baronin, trat aufs neue ins Licht, in das Zimmer des Prinzen. Sie verneigte sich tief. Als sie wieder aufrecht stand, vornehm und schlank in ihrer schlichten schwarzen Kleidung, als sie den Kopf erhob und ihm das blasse Gesicht, die dunklen lodernden Augen zuwandte, da dachte der Prinz nicht im entferntesten mehr an die unverletzliche Allgewalt des Rechts, sondern bot ihr, nicht ohne Verwirrung, mit ritterlicher Artigkeit einen Stuhl an.

„Nach den Andeutungen Herrn von Imhofs,“ begann der Fürst, welcher Ida gegenüber Platz nahm, „nach seinen allerdings sehr unbestimmten Andeutungen ist die Veranlassung, die Sie zu mir führt, eine traurige.“

„Eine traurige, Hoheit; aber ich habe niemals einen Gang freudiger und zuversichtlicher gethan als diesen. Ich vertraue zu der Güte Eurer Hoheit; Hoheit sind der einzige, der meinen Mann trösten, aufrichten und der Welt und mir wiederschenken kann!“

Der Prinz blickte die Sprecherin erstaunt an. „Ich will nur hoffen,“ fiel er ihr dann kalt ins Wort. „daß unsere Auffassungen nicht zu weit auseinandergehen. Nach den Mittheilungen Imhofs machte sich Ihr Gemahl eines Vertrauensbruches schuldig!“

„Hoheit,“ sagte Ida und faltete flehend die Hände. „Wenn mein Mann aus allzu großer Nachsicht gegen mich einen Fehler begangen hat, so wird derselbe durch seine Bravheit, durch das Vorher und Nachher aufgeschluckt wie ein Sandkorn vom Meer. Ich im besondern danke Gott für den einen schwarzen Tag, denn ohne den hätte es in meinem beschränkten Kopf nie getagt, hätte ich nie erkannt, was für einen Schatz ich an meinem Mann habe und wie stolz ich auf ihn sein muß.“

Sie selbst, dachte der Prinz, die Unglückliche! „Eine Frage, Frau Müller: Wandten Sie sich mit Wissen und Willen Ihres Gemahls an mich?“

„Bewahre!“ versetzte sie treuherzig. „Er erhielt meinen aufklärenden Brief so spät, daß er mich nicht mehr zurückhalten konnte. Denn eigensinnig ist auch er wie jeder Mann, er will sich mit Gewalt für mich opfern. – Aber ich dulde es nicht und Eure Hoheit müssen ihm den Kopf zurecht setzen. Darum bin ich hier und darum rede ich. Die Sache ging nämlich folgendermaßen zu …“

Prinz Rüdiger verwandte keinen Blick von der Erzählerin. Imhof hatte recht, das war der Ton der Wahrheit, so reihte sich Ereigniß an Ereigniß, so wurde ihr Gatte schuldig ohne verbrecherische Absicht, so wurde ein begreiflicher Leichtsinn zum Vergehen, ein begreiflicher Leichtsinn!

Während er kein Wort verlor, zuckten ihm die Gedanken wie Blitze durch den Kopf. Was würde er, Prinz Rüdiger, an des Richters Stelle gethan haben, wenn ihn diese Lippen, diese Augen gebeten hätten?

Er athmete mit der Baronin auf, als sie die Wende schilderte, die Befreiung vom Alp, die Bewahrung vor der Schande. Er war gerührt und erschüttert. als sie ihm bekannte, wie sie ihres Mannes freien Entschluß erst nicht begriff, dann für Wahnsinn hielt, endlich doch bewundern mußte.

„Aber so groß das Gefühl ist, das meinen Mann leitet, es darf nicht gehen, wie er will – nach dem strengen Recht. Wenn es darauf ankäme, müßte ich mindestens die doppelte Strafe erhalten. Das werden wieder die Richter nicht wollen. Denn mich schützt meine Einfalt. Im Mund einer Frau ein spaßiges Wort! Und doch ist’s wahr. Wie wurde ich, wie werden Hunderttausende erzogen? Ein bißchen Französisch und Klavier, ein bißchen allerhand. Und dann schau, daß Du unter die Haube kommst, denn das ist die Hauptsache! Was die albernen Menschen eigentlich zusammenhält, vom Staat, vom Recht, vom Handel und Wandel, von der Wirthschaft im Großen und Kleinen hat man mir soviel wie nichts gesagt. Und darum begriff ich auch meinen Mann so lange nicht. Erst das Ich, dachte ich, und dann das Recht. Allein dann wurde es licht in mir, ich sah ihn so gut, so rechtlich, so wahrhaft adelig, und ich fühlte, daß in meinem leeren eitlen Herzen, die echte Liebe Einzug hielt. Und mit dieser Liebe wie mit einem Mantel schütze ich ihn gegen die kalte Welt!“

„Die kalte Welt!“ wiederholte er leise.

„Doch meine Liebe richtet gegen seine unerbittlichen Entschlüsse nichts aus. Da verfiel ich auf Eure Hoheit. Wenn ihm sein Fürst verzeiht, wenn Hoheit ihm mit einem Händedruck sagt: ‚Genug! Du bist ein braver Mann!‘ dann, hoffe ich, muß er gehorchen. Macht soll nicht vor Recht gehen, allein es giebt eine Macht, die göttlich, die gerecht und gütig zugleich ist. Hoheit, ich bitte um Ihren Schutz, Ihre Gnade für den redlichsten und besten Mann!“

Sie glitt vom Stuhl auf die Kniee. Der Prinz sprang auf, ergriff die flehend ausgestreckten Hände und zog sie empor. Hingerissen küßte er ihre Hände und fühlte davon Feuer in seine Adern rinnen. „Alles, alles ist ihm verziehen,“ rief er. „Er soll in meine Dienste treten – ich will –“ Er eilte in fieberischer Erregung an seinen Schreibtisch, um einen Befehl aufs Papier zu werfen, da fiel ein Buch zur Erde. Bevor er es hindern konnte, hatte sich Ida danach gebückt und überreichte es ihm. Es war der Band Goethes. Und das Buch erinnerte ihn an die vergangene Nacht, an die edlen Gedanken und Vorsätze, an die großen Entwürfe, die ihn nicht schlafen ließen. Gott, was will er thun! Gnade für Recht ergehen lassen aus diesem Grunde? Das Vertrauen und die Dankbarkeit einer treuen Seele gewinnen, um sie zu verderben? Die erste fürstliche Handlung soll Trug sein, die erste Gnade in Wahrheit ein Unrecht bedeuten? Er ließ sich in einen Sessel fallen und senkte die Stirn.

Nach einer Weile sagte er mit veränderter rauher Stimme, ohne Ida anzusehen: „Ich verspreche Ihnen die volle Begnadigung Ihres Gatten. Indessen Sie begreifen – ich muß dem Rechte seinen Gang lassen. Erst der Richter, dann ich. Allein wie auch das Gericht die Schuld Ihres Mannes beurtheilen mag, mein Urtheil steht fest.“

„Ach, Hoheit,“ erwiderte Ida traurig, „ich habe umsonst geredet. Recht, Richter, Schuld! Was Schuld ist, dünkt mich, ist auch dem einfachen Geiste klar. Gott helfe mir – um eine so kleine Schuld kränkt man nicht ein großes Herz!“

Der Fürst erhob sich gerührt. Wahr! dachte er. Wer vor der bürgerlichen Tugend, vor der stillen Größe dieses Richters keine Achtung empfindet, dessen Seele ist todt. Und sie ist dieses Redlichen Weib! Er erinnerte sich an die Worte Goethes. Soll er selbst nicht eben soviel Edelmuth und starken Willen besitzen wie der Dichter, soll nicht auch er imstande sein, ihr, die sich also vor seinen Augen erhob, dieselbe Neigung, aber in einem höheren, uneigennützigen Begriff zuzuwenden?

Nicht die Dauer eines Kampfes bestimmt den Werth des Erfolges. Als der Fürst im nächsten Augenblick abermals Idas Hände ergriff und drückte, that er es mit einer anderen, edleren Empfindung als vorher, und auf seinem Antlitz lag der Glanz des schönsten Sieges.

„Sie haben recht,“ sagte er innig. Er ging zu der offenen Thüre und rief den Minister herbei. „Imhof,“ wandte er sich an den Eintretenden, „ich theile Ihre Meinung über den Stadtrichter Müller in jedem Punkte. Aber zunächst will ich ihn für meine Dienste. Indem ich mich mit rechtschaffenen, erprobten Männern umgebe, nütze ich doch auch dem Staat. Hofrath Hasse tritt in den Ruhestand. Berufen Sie in meinem Auftrage Müller auf diesen Vertrauensposten. Heute noch!“ Er sah in das strahlende Gesicht Idas und setzte hinzu. „Sofort!“

Sie wollte dem Fürsten zu Füßen sinken, er duldete es nicht. Unterdessen war es in der Vorhalle lebendig geworden. Ein glitzernder Schwarm Offiziere erfüllte sie, Säbel und Sporen klirrten. Die Fenster wurden geöffnet und die Klänge einer kriegerischen Musik drangen herein. „Die Wache,“ sagte der Prinz und richtete sich unwillkürlich hoch auf. „Unser Lieutenant ist ja schon eingerückt, Imhof. Wann macht er Hochzeit?“

Der Minister warf einen raschen Blick auf Ida. „Wenn die Eltern der Braut damit einverstanden sind, am Geburtstage Eurer Hoheit.“

„Brav. Ich melde mich zum Brautführer, Baronin. Und wann wird sich mein neuer Hofrath bei mir melden?“

„Wenn Hoheit erlauben, noch heute!“ versetzte Ida lächelnd, während ihr die Thränen über die Wangen liefen.

„Um so besser. Zu jeder Stunde willkommen. Sie haben es gehört, lieber Falkenhorst.“

Die Sporen des Adjutanten klirrten zusammen. Man war in den schwarzen Saal getreten.

„Und nun, meine Gnädige,“ verabschiedete sich der Prinz, „Sie wissen, der Dienst – Keinen Dank! Leben Sie wohl!“ Er berührte ihre Fingerspitzen und trat zu seinen Offizieren.

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[586] Um sechs Uhr abends wurde Seiner Hoheit Hofrath Müller gemeldet. Der Prinz erhob sich rasch, ging dem Eintretenden entgegen und reichte ihm die Hand. „Mein lieber Hofrath,“ sagte er lebhaft, während er das offene, ehrliche Gesicht betrachtete, „kein Wort von der Vergangenheit! Hören Sie, nicht jetzt, nicht ein andermal! Minister Imhof ordnet die Sache ohne uns –“ der Mann gefiel ihm und so setzte er mit voller Aufrichtigkeit hinzu: „Wir sind Freunde!“

Die Abendsonne schien durch das Rundfenster ins Treppenhaus. Die Wandgemälde – deutsche Kaiser und Könige – welche die Eingangshalle schmückten, wurden im warmen Lichte lebendig. Eins war ein Nachbild von Dürers Karl dem Großen. Beim Eintritt hatte die innere Erregung das Auge Müllers umflort, jetzt da er in dankbarer, freudiger Bewegung das Schloß verließ, fiel ihm das Gemälde auf. Es erinnerte ihn an seinen König Karl in Hohenwart.

Der höchste Gerichtsbann, die Krone hat ihn freigesprochen! Unwillkürlich nickte er dem Erhabenen mit einem seligen Lächeln zu. „Frei! Aber der Krone, dem Staate doppelt verpflichtet!“

Unweit vom Schlosse hielt der Wagen, der ihn vom Bahnhofe hergebracht hatte. Mutter und Tochter saßen drin. Als Vitus wieder bei ihnen Platz nahm, fragte ihn Ida mit tiefer Bewegung: „Ist jetzt alles gut?“

„Alles!“ erwiderte er, „und Du habest ein Herz so treu wie Gold, sagt der Prinz.“

„Sagt er? – O Vitus, Vitus, was für ein Abend!“

Am Nachmittag des folgenden Tages begegnete Ida dem „Drachen von Hohenwart“. Als die Majorin von der geheimnißvollen Abberufung des Stadtrichters in die Residenz hörte, fand sie in der Nacht keinen Schlaf und am Morgen keine Ruhe. Sie benutzte den ersten Zug, um mit Minna nach der Hauptstadt zu fahren. Sie gönnten sich kaum das Mittagsbrot, streiften ruhelos durch die Straßen und fingen die Gesuchte am Ende glücklich ab. Nach den gegenseitigen Freudenbezeigungen über die Ueberraschung und den merkwürdigen Zufall erzählte Ida die große Neuigkeit. Die Majorin blieb sekundenlang sprachlos, dann lächelte sie giftig.

„Hofrath Seiner Hoheit? Aber Frau Baronin, bedachten Sie auch, was die böse Welt dazu sagen wird?“

„Ich verstehe,“ erwiderte Ida gelassen. „Allein die Welt glaubt nicht alles, was sie sagt, und darum ist die Welt nicht so bös, wie man sie macht. Uebrigens ein für allemal, liebe Majorin – wir werden uns ja hoffentlich noch recht oft sehen – nennen Sie mich nicht immer Frau Baronin! Der Titel meines Mannes ist Hofrath. Wenn Ihnen jedoch die Hofräthin nicht gefällt, so nennen Sie mich gut bürgerlich Frau Müller!“