Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Tunner, Joseph Ernst
Band: 48 (1883), ab Seite: 124. (Quelle)
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Tunner, Marie (Tonkünstlerin, geb. zu Gratz am 15. April 1844, gest. ebenda am 20. October 1870). Sie schrieb unter dem Pseudonym Eugen Eisenstein, welchen Namen sie wohl gewählt haben mochte im Hinblick auf die in der Familie Tunner vererbte Beschäftigung mit dem Eisenwesen in Steiermark. Eine Tochter des berühmten Historienmalers Joseph Ernst [s. d. S. 115] und eine Nichte des berühmten Bergmannes Peter Ritter von Tunner (vergl. S. 127 die Stammtafel), genoß sie im Hause ihres kunstsinnigen Vaters die sorgfältigste Erziehung, erlernte Latein, so daß sie die römischen Classiker in der Ursprache las, und widmete sich auch mit ganzer Hingebung der Tonkunst, für welche sie von frühester Jugend schon hervorragende Begabung zeigte. Für die Entfaltung und Heranbildung ihres musikalischen Talentes bot ihr das elterliche Haus, in welchem mit aller Liebe Kammermusik gepflegt wurde, die trefflichsten Hilfsmittel. Als Tochter eines idealen Künstlers wurde sie von allem Anfang mit den Schönheitsgesetzen und den Regeln der Kunst im Allgemeinen vertraut und hatte dieselben auch praktisch angewendet in den Werken ihres Vaters täglich vor Augen. Zunächst suchte sie diese allgemeinen Regeln in ihrem eigenen Fache, der Musik, besonders auf dem Claviere zum Ausdruck zu bringen. Die stylgetreue Auffassung der vorzüglicheren Componisten durch mustergiltig reine Technik in möglichster Vollendung vorzuführen, war das Ziel, welches sie sich vorgesteckt hatte. Doch nicht nur bei der Musik, sondern auch in der Beurtheilung der verschiedenartigsten Werke der bildenden und darstellenden Kunst nahm sie sich jene Gesetze zum Anhaltspunkt, und auf diese Weise bildete sie sich selbst eine „Vergleichende Aesthetik der Kunst“, indem sie die eine durch die andere zu erklären, zu ergänzen und festzustellen suchte. Aber sie beschränkte sich nicht blos auf [125] solche theoretische Studien, sie ging noch weiter und strebte auch nach praktischer Seite in diesem Sinne zu wirken. So veranstaltete sie, wie ein in den Quellen angeführter größerer Aufsatz Hammerling’s berichtet, in ungewöhnlicher Art Concerte. Wie sie nämlich sämmtliche Nummern eines solchen allein zu spielen pflegte, gab sie nun ihren Zuhörern ein gedrucktes Programm in die Hand, in welchem sie denselben ausdrücklich zu Gemüthe führte, was sie bei jedem Tonstücke künstlerisch zu empfinden und wie sie es aufzufassen hätten. Dann ging sie noch einen Schritt weiter, indem sie die Kirchenmusik zu reformiren und den Choral an Stelle des Kirchenorchesters zu setzen versuchte. Ein gewiß ebenso beachtenswerther als praktischer Gedanke, da es doch viel leichter ist, gute, wenigstens anhörbare Gesangstimmen, als halbwegs erträgliche Instrumentisten zusammenzubringen. Man braucht ja nur eine Orchestermusik in einer Landkirche anzuhören, um für die Idee des Chorals gewonnen zu werden. Marie stellte daher selbst einen Chor kunstsinniger Genossinen zusammen und ließ sich keine Mühe verdrießen, um die Pfarrkirchen der Stadt Gratz ihrem Plane geneigt zu machen, den Kampf mit den Bläsern und Geigern aufnehmend. Nun, sie gewann auch Terrain, aber zuletzt scheiterte ihr Plan an dem mit Erbitterung vertheidigten alten Rechte der Geiger und Bläser und an dem conservativen Friedensbedürfnisse der Chorregenten und Pfarrverweser. Daß es bei dem Allem nicht an Angriffen auf die Dame fehlte, daß ihr Thun und Trachten als wunderlich bezeichnet und bespöttelt wurde, begreift sich bei dem beschränkten Zustande der menschlichen Natur von selbst, aber da es der Künstlerin bei ihren gesunden Ideen nur um die Sache und nicht um ihre Person zu thun war, kümmerte sie sich nicht darum, was die Leute von ihr redeten. Ueberhaupt in ihrem ganzen Wesen wahr und offen, buhlte sie weder um die Gunst eines Menschen, noch hielt sie je mit ihrer eigenen Ueberzeugung zurück, sondern sprach dieselbe vielmehr rückhaltslos gegen Jedweden aus. So genial in ihrem Wesen, so bedeutend in ihrer Kunst, sie glänzte nicht und suchte auch gar nicht zu glänzen. Und wie in einer Vorahnung eines baldigen Todes raffte sie sich zu einer That zusammen, welche als das Werk einer 26jährigen Jungfrau unsere Bewunderung herausfordert. Sie schrieb ihre Gedanken über Musik und zunächst über das Pianospiel in einem Werke nieder, welches unter dem Titel: „Die Reinheit des Claviervortrages. Dem Idealismus in der Tonkunst gewidmet, von Eugen Eisenstein“ (Gratz 1870, Leuschen und Lubensky, 12°., XIII und 200 S.) ein halb Jahr vor ihrem Hingange erschien. Nach einem einleitenden Vorworte beginnt sie mit dem „Standpunkt des Claviers“, geht auf eine „Darstellung des schönen Clavierspiels“ über, worauf die Charakteristiken desselben in den Heroen des Clavierspiels: Mozart, Haydn, Beethoven, Mendelssohn, Bach, Scarlatti, Schubert, Weber, Ontlow, Chopin und Schumann folgen. Den Abschluß bilden zwei Abhandlungen über den „künstlerischen Vortrag“ und den „Adel des Styles“. Einerseits um den Standpunkt, den sie in der Frage des Clavierspiels einnimmt, zu kennzeichnen, und anderseits eine Probe ihres energischen markigen Styls zu geben, lassen wir sie selbst sprechen: „Von Seite der Componisten hat das Clavier zu allen Zeiten eine [126] durch Meisterwerke ausgedrückte Hochachtung erfahren, und zwar reichen diese Zeiten bis in die Kinderjahre des Instrumentes hinauf. Bach, der tiefsinnige Meister der Orgel, hat dem Claviere nichts Geringeres als die Temperatur gegeben. Diese, dem Instrumente erst eigentliche Lebensfähigkeit verleihende Wohlthat beschloß er mit der Composition seiner unsterblichen 48 Präludien und Fugen. Haydn, der große Oratoriendichter und Vater des Streichquartetts, war es, welcher der Claviersonate die Fassung gab. Er schrieb viele Sonaten, worunter reizende Stücke. Mozart, der geniale Mehrer der Oper, schrieb viele Claviersonaten, deren bedeutendere Nummern Werke voll süßer Anmuth von unvergänglicher Schönheit sind. Beethoven, der große König der Symphonie, schuf 32 Claviersonaten, von denen fast alle höchst schwungvoll, die größeren aber unter des Meisters vorzüglichste Werke überhaupt zu rechnen sind. Schubert, der ideale und unerschöpfliche Liedercomponist, schrieb für Clavier mehrere Sonaten, dann zahlreiche kleinere Stücke, alle voll der schönsten Empfindung. Schumann, der für Chor und Orchester so thätige phantasievolle Tondichter, gab dem Claviere zahllose Werke von den verschiedensten Größen, Charakteren und Fassungen, doch alle voll sinniger Gedanken und romantischen Schwunges. Nebst diesen Tonschöpfern sind es der funkensprühende Scarlatti, der kräftige Clementi, der geschmackvolle Hummel, der strahlende Weber, der elfenhafte Mendelssohn, der träumerische Field, der schwärmerische Chopin, der plastische Brahms, der thaufrische Gade, der phantastische Kirchner, der elegische Henselt und viele Andere, welche, durch die Kraft ihres schaffenden Talentes zur Herrschaft über alle Instrumente und Singstimmen berufen, wohl nicht von Ideenarmut, sondern von reiner Neigung bewogen wurden, dem Claviere eine so reiche Menge der schönsten Gedanken anzuvertrauen, ja noch überdies, wie Einige aus ihnen thaten, die Kunst des Claviervortrages zur Lebensaufgabe zu erwählen“. Möge diese charakterisirende Stelle genügen, wir müßten ganze Seiten ausschreiben, wollten wir die ungemein geistvollen, originellen und zutreffenden Gedanken anführen, welche dieses doppelt merkwürdige Buch enthält, einmal dadurch, daß es einen Gegenstand behandelt, der so reichen Inhalt kaum ahnen läßt, dann wieder dadurch, daß ihn ein Weib, und zwar mit einer Klarheit und Durchsichtigkeit behandelt, die uns geradezu in Erstaunen setzen. Bemerkenswerth bei solchem Reichthum der Ideen ist nur der eine Mangel, daß der Fürst des Clavierspiels, in der Gegenwart der Reformator in der Behandlung dieses Instruments, Franz Liszt in dem ganzen Buche auch nicht einmal genannt wird. Sollte das Absicht sein? Schon lange vor dem Erscheinen dieses Werkes trug Marie Tunner den Todeskeim in einem im Verborgenen wühlenden tückischen Herzübel in sich, welches sich während ihres Lebens nur in einer ungewöhnlichen Erregbarkeit kund gab. So war sie denn auch heiter erregt in jener Stunde, als bei fröhlichem Tischgespräch die Hand des Todesengels sie plötzlich berührte. – Wie Marie erhielt auch die jüngere Schwester Sylvia eine sehr sorgfältige Erziehung, die sich gleichfalls auf die Erlernung der lateinischen Sprache erstreckte, in welcher auch sie die römischen Classiker liest. Neben der Liebe zur Musik, welche Sylvia mit ihrer Schwester theilte, zeigte sie ein ausgesprochenes Talent für [127] die Malerkunst, in welcher sie sich zur Freude ihres Vaters unter dessen unmittelbarer Leitung auch zu einem hohen Grade der Vollendung ausbildete. Doch übt sie die Kunst nur zu ihrem Vergnügen aus. In Folge dessen gelangt von ihren Arbeiten nichts in die Öffentlichkeit, und können wir aus Mittheilungen eines Freundes nur einer „Madonna mit einem schlafenden Jesuskinde im Schoose“ gedenken, wovon sie in jüngster Zeit eine Copie für ihre Mutter ausführte, und des „Bildnisses eines Mönches“, das die Künstlerin nach einer Photographie mit großer Vollendung ausgeführt hat. Sylvia lebt mit ihrer Mutter in Gratz.

Neue Freie Presse. Abendblatt vom 27. März 1874: „Eine Idealistin der Tonkunst“. Von Robert Hammerling.