Textdaten
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Autor: Auguste Herz
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Titel: Aus der Kinderstube
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 490–493
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Fortsetzung siehe Jahrgang 1856 Heft 11 Aus der Kinderstube. III
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Aus der Kinderstube.

Sie waren der Meinung, Herr Redakteur, daß die Ihnen zur Einsicht von der Hand einer Freundin mitgetheilten Aufzeichnungen aus meinem pädagogischen Tagebuche nicht ohne einiges Interesse für die Oeffentlichkeit sein, ja sogar vielleicht hier und da einer Mutter, einem Lehrer, einer Erzieherin willkommenen Stoff zum Nachdenken oder selbst zur Nachahmung bieten würden. Wie gerne genüge ich bei einem so günstigen Vorurtheile Ihrer Aufforderung und sende Ihnen, was und wie ich es eben habe. Sind die Leser und Leserinnen Ihres Blattes in ihrem Urtheile so nachsichtig wie Sie, dann bin ich wohl eines kleinen Erfolges meiner Worte gewiß, denn ich habe diese ja ganz durchdrungen von guten Absichten und Wünschen niedergeschrieben.

I.

Meine Wirksamkeit als Erzieherin beginnt sehr frühe, ja ich könnte den Anfang derselben in meine Mädchenjahre setzen, wenn ich dazu den Verkehr mit kleinen Kindern rechnen wollte, der immer meine liebste Erholung war; aber nur mit Kindern, die meiner Hülfe in irgend welcher Beziehung bedurften, mit armen, elenden, kranken, die ich waschen, ankleiden, führen konnte, oder die Geduld genug hatten, sich Geschichten von mir erzählen zu lassen, Lehren und guten Rath von mir anzunehmen. Ich habe auch aus jener frühsten Periode noch manches freundliche Bild mir erhalten, aber zu Betrachtung eines solchen dürfte ein fremdes Auge kaum Reiz genug finden, die Gestalten und Farben sind eben nur für mich erkennbar und verständlich, weil die Phantasie hier Alles in Allem ist und die Wirklichkeit nur Nebensache.

So übergehe ich diese Zeit und komme zu der, wo ich mit Erziehungsversuchen in etwas größerem Maßstabe begann. Wie früher, so zog mich auch in reiferen Jahren und nach Begründung eines eigenen Hausstandes meine Neigung vorzüglich zu armen Kindern. Sah ich auch wohl für Kinder bemittelter Familien nicht immer Alles recht geschehen, Vieles sogar sehr falsch und gegen die einfachsten Lehren der Natur und gesunden Vernunft, so wußte ich doch, daß hier mindestens alle Mittel für das Bessere geboten seien, und daß überdies mein Rath beim Mangel einer äußeren Autorität meiner Person nicht beachtet werden würde. Dazu sah ich, daß, soviel auch immer für die Armen, für die Erlösung derselben aus ihrem materiellen Nothstande gethan werde, doch noch sehr viel zu thun übrig bleibe für die Erhebung derselben aus dem noch gefährlicheren sittlichen Nothstande. Und so beschloß ich, mich solcher Familien zu nähern, wo die Aeltern, von unablässiger Sorge um Leben und Erhaltung bedrängt, zu Erziehung und sittlicher Pflege ihrer Kinder nicht Zeit und Gelegenheit finden könnten, oder wo über dem Jammer um das häusliche Elend, das Gefühl für das Gute abgestumpft, die Lust zur Erziehung der Kinder erstorben sei. Hier wollte ich den Versuch wagen, ob nach Abhülfe der äußersten Noth es gelingen würde, den Sinn für innere Veredlung und sittliche Erhebung zu erwecken und im Vortheil der Kinder thätig zu machen.

Es war im Jahre 1847 als ich den ersten Versuch in der eben erwähnten Weise wagte. – Die von mir zu diesem Zweck erwählte Familie war die eines Handarbeiters. Häufig aufeinander folgende Krankheitsfälle, so wie der Tod einiger Kinder, und Arbeitsmangel hatten die äußeren Verhältnisse dieser Familie immer drückender und peinigender werden lassen und sie tief in Schulden gebracht. Schwer empfand der gewissenhafte und sorgsame Vater das Traurige seiner Lage, und die drückende Ueberzeugung, seine [491] Arbeitskraft allein reiche nicht aus, die Schulden wieder zu decken und in eine sorgenfreiere Lage zu kommen, machte ihn muthlos, bis er endlich von dem Bestreben geleitet, seine Sorgen und seinen Kummer zu vergessen oder zu betäuben, dem Laster des Trunkes sich ergab. Natürlich daß dadurch die Noth und das Unglück der Familie sich von Tag zu Tag nur noch vergrößerte. – Soweit war es mir gelungen, in die Verhältnisse der Familie einzudringen, bevor ich noch selbst derselben mich näherte. – Schon drohte der materielle Nothstand auch moralisches Elend über diese Armen zu bringen. Sollten sie vor diesem bewahrt werden, so mußte es das Erste sein, die Quelle ihrer Nahrungssorgen zu verstopfen. Mein Bestreben ging daher auch zunächst dahin, den Aeltern lohnendere Arbeit zu verschaffen. Und nur erst als mir dies gelungen war, trat ich persönlich, doch ohne mir merken zu lassen, daß ich schon vorher von ihren Verhältnissen mich unterrichtet und mit ihrem Geschick mich beschäftigt habe, der Familie selbst näher. Ebenso aber hütete ich mich auch, ihnen meine Sorge um ihre Existenz wie eine von mir absichtlich ihnen ertheilte Wohlthat vorzuführen, und somit zu einem moralischen Zwange für sie werden zu lassen. Gerade dies geschieht so häufig, und man gründet auf gewährte Wohlthaten die Berechtigung, gute Lehren geben zu können, erkauft sich damit gleichsam ein Recht der Bevormundung. Wohl mag bei einem solchen, nach meiner Ansicht falschen Verfahren, in vielen Fällen scheinbar die gehabte Absicht erreicht werden, d. h. die betreffenden Personen fühlen sich verpflichtet, das, was ihnen gerathen wird, zu befolgen, nur mit dem großen Unterschiede, daß sie das Gute und Rechte nicht um seiner selbst, sondern um des Nutzens willen thun, der ihnen dadurch von den Rathenden zu Theil wird. Somit ist denn dieses Verfahren nur geeignet, die Menschen systematisch zur Lohntugend heranzubilden. Ich hatte gar bald die Freude, das Gefühl der Anerkennung und Dankbarkeit in den Herzen jener Aeltern erwachen zu sehen, und dieses Gefühl brachte ungesucht und natürlich uns gegenseitig einander näher.

Als ich so meinen Einfluß in der Familie wachsen sah, so benutzte ich diesen nun weiter zum Vortheil der Kinder. Ich suchte mir die Liebe derselben immer mehr und mehr zu erwerben, aber nicht durch Geschenke, sondern dadurch, daß ich, so zu sagen, zu ihnen herabstieg und in ihrer kindlichen Weise mit ihnen verkehrte. Bald waren mir die Herzen der Kleinen so zugethan, daß sie keine höhere und größere Freude kannten, als wenn ich ihnen erlaubte, mich zu besuchen und mehrere Stunden bei mir zu sein. Als ich nun der Zuneigung und Anhänglichkeit meiner kleinen Pfleglinge gewiß war, begann ich, wiederum unter Vermeidung des Scheines der Absichtlichkeit entschiedener als bisher auf sie erziehend einzuwirken.

Als Mittel für meinen Zweck benutzte ich die Erzählung. Ich erzählte meinen Schützlingen eine Geschichte von armen Kindern, in welcher sie sich selbst wie in einem Spiegel erkennen konnten. Mit den lebhaftesten Farben schilderte ich den Sinn für Reinlichkeit, Ordnung und Thätigkeit, der die Kinder meiner Erzählung beseelt habe, welches Glück, welchen schönen Frieden sie nach erfüllter Pflicht empfunden hätten. Am Schlusse der Geschichte vermied ich vor meinen kleinen Zuhörern die Nutzanwendung auf sie selbst auszusprechen; denn meine Ueberzengung war schon damals, daß eine selbst gefundene und empfundene Lehre zur Nacheiferung viel sichrer die eigne Thatkraft anzuzuregen vermöge, als eine ausdrückliche Hinweisung auf den lehrreichen Inhalt unserer Worte, vorgetragen wie ein Theil der Geschichte selbst und im ernst mahnenden Tone. Wir benehmen ihnen dadurch die Gelegenheit selbst zu denken und nach eigener Empfindung das Gehörte auf sich anzuwenden. – Wenn alle drei Kinder meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt, so hatte doch die elfjährige Marie, die älteste der Kinder, die meiste Theilnahme dabei an den Tag gelegt.

Als am andern Tage die Mutter der Kinder zu mir kam, da erzählte sie mir, wie sie am vergangenen Abende bei ihrer Rückkehr von der Arbeit die Kinder noch ganz ergriffen von einer Geschichte gefunden habe, die ich ihnen erzählt, und daß Marie ganz bestimmt erklärt habe, sie wolle wie Bertha in der Geschichte von nun an die Wirthschaft besorgen, während die beiden Knaben, der achtjährige Wilhelm und der siebenjährige Karl gebeten hätten, ihnen doch stricken zu lehren, damit sie auch fleißig sein könnten! Welche große Freude empfand ich bei diesen Mittheilungen der Mutter! Mein erster Versuch war somit ein glücklicher zu nennen, – ich hatte wirklich erziehend gewirkt, nicht durch ein nur unterrichtendes Wort, ein nacktes Gebot, sondern dadurch, daß ich das Selbsterkennen des Guten, und den Trieb, es auszuführen in den Kindern hervorgerufen hatte.

Als nun die Kinder wieder zu mir kamen, sprach ich zu ihnen von der Freude, die ich empfunden, als mir ihre Mutter von ihren guten Entschlüssen erzählt habe, und wie gern ich bereit sei, ihnen bei der Ausführung derselben hülfreich die Hand zu reichen. Von Stund an ließ ich mir den Unterricht und die Belehrung meiner Kleinen in verschiedenen Dingen angelegen sein. Wie reich wurde ich durch meine geringen Bemühungen belohnt! Marie wurde gar bald die fleißige Martha im Hause, und Reinlichkeit und Ordnung schmückten binnen Kurzem die kleinen Räume der armen Familie. Mit Verwundern bemerkten die Aeltern, die mit ihren eigenen Kindern vorgegangenen glücklichen Veränderungen, vorzüglich die Mutter sprach oft mit recht warmem Herzen mir ihre Freude hierüber aus. Diese Anerkennung benutzte ich wieder, um auf die Mutter selbst für meine Zwecke einzuwirken, dadurch, daß ich sie über die Art und Weise meines Verkehres mit Kindern unterrichtete und einige Belehrungen über die kindliche Natur im Allgemeinen mit einfließen ließ. Auch sie bewieß mir bald durch ihr Thun und Lassen unter den Kindern, daß sie die gegebenen Winke verstanden habe und ihnen gemäß zu handeln bemüht sei. So ward mir bald die freudige Genugthuung, zu sehen, daß in dem Kreis dieser Familie nach und nach ein anderer, besserer Geist einzog, und daß jedes Familienglied, Aeltern wie Kinder, mit Ernst nach Selbstveredlung strebten. – Aber noch eine andere große und unerwartete Freude ward mir zu derselben Zeit durch eine, meinen bisherigen Schützlingen benachbarte Familie zu Theil. Diese Familie befand sich in ähnlichen unglücklichen Verhältnissen wie jene erstere, hatte aber, veranlaßt durch das gute Beispiel ihrer Nachbarn im Stillen wetteifernd mit dieser nach Selbstveredlung gestrebt, und Reinlichkeit, Ordnung und Frieden war auch in ihren Familienkreis eingekehrt. Vorzüglich liebenswürdig waren die Kinder dieser Nachbarsleute, die, so zu sagen, um meine Gunst buhlten, indem sie auf alle nur mögliche Weise sich mir zu nähern suchten. Wie reinlich hielten sie von da ab ihre Hände und Gesicht, wie geordnet und glatt gestrichen ihr Haar; aber auch wie viel Mühe ließen es sich die Kleinen kosten, daß ich sie doch endlich bemerken sollte! Und diese Beweise von Fleiß und Ordnungsliebe und Anhänglichkeit an mich waren für mich um so werthvoller, als ich ja die Gewißheit haben konnte, daß nicht kleinlicher Eigennutz es war, der die Kinder um meine Liebe werben ließ. Ich hatte ihnen so wenig wie meinen ersten Pfleglingen Geld oder andere werthvolle Geschenke gegeben, und gab auch grundsätzlich in der Folge nie geschenkweise Geld an die Kinder oder Aeltern. Wohl aber sorgte ich für manche unentbehrliche Bedürfnisse im Hause oder für den Unterricht. – Durch diese gewiß in jeder Beziehung nützliche Zurückhaltung wurde es mir möglich, binnen Kurzem meine Thätigkeit in der oben geschilderten Weise auf vier Familien mit zwölf Kindern zu erstrecken, und betrugen doch die Geldausgaben für Alle in dem Zeitraume eines Jahres noch nicht ganz neun Thaler! – Ich fühlte in dem erwählten Berufe mich ganz glücklich, sah ich doch allenthalben glückliche Erfolge. Wöchentlich zweimal versammelte ich alle Kinder meiner Armen um mich in meiner Wohnung. Hier lehrte ich den Knaben wie Mädchen ihre Kleidungsstücke ausbessern und in Stand erhalten und sonst andere für das Haus nützliche Beschäftigungen. Ihren Fleiß belohnte ich durch lehrreiche Unterhaltung oder Gesang, oft auch vereinigte uns am Schlusse der Arbeitszeit ein gemeinsamem Spiel, ausgezeichnet durch den reinsten kindlichen Frohsinn. Mit den Ausdrücken innerster Zufriedenheit schied dann immer die kleine Schaar von mir, und mit stets wachsender Freude und Liebe sah ich sie zu mir wiederkehren.

II.
Die Geschichte eines Mädchens.

War bisher mein Streben in meinem Wirkungskreise immer nur von recht erfreulichen Erfolgen begleitet gewesen, so machte doch ein Fall, bei dem meine Hülfe leider zu spät kam, eine recht traurige Ausnahme in meiner Erfahrung. Es ist, was ich hier erlebte, nach meiner Ueberzeugung für die Erziehung von hoher Wichtigkeit, und darum wohl werth, ausführlicher mitgetheilt zu werden. Es ist die Geschichte eines Mädchens, welches, – ein [492] trauriges Beispiel sittlicher Verwahrlosung! – in dem kurzen Zeitraume von kaum einem Jahre, die Bahn der Verbrechen so schnell durchlief, daß man sagen konnte, das Kind trat nur aus der Schule, um in das Zuchthaus überzugehen!

Ich hatte unter meinen Schützlingen eine Mutter mit vier Kindern. Der Vater der Familie war den Seinen frühe durch den Tod entrissen worden, und der Mutter blieb so die Sorge für die Ihrigen allein überlassen. Da dieselbe von Morgen bis Abend und meist auch des Nachts vom Hause fern war (sie versah das Geschäft einer Aufwäscherin in einer öffentlichen Wirthschaft), so waren auch die Kinder bis zu meinem Bekanntwerden mit ihnen in Absicht auf ihre Pflege und Entwicklung ganz sich selbst und dem Zufall überlassen. – Das älteste Kind war zwölf, das jüngste sechs Jahre alt, als ich in die Familie eintrat. Alle Kinder trugen das Gepräge der Verwahrlosung an sich, am Meisten aber zeichnete sich hierinnen Anna, die Aelteste, aus.

Anna war ein so eigenthümliches Mädchen, daß ich lange Zeit bedurfte, ehe ich ein recht klares Bild ihres Charakters gewinnen konnte. Ihr Aeußeres so wie ihr ganzes Wesen machte zuerst den Eindruck großer Dummheit, und ihre eigene Mutter behauptete, das Kind sei blödsinnig, was aber durchaus nicht der Fall war. Denn wurde man näher mit ihr bekannt, erfuhr man ihre große Geschicklichkeit, fast möchte ich es Talent nennen, im Lügen, so konnte man ihr einen hohen Grad von Verstandesthätigkeit nicht absprechen. Sobald es nur galt, sich durch irgend welche Lüge der Gefahr der Strafe zu entziehen, so wußte das Mädchen sofort eine ganz verwickelte Geschichte sich zusammenzustellen und darinnen die Lüge so zu verhüllen, daß man die Wahrheit oft nur mit der größten Anstrengung heraus finden konnte. Aber auch noch eine andere, weit schlimmere Eigenschaft lernte ich bald an ihr kennen, und dies war ein entschieden ausgesprochener Hang zur Grausamkeit. So hatte sie eines Tages einem Sperling die Krallen und Flügel abgeschnitten, und ich kam dazu, als sie nach dieser Handlung mit dem Ausdrucke des größten Wohlbehagens zusah, wie das so gemarterte Thier sich im Staube wand. Spielte sie mit ihrer kleinen Schwester, dann war das Spiel gewöhnlich „Köpfen“ oder „Wundarzt,“ wie sie es nannte, und auch hier war es merkwürdig, mit welcher wahren Wollust sie durch ihre Phantasie die schmerzhaftesten Operationen sich vor die Seele führte. Diese Neigung, immer in Bildern der Grausamkeit zu leben, sprach sich fast bei jeder Handlung aus. So sah ich sie einmal Kartoffeln schälen und diese in eine Reihe vor sich hinstellen. Ihr Selbstgespräch dabei verrieth mir dann, daß sie unter den Kartoffeln beseelte Wesen sich vorstellte, welche sie in der Reihenfolge, wie sie vor ihr stünden, morden müsse. Indem sie nun die Eine schälte, schilderte sie zugleich, die nächstfolgende anredend, in gräßlicher Ausführlichkeit die Qualen, die beim Geschlachtetwerden zu erleiden seien. Lange blieb mir dieser erschreckliche Hang unerklärlich, bis endlich eine noch strengere Beobachtung mich darüber aufklärte. Das Mädchen war im höchsten Grade jenem verderblichen Umgange mit sich selbst ergeben, der zum Schrecken der Familien und Schulen, in der Entwickelungsgeschichte so vieler Kinder eine geheimniß- und bedeutungsvolle Rolle spielt! Mit der hier angedeuteten, physisch und moralisch gefährlichsten Gewohnheit im engsten Zusammenhange, besser vielleicht aus dieser erst entstanden, erwies sich Anna’s Neigung zu gräßlichen und grausamen Bildern und Handlungen. Nachdem ich diese traurige Gewißheit erlangt hatte, suchte ich in dem Mädchen die Ahnung zu erwecken, daß ich um ihr Geheimniß wisse. Zu diesem Zwecke gebot ich ihr, sobald ich die Abirrung ihrer Gedanken von der Arbeit bemerkte, einige Mal im Zimmer auf- und niederzugehen, ohne ihr jedoch den Grund hiervon zu sagen. Ich erreichte damit in Kurzem meine Absicht vollkommen, Anna fühlte sich erkannt und hütete sich wohl, in meiner Gegenwart sich zu vergessen. Als ich dessen gewiß war, benutzte ich die erste Gelegenheit zu einem vertrauten Gespräch mit ihr, und auf ihre Zuneigung und Liebe vertrauend, versuchte ich in einer hier näher nicht zu erörternden Weise sie über die Folgen und die sittliche Bedeutung ihrer Gewohnheit aufzuklären. Ich schloß dann mit der freundlichen Mahnung sich mir offen zu vertrauen. Anna war durch meine Worte tief bewegt worden und erschloß mir vertrauensvoll ihr Inneres. Ich vernahm hier Bekenntnisse, die mich mit Schrecken, Furcht und Mitleid zugleich erfüllten. Unter Anderem sagte sie: „Wenn ich mich vergangen habe, dann ist mir es immer darnach als müsse ich beten oder etwas recht Böses thun.“ Ich bat sie, mir für Letzteres doch ein Beispiel zu erzählen, worauf sie erwiederte: „Einmal, wo es auch geschehen war, wollte ich dann gern meine kleine Schwester, mit der ich allein war, mit einem Messer erstechen, aber da kam gerade meine Mutter nach Haus.“

Dieses eine Beispiel genügte mir, um die Gefahr zu erkennen, in welcher in jeder Beziehung die Geschwister in der Nähe Anna’s schwebten und brachte mich zu der Ueberzeugung, es sei zum Schutze derselben dringend nothwendig, daß das Mädchen aus dem Hause entfernt werde. Da nun dies zu bewerkstelligen meine Thätigkeit allein nicht ausreichen konnte, und andere Hülfe im Hause selbst mir mangelte, so theilte ich mehreren Personen von Einfluß die mir bekannt gewordenen Thatsachen mit, knüpfte daran meine Befürchtungen für die Zukunft des Mädchens und bat, das Mädchen in irgend welche öffentliche Anstalt unterzubringen, wo sie gehörig überwacht und gebessert werden könne. Doch so viel ich mir auch Mühe gab, immer und überall ward mir die Antwort zu Theil, daß es für solche Fälle keine besonderen Anstalten gäbe, und daß nur, wenn zugleich ein Diebstahl, oder sonst ein anderes größeres Vergehen vorliege, das Mädchen in eine Besserungsanstalt gebracht werden könne.

Mit der größten Besorgniß sah ich jetzt in Anna’s Zukunft, und diese Besorgniß steigerte sich noch, als das Mädchen nun der Schule entwachsen war, und die Mutter mit Ungeduld eine Gelegenheit suchte, sie aus dem Hause unter fremde Leute zu bringen. Bald fand sich auch eine solche Gelegenheit, und Anna kam als Kindermädchen zu einem Ziegeleibesitzer. Durch diese Lebensveränderung war sie aber nun auch meiner Aufsicht und Fürsorge entzogen. Meine schlimmen Ahnungen sollten sich bald erfüllen; denn nicht lange nach ihrem Fortgange von Dresden entfernte ein trauriges Ereigniß Anna aus dem Hause ihrer Herrschaft. Wenn nicht durch ein Vergehen Ihrerseits (was nicht ermittelt werden konnte), so doch unter ihrer Aufsicht, war das ihrer Fürsorge übergebene Kind von dem Ziegelboden herabgestürzt und hatte dabei bedeutenden Schaden gelitten. Ich benutzte diesen Vorfall, um abermals an verschiedenen Orten auf die Nothwendigkeit hinzuweisen, daß dieses Mädchen, um noch größeren Unglücksfällen durch sie vorzubeugen, unter sorgfältige Aufsicht genommen werden müsse. – Doch abermals vergeblich; mir ward die Antwort, man könne ja für ihre Verschuldung an jenem Unglücksfalle keine Zeugen bringen. Anna vermiethete sich hierauf als Gänsemädchen auf’s Dorf. Aber auch hier war ihres Bleibens nicht lange. Sie legte in der Scheune ihres Herrn Feuer an, und ward nun zur Bestrafung der Obrigkeit überliefert.

Hier gestehe ich offen, daß ich fast froh war, daß endlich einmal ein Vergehen des Mädchens von der Art war, daß sie dadurch so zu sagen der Polizei selbst in die Hände lief; denn ich glaubte, es werde von nun ab ein strengeres und wachsameres Auge auf sie gerichtet, und sie nun in eine Besserungsanstalt untergebracht werden. Leider aber sollte auch diesmal meine Erwartung getäuscht werden, denn schon nach wenigen Tagen war Anna wieder in Freiheit. Auf meine deshalb eingezogenen Erkundigungen ward mir der Bescheid: „Weil Anna in den mit ihr angestellten Verhören auf die Frage nach dem Grunde oder die Absicht, die sie zum Feueranlegen bestimmt hätten, keine andere Antwort gegeben habe, als: es sei ihr nur so gewesen, als müsse sie es thun, und als sage ihr jemand, daß sie Feuer anlegen solle,“ so müsse man sie als geisteskrank erklären.“ Und so kam sie in das dresdner Stadtkrankenhaus, wurde daselbst kurze Zeit ärztlich behandelt, dann als genesen wieder entlassen. –

Nach diesem genannten Ereigniß vermiethete sich Anna abermals als Kindermädchen. Ich vernahm diese Nachricht in der Familie mit banger Besorgniß, denn ich fürchtete alles Schlimme, so lange ich das Mädchen sich selbst überlassen wußte. Wie traurig sollte sich auch diesmal meine Befürchtung bewahrheiten. Anna legte in Kurzem durch eine noch schrecklichere Handlung vor der Oeffentlichkeit selbst ein Zeugniß für ihre Gefährlichkeit ab.

Es war im Sommer 1849, als der Dresdner Anzeiger einen grauenerregenden Vorfall meldete. Durch ein Kindermädchen waren in einer Familie in der Vorstadt an zwei kleinen Kindern verschiedene Grausamkeiten verübt worden. Dem ältesten drittehalbjährigen Kinde hatte das Mädchen Blumenblätter und Insekten in Augen, Ohren und Nase gestopft, vermittelst eines Messers ihm unter die Nägel der Hände und Füße gestochen und am Nabel [493] geschnitten, und dazu noch am ganzen Körper es blau geknippen. Dem kleinen, noch nicht zweijährigen Kinde hatte aber die Unmenschliche das Bein über der Wiege zerbrochen.

Ein banges Gefühl ließ mich sofort die Thäterin ahnen. Ich ging, um mich selbst zu überzeugen, in das Haus des Unglücks, ließ mir die Kinder entkleiden, und sah hier die traurige Wahrheit des Berichteten, den Mitleid erregenden Zustand der Kinder; – und die schreckliche Thäterin war abermals keine Andere, als Anna! – So viel des Unglücks aber mußte sich erst ereignen, ehe dieses Mädchen durch Entziehung ihrer Freiheit unschädlich gemacht wurde! – Sie kam nun, wie dies nicht anders zu erwarten war, in ernste Untersuchung. Während ihrer Untersuchungshaft besuchte mich Herr Hofrath Dr. von S., um sich von mir über die Gefangene einige Notizen zu erbitten.

Nachdem ich dem Herrn Hofrath meine Ansichten über den Zustand des Mädchens entwickelt hatte, bat mich derselbe, mit ihm selbst in das Gefängniß des Mädchens zu gehen, um gemeinschaftlich ein Verhör mit ihr vorzunehmen. Und hier sei nun zum Schlusse dieses traurigen Ereignisses gesagt, daß bei jenem Verhöre meine erste Ansicht von dem Zustande des Mädchens die vollste Bestätigung fand. Nach ihren eigenen Zugeständnissen waren alle von ihr verübten grausamen Handlungen die nächsten traurigen Folgen ihrer Hingebung an jene unnatürliche beklagenswerthe Gewohnheit gewesen. So viel mir bekannt geworden, ist das Mädchen in der Korrektionsanstalt zu W. bis zu ihrer Mündigkeit untergebracht worden. Möchte sie von dort wirklich gebessert einst zurückkehren!
Auguste Herz.