Textdaten
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Autor: Auguste Herz
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Titel: Aus der Kinderstube.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 150–151
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[150]
Aus der Kinderstube.
Von Auguste Herz.
III.[1]

Meinem Kindergarten wurde als Zögling ein 41/2jähriger Knabe zugeführt, von dem mit aufrichtig besorgtem Herzen die Mutter mir nachfolgende Charaktereigenthümlichkeit schilderte. Der Knabe (dies waren ihre eigenen Worte), käme ihr oft vor, als würde er von einem bösen Dämon beherrscht, der ihn zu Handlungen antriebe, die mit seiner Liebe zu ihr und seinem eigentlichen Wesen in offenbarem Widerspruche stünden. Während sein ganzes Verhalten ihr gegenüber Folgsamkeit und Liebe zeige, könne er es doch nicht lassen, bisweilen und zwar immer bei derselben Gelegenheit grausam zu handeln. Sobald der Knabe nämlich irgend wen schlafen sähe, es sei ein Kind oder Erwachsener, ja selbst seine Mutter, so schliche er sich dann auf die heimlichste Weise zu dem Schlafenden hin, um ihn durch Kneipen mit den Nägeln zu einem plötzlichen Erwachen zu bringen. Je besser es ihm geglückt, durch den unerwarteten Schmerz den Schläfer zu erwecken, um so größer sei dann des Kindes Freude. So habe sie, die Mutter, die Gewohnheit, nach Tisch eine kurze Mittagsruhe zu halten. So oft bei dieser Gelegenheit das Kind im Zimmer sei, wiederhole sich auch an ihr das eben geschilderte grausame Treiben desselben.

Sie habe das Kind, weil sie sich nur schlafend gestellt, auf das Sorgfältigste beobachtet, könne aber durchaus zu keiner Erklärung dieser naturwidrigen Neigung kommen. Auch an Strafen habe sie es nicht fehlen lassen, aber es sei ihr dann immer vorgekommen, als verstünde das Kind gar nicht, weshalb es geschlagen worden sei, und es habe sogar während der Strafe immer geschrieen: „ich habe ja nur Spaß gemacht.“ Trotz der Strafe habe aber auch dieselbe Ursache immer wieder dieselbe Folge gehabt.

Nachdem der Knabe Zögling meiner Anstalt geworden war, wurde er von mir auf das Sorgfältigste beobachtet. Aber alles was ich an ihm wahrnahm, stand nur im offenbaren Widerspruche mit der mir von der Mutter mitgetheilten Neigung zu Schadenfreude und Grausamkeit, das Kind war höchst gutmüthig, voll kindlicher Zuneigung zu mir und freundlich im Umgange mit den andern Kindern. Kirschen, welche es zu seinem Frühbrot mitgebracht, vertheilte es auf die liebenswürdigste Weise unter seinen Gespielen, Allen schloß er vertraulich sich an, und schon fühlte er sich ganz heimisch in der Anstalt und noch hatte ich an ihm Nichts von Herz- oder Gefühllosigkeit, noch weniger von seinem Hange zur Grausamkeit beobachtet.

Eines Tages aber wurde ich doch von der Wahrheit der Erzählung der Mutter überzeugt. Ein kleiner Knabe seines Alters, der neben Robert, so hieß der kleine Sünder, saß, hatte sein Köpfchen auf den Tisch gelegt und war so eingeschlafen. Ich hatte die Müdigkeit jenes Kindes rechtzeitig bemerkt, um meine Beobachtung dorthin richten zu können. Robert hatte kaum bemerkt, daß sein Nachbar schlafe, als er auch mit zwei Fingern des Kindes Ohrläppchen erfaßte und so stark in dasselbe knipp, daß tiefe Nägelspuren sichtbar waren.

Natürlich schrie das so unsanft aus dem Schlafe geschreckte Kind laut auf, und Robert lachte darüber so herzlich, daß ich sofort zu der Ueberzeugung kam, das Kind denke nicht daran, ja wisse nicht einmal, welchen Schmerz es seinem Nachbar bereitet habe, und diese Ansicht bestimmte mich auch, von einer augenblicklichen Strafe abzusehen und in anderer Weise das Kind zu erfassen.

Ich nahm für diesen Zweck einen andern ältern Zögling meiner Anstalt zu Hülfe, einen Knaben, der für sein Alter sehr verständig war und vorzüglich einen kräftigen Willen besaß. Diesen unterrichtete ich über Robert´s üble Neigung und erklärte ihm, daß ich mir dächte, Robert thue dies nur, weil er nicht wisse, wie großen Schmerz er Andern dadurch bereite. Wenn er dies durch eigene Erfahrung erkannt haben würde, werde er von seiner üblen Gewohnheit gewiß ablassen. Zu diesem Zweck forderte ich den Knaben auf, sich neben Robert zu setzen und sich schlafend zu stellen. Der Knabe zeigte sich hierzu gern bereit und führte seine Rolle über Erwarten gut aus.

Kaum merkte Robert, daß sein Nachbar schlafe, so knipp er denselben auch schon in den Arm. Weil aber Fritz, der den Schmerz sich nicht merken ließ, anscheinend fortschlief, wiederholte Robert das Kneipen mehre Male, und immer stärker, bis endlich der so Gepeinigte laut aufschrie.

Ruhig trat ich nun zu Robert und sagte: „Siehe nur, jetzt hast Du dem armen Fritz wehe gethan, so daß er schreit und weint. Du scheinst nicht zu wissen, daß das Kneipen Schmerz macht, darum will ich Dir jetzt einmal gerade so thun, wie Du Fritz gethan hast!“ hierbei legte ich den Arm Fritzens neben den seinigen und knipp ihn selbst so stark, bis dieselben Flecke an seinem Arm sichtbar wurden, wie an Fritzens Arm. Dies geschah meinerseits natürlich mit der größten Ruhe und Leidenschaftslosigkeit. – Robert schrie sehr, und als ich nach Kurzem von Ferne die Kinder beobachtete, sah ich, wie er den Arm seines Nachbars Fritz streichelte und immer in ächt kindlicher Sprache „hride“ dazu sagte. Nach mehreren Tagen wiederholte ich das erste Experiment, daß ich Fritz neben Robert setzte; aber der Knabe und jeder andere Nachbar saß und ruhte jetzt sicher und nie wieder zeigte sich Robert in der Weise wie früher grausam.

Natürlich unterrichtete ich auch die Eltern über jenen Vorgang und forderte vorzüglich die Mutter auf, im Hause den Knaben auch selbst auf die Probe zu stellen; aber auch hier bestand er die Prüfung und die Eltern wie ich waren beruhigt und zufrieden über die schnelle und glückliche Heilung jener sonderbaren Neigung des Kindes.

Längere Zeit war vergangen und weder ich noch die Eltern hatten über das Kind zu klagen. Da geschah es, daß die Mutter abermals ganz außer sich zu mir kam und mir versicherte, der Knabe scheine nach ihrer Ueberzeugung doch einen angeborenen Trieb zur Grausamkeit zu haben; denn jetzt habe sie ihn im Garten beobachtet, da sei er den Schnecken nach geschlichen, habe jede, die er gefunden, plötzlich von oben mit zwei Fingern in die Haut gefaßt, in die Höhe gehoben und dann den armen Thieren dasselbe gethan, mit demselben Ausdruck der Schadenfreude, wie früher den Menschen. Nachdem mir die Mutter des Kindes jene Mittheilung gemacht hatte, gestehe ich, daß ich selbst anfangs mir keine Erklärung finden konnte, und wirklich rathlos war. Aber nach längrem Nachdenken traf ich, weniger zwar durch klare Berechnung, als vielmehr durch eine glückliche Eingebung zur rechten Zeit das rechte Mittel. Ich pflegte die erste Stunde des Morgens zu einer belehrenden Unterhaltung mit meinen Kindern zu verwenden, wozu mir dann das Leben der Kinder selbst, die Natur, oder sonst welches Ereigniß den Stoff bot. So sprach ich, angeregt durch das vorausgegangene Gespräch mit Robert´s Mutter, am nächsten Morgen ernster und eindringlicher wie je, mit meinen Kindern über den Sittenspruch: „Quäle nie ein Thier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz.“ Da plötzlich, als ich mit lebhafter Farbe die Angst und Pein der gemarterten Thiere schilderte, sprang Robert auf und sagte „aber manche Thiere fühlen keinen Schmerz, die darf man kneipen; die Schnecken, Regenwürmer und Fliegen, die schreien nicht.“ Dieser Ausspruch des Kindes überraschte mich und unterrichtete mich sofort, daß dasselbe bei seinen neuerdings begangenen Grausamkeiten in Erinnerung an die an sich selbst gemachte Erfahrung ordentlich beobachtend verfahren war. Er hatte die Thiere förmlich belauscht und folgerichtig zuletzt nur mit solchen sich beschäftigt, welche lautlos seine schlimme Behandlung duldeten. In ihrem Stummsein hatte er eine Bürgschaft dafür erkannt, daß sie keinen Schmerz empfänden. Durfte man nun wohl sagen, der Knabe habe aus Wohlgefallen an dem Schmerze Anderer, oder aus einem angeborenen Triebe zur Grausamkeit wie die Mutter meinte, Thiere und Menschen gequält?

Nein! Er wußte nicht, wie schmerzhaft für Andere sein Spiel sei; das bewies der Vorfall mit dem Knaben Fritz; – er suchte und wollte nicht Schmerz bereiten, nachdem er die Erfahrung an sich selbst gemacht hatte, das bewies die veränderte Richtung seiner Neigung, indem er nur solche Thiere aufsuchte, die nach seiner Idee wirklich keinen Schmerz empfänden; er war somit in Absicht [151] auf den Beweggrund zu seiner Handlungsweise wirklich unschuldig zu nennen. Ein Spiel, das für ihn einen andern Reiz als den, welchen der Anblick des Schmerzes Anderer gewährt, haben mußte, nur ein Spiel konnte somit in dieser bisher geübten Gewohnheit gefunden werden.

Aber damit war freilich noch nicht die Ursache gefunden und erklärt, welche Veranlassung zu dieser ungewöhnlichen Neigung gegeben haben mochte, und für die Beurtheilung ähnlicher Fälle blieb es wünschenswerth, hierüber eine genügende Aufklärung zu erhalten. Eine von mir zufällig an der Mutter Robert’s im Umgange mit ihrem Dreivierteljahr alten Kinde beobachtete Spielweise leitete mich auf die richtige Spur. Die Mutter holte oft selbst ihren Robert aus der Anstalt ab, und brachte dann immer ihr kleines Kind mit. Wenn sie nun mit diesem scherzte und spielte, stellte sie sich gewöhnlich auch, als ob sie schliefe. Das Kind gab sich nun alle Mühe, die Mutter zu erwecken; wenn ihm dies nach langem Bemühen endlich gelang, so erschrak die Mutter scheinbar und that entweder, als fiele sie vom Stuhl, oder zeigte sonst welche Ueberraschung, was das Kind natürlich immer zum Lachen reizte. Oft, wenn das Kind die Mutter zu solchem Spiele durch Geberden aufforderte, diese aber vielleicht nicht eben Neigung zeigte, auf das kindliche Verlangen einzugehen, dann schlug die kleine Hand des Kindes nach der Mutter, worauf diese das Gesicht mit den Händen bedeckend sich weinend stellte, und sich geberdete, als empfinde sie großen Schmerz. Dem kleinen Herzen that dies natürlich leid und das Kind versuchte durch Gutmeinen, Streicheln und Wegziehen der Hände vom Gesicht der Mutter diese wieder zu beruhigen. Die Mutter aber ließ regelmäßig dies nicht früher gelingen, bis das arme Kind selbst zu weinen begann. Dann erst entfernte sie ihre Hände vom Gesicht und suchte nun ihrerseits das Kind zu beruhigen, und durch Lachen demselben zu beweisen, daß der Schmerz, den sie gezeigt, nur ein Scherz gewesen sei.

Dieses Spiel nun, von der Mutter, wie sie mir selbst zugestand, früher auch mit Robert ebenso ausgeführt, erklärte deutlich genug die Entstehung jenes vermeintlichen Grausamkeitstriebes. – Das scheinbar grausame Treiben Robert’s war offenbar nichts Anderes, als eine harmlose Fortsetzung jenes früher von der Mutter ihm gelehrten und mit ihr täglich gespielten „Schlafen und Erschrecken.“ Gewiß wurde die Mutter damals schon von der kleinen Hand geknippen oder geschlagen, aber das Kind lernte ja dabei keinen wahren, nur verstellten Schmerz kennen, die Mutter versicherte ihm selbst, wenn es weinen wollte: es habe ja nicht weh gethan, es seien ja ihre Thränen nur Scherz gewesen; um so fröhlicher wurde nun das Kind bei dem Spiele, um so gespannter seine Erwartung, wie es die Mutter nun machen werde, wenn sie wieder von ihm erweckt und erschreckt würde. – Was Wunder, wenn in der Folge, wo die Mutter nicht mehr Schlafen nur spielte, sondern wirklich schlief, das Kind in der ihm aufgedrungenen Täuschung befangen blieb, und immer wieder des alten lieben Spiels sich erinnerte, wenn er die Mama schlafen sah? Wie ungerecht, wie unverdient war die Strafe, welche der arme Kleine dafür empfing, daß er Wahrheit und Lüge, Ernst und Spiel, Lust und Schmerz nicht zu unterscheiden vermochte. Gestand nicht die Mutter selbst, daß er ihr, wenn sie ihn schlug, ganz mit denselben Worten: „ich habe ja nur Spaß gemacht,“ antwortete, die sie einst zu ihm redete, wenn er über den Schmerz, den er ihr mit seiner Hand verursacht zu haben glaubte, zu weinen begann? Er erwartete ja nun nicht mehr wirklichen Schmerz, sondern nur das heiter lächelnde Gesicht der Mutter zu sehen, wenn er sie aus dem Schlafe erweckte, oder wenn er die Hände ihr von den Augen zog, mit denen sie Weinen gespielt hatte.

Ich habe dieser Erzählung nur noch wenig beizufügen. Der kleine Robert wurde von mir nach jenem eben erwähnten Ausspruche über Schnecken und Fliegen etc. eines Andern belehrt. Ich zeigte ihm, wie diese armen Thiere, wenn auch nicht durch Schmerzenslaute, doch auch auf eine deutlich sprechende Weise uns anzeigten, wenn sie bei einer Berührung ihres Körpers Schmerz empfänden, und suchte ihm dann verständlich zu machen, daß diese Thiere unseres Mitleids und unserer Schonung um so mehr bedürften, je weniger sie in ihrer Hülflosigkeit durch Geschrei oder andere natürliche Waffen, durch Flügel, wie die Vögel, durch flüchtige Füße, wie die Hunde, Katzen etc. sich selbst vor drohenden Gefahren und Schmerzen schützen könnten. Der Knabe hörte mit Aufmerksamkeit und ohne eine neue Gegenbemerkung meine Belehrung an, und ich hatte die Freude, meine Worte mit dem besten Erfolge belohnt zu sehen. Der Knabe war nach jenem Vorfalle wohl noch zwei Jahre in der Anstalt, und nie wieder, weder bei mir noch im Elternhause gab er Veranlassung zu einer Klage über Rückkehr zu der alten üblen Gewohnheit.

Das Beispiel dieses Knaben ist lehrreich durch sich selbst, und enthält des Stoffes zu ernstem Nachdenken genug. Das hier besprochene Spiel zwischen Mutter und Kind wird in unzähligen Familien gespielt werden, und erscheint auf den ersten Anblick ganz unschuldig; nicht in allen Fällen wird auch dieselbe Ursache dieselben Folgen haben, eine Menge Nebenumstände können hier Anderes, Schlimmeres, bald Besseres bewirken. In jedem Falle aber steht fest, daß Eltern beim ersten Auftreten übler moralischer Erscheinungen an ihren Kindern zuerst ihre Umgangsweise mit den Kindern und ihre eigenen schlimmen Gewohnheiten gewissenhaft prüfen und bedenken müssen, ehe sie zu einem harten Urtheil oder zu Tadel und zu Strafe ihre Zuflucht nehmen. Denn ein ungerechtes Urtheil, eine unverdiente Strafe bewirken wie eine falsche Medizin in der Regel gerade die Fehler, welche zu heilen sie bestimmt waren. – Leider aber sind Eltern immer geneigt, die Verantwortung für das an ihren Kindern hervortretende von sich ab, das Verdienst an dem Besseren sich zuzuwenden. In beiden Fällen gewiß so lange mit Unrecht, als sie vor ihrem Gewissen sich nicht sagen können, daß sie beim Geschäft der Erziehung ihrer Einsicht und verständigen Liebe mehr, als dem Zufall und ihrer Launen gefolgt seien. –

  1. Die frühern Aufsätze s. Nr. 37. Jahrg. 1855