Die physische Geographie des Meeres

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die physische Geographie des Meeres
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 151–152
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[151] Die physische Geographie des Meeres. Der Titel „Landratten“, womit Seeleute uns Binnenlandsmenschen beehren, darf uns wirklich nicht eben groß verdrießen, wenn wir bedenken, nicht nur wie wenig Kurage dazu gehört, auf zwei stämmigen Beinen über den Erdengrund hinzuschreiten, sondern wie wir auch über dem trocknen Drittel unseres Wohnplatzes die nassen zwei Drittel beinahe ganz und gar vergessen, sie wenigstens so schlecht kennen, daß wir uns in jeder Unterhaltung mit einem Seemann arge Blößen geben. Die Worte Nord- und Süd-Passat, Monsun, Calmen, Golfstrom sind uns zwar mehr oder weniger geläufig, aber gar Mancher würde in arge Verlegenheit kommen, wenn er über die Dinge, welche von diesen Namen bezeichnet werden, Rechenschaft geben sollte. Das Logbuch kennen wir zwar aus Marryat’s und Cooper’s Seeromanen als ein Buch, in welches der Seemann allerlei Bemerkenswerthes hineinschreibt, aber wie Wenige ahnen die großartige Bedeutung desselben für Wissenschaft und Wohlfahrt der Menschen. Klingt es doch vielleicht Vielen wie Uebertreibung, wenn man ihnen sagt, daß sie mit ihrem Wohl und Wehe in hohem Grade von den physischen Eigenschaften des Meeres abhängen, daß das Meer geradehin der große Regulator der Bedingungen alles organischen Lebens auf Erden ist.

Breite Landstraßen und schmale Pfade, bewegungslose Binnengewässer und mächtige Ströme, Berge und Thäler, den Kontrast warmer und kalter Landstriche dicht bei einander, scharfe Abgrenzung der Thier- und Pflanzenwelten nach ihren Wohnungsgebieten – dies Alles glauben wir nur auf dem Lande und doch finden wir es eben so gut auf dem offenen Meere. Neben den noch unentdeckten Central-Gebieten Afrika’s, Neuhollands und den ungeheuren brasilischen Waldflächen stehen noch viel umfänglichere Gebiete des Meeres, wohin noch kein Kiel gedrungen ist. Wie Viele aber glauben an ein buntes Durcheinander und über Kreuz und Quer der Schifffahrt. Haben wir auch eine Ahnung, ich rede nicht von den wenigen durch einschlagendes Wissen bevorzugten Landratten, von den wunderbaren Wegweisern den Kompas voran, die der Seereisende mit sich führt, während die unserigen fest an den Kreuzwegen stehen - haben wir auch eine Ahnung von ihnen, so staunen wir dennoch, wenn uns die Logbücher beweisen, daß kürzlich zwei amerikanische Klipperschiffe, ohne jemals Land zu sehen, den 7000 Meilen langen Weg vom Cap Horn bis Californien so genau und übereinstimmend steuerten, obgleich das eine dem andern um acht Tage in der Zeit nachfolgte, daß beide Reisen nach den Angaben der zwei Logbücher auf eine Karte gezeichnet zwei einander beinahe deckende Linien ergeben würden. Sie reisten nach Windkarten, wie wir nach Landkarten.

Kurz, das weite wüste Meer, das „große Geheimniß“, verdient diesen dichterischen Namen nicht blos in Beziehung der von ihm bedeckten ihm eigenen oder uns geraubten Schätze, sondern auch hinsichtlich unserer Unkenntniß von ihm.

Und dennoch lockt wie jedes Geheimniß so auch dieses unsere Neugierde, die sich zu edler Wißbegierde verklärt, mächtig an. Darum ist [152] unter den vielen Einzelgebieten der Naturwissenschaft die physische Geographie des Meeres unbedenklich als ein solches zu bezeichnen, welchem die eifrigste Theilnahme sich zuwenden wird, wenn es einmal mit gründlicher Sachkenntniß und in ansprechender Form für den großen Leserkreis aufgeschlossen werden wird.

Zu dieser Ansicht fühlt man sich wahrhaft hingerissen schon bei der flüchtigen Durchsicht der neuesten Schrift über die physische Geographie des Meeres von M. F. Maury, Marinelieutenant der Vereinigten Staaten, deutsch bearbeitet von Dr. Böttger (Leipzig bei G. Mayer). Ist das Buch auch nicht für den großen Leserkreis, sondern für den theoretischen und praktischen Fachmann bestimmt, so ist es dennoch im Ganzen so klar und lichtvoll geschrieben, daß jeder gebildete Leser darin eine Quelle von einem Wissen erkennen wird, von welchem an sich und von dessen außerordentlicher Bedeutung für Jedermann er bisher vielleicht kaum eine Ahnung gehabt hatte.

Die Wissenschaft in dieser Anwendung zieht das ferne Meer, welches Millionen Binnenlandbewohner nie sehen, in unsere unmittelbare Nähe. Wind und Wellen, die Sinnbilder regelloser Unbeständigkeit, verlieren durch die physische Geographie des Meeres diesen Charakter und gewinnen eine Stetigkeit, eine Festigkeit, daß wir sie mit Staunen als die sichere Grundlage unserer Klimate erkennen und sie die einförmige Wasserwüste in ein von Straßen und Strömen durchschnittenes Reiseland verwandeln. R.