Aus der Heimath des verkauften Bruderstammes

Textdaten
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Autor: Otto Glagau
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Titel: Aus der Heimath des verkauften Bruderstammes
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 634-636
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[634]
Aus der Heimath des verkauften Bruderstammes.
Von Otto Glagau.
I.
Das friesische Wattenmeer. – Wattströme und Priele. – Die Schlick- oder Wattläufer. – Die Traaler. – Der Vorspuk.

Ich stand am Westerstrande der Nordfriesischen Insel Föhr und blickte über die gelben Wogen nach dem Schwestereilande Amrum, das in südwestlicher Richtung den Horizont begrenzte, während im Nordwesten die lange schmale Insel Sylt aufdämmerte. Diese drei an der schleswigschen Westküste belegenen Inseln sind die nördlichen Trümmer des alten Nordfriesland.

Zwischen mir und Amrum, dem ich einen Besuch machen wollte, lag ein Arm der vielarmigen Wattensee, fast eine Meile breit, aber man sagte mir, daß ich nach wenigen Stunden hinübergehen könne, trockenen Fußes, wie einst die Kinder Israels das Rothe Meer durchschritten. Schon war das Wasser merklich im Sinken begriffen, in verschiedenen dunkelgefärbten Strömen, die sich mitten durch die See ergossen und sich von dieser scharf abgrenzten, floß es nach dem großen Becken der eigentlichen Nordsee ab, die ich, obgleich schon drei Meilen vom schleswigschen Festlande entfernt, noch immer nicht gesehen hatte. Die vorbeiziehenden Ewer mühten sich, den nächsten Hafen, größere Schiffe die offene See zu erreichen, ehe sie von der Ebbe überrascht würden; aus dem Wasser wuchsen einzelne Hügel empor, unterseeische Sand- und Schlammbänke, und die Küsten von Amrum und Sylt wurden höher und höher.

Immer seichter und trüber wurde das Wasser, und endlich lag auf Meilenweite der nackte Meeresgrund da, zahllose Hügel und Thäler bildend, Alles überzogen von einem graugelben, dickflüssigen Schlamme. Das sind die Wattengründe, neben den Inseln und Halligen die Trümmer des untergegangenen Landes, und sie ziehen sich längs der ganzen schleswig-holsteinischen Westküste in einer Breite bis sechs Meilen hin, eine Wüste von siebenzig Quadratmeilen umfassend, in welcher über einhundert ehemals dicht bevölkerte Kirchspiele begraben liegen. Diese ganze Fläche liegt zur Ebbezeit, wo das Wasser über sechs Meilen zurücktritt, entblößt da. Aber zahllose Rinnen, bald schmäler, bald breiter, bald seichter, bald tiefer, sogenannte Tiefen oder Wattströme, durchschneiden das Wattenfeld in allen Richtungen und theilen es in eine Menge größerer und kleinerer Inseln ab. Einige dieser Tiefen oder Gate tragen auch noch zur Ebbezeit kleinere Fahrzeuge; [635] andere, Leien oder Priele geheißen, kann man überspringen oder durchwaten und so von Watt zu Watt, von Insel zu Insel wandern, und die Insulaner, welche solches unternehmen, heißen Schlick- oder Wattläufer.

Auch ich trat jetzt meine Fußwanderung nach Amrum an; aber nicht allein, was dem Fremden aus mehrfachen Gründen nicht zu rathen, sondern in Begleitung eines kundigen Führers, der diesen Weg allwöchentlich zweimal machte, denn er war der Postbote zwischen Föhr und Amrum. Ein echter Inselfriese, worauf er nicht wenig stolz war, von langer, hagerer, aber starkknochiger, muskulöser Gestalt, mit röthlich-blonden, lockigen Haaren und wasserblauen Augen, die mattweiße Haut mit Sommersprossen und Leberflecken bedeckt. Wir staken Beide in hohen, gethranten Schlickstiefeln, die das Wasser nicht einließen; aber Haik Melw Prottje – so nannte sich mein Begleiter – hatte sich auch im Uebrigen dermaßen ausgerüstet, als gälte es eine Nordpolexpedition. Trotz des Sommertages trug er ein buntes Wollenhemd und darüber eine dicke, blaue Flansjacke, um den Hals einen rothen Wollenshawl und auf dem Kopfe eine Kappe von Seehundsfell, die heruntergezogen Gesicht und Nacken bedeckte und nur die Augen frei ließ.

„Lukkins tu!“ sagte er, als ich nach der Ursache dieser Vermummung fragte. „Man kann nie wissen, was es auf den Watten giebt: kalte, feuchte Winde sind gewöhnlich, nicht selten aber auch Regen- und Hagelschauer.“

Die Brieftasche hatte er sich um den Leib geschnallt, während er auf dem Rücken einen mäßig großen Kasten trug, der nach seiner Angabe verschiedene Eß- und Colonialwaaren enthielt, die er auf Föhr für seine Nachbarn eingekauft. Endlich hielt er in der Hand eine lange Springstange.

Aus der Ferne gesehen, erscheinen die Watten todt und einförmig, aber jetzt konnte ich auf ihnen ein reges Leben und Treiben von mancherlei Pflanzen und Thieren entdecken. Der Boden des Wattenmeeres besteht aus einer dickflüssigen Thonerde, Klei oder Schlick genannt, die häufig mehrere übereinander abgelagerte Schichten von Sand oder Terrig als Unterlage hat. Daneben finden sich ganze Gras- oder Tangwiesen, Torfmoore, Wälder von Baumwurzeln, Austern- und Muschelbänke. Um die Steine ranken sich zierliche Tangbüschel und allerhand Seepflanzen, und sogar in den Spalten der Steine sieht man wundersame Bildungen, nämlich schöne Dendritenlandschaften. Auf den Schlammbänken wimmelt’s von Seesternen und Muschelthieren, Porren und Krabben; große Schwärme von Seevögeln lassen sich hier nieder und finden auf der Schlammbank den Tisch gedeckt. Die tiefer liegenden Wattgründe, welche sich meist an Schlammbänke lehnen, sind die Heimath der Auster, deren Felder große Strecken einnehmen. Ueberall sieht man Fischer und Schlickläufer. Jene fangen in den Wattströmen Schollen und Butten, Aale und Sandspieren, diese sammeln Bernstein und Muscheln, die in Husum zu Kalk gebrannt werden. Einige stechen Seetorf, der theils als Feuerungsmaterial, theils zur Bereitung des friesischen Salzes benutzt wird. Andere sind Sand- und Stranddiebe, die sich vor den landesherrlichen Sand- und Strandvögten gar wohl in Acht zu nehmen haben. In den Rinnen stehen Ewer, Prahme und Boote, in welche Fische, Muscheln und Torfstücke eingeladen und mit der rückkehrenden Fluth fortgeschafft werden. Andere Fahrzeuge sitzen auf dem bloßen Watt, von der Ebbe überholt und müssen nun, um wieder flott zu werden, die nächste Fluth oft mehrere Tage abwarten. Ueberhaupt ist das Geschäft eines Wattenschiffers oder Binnenlandfahrers mit mancherlei Beschwerden und Gefahren verbunden. Er muß genau alle Tiefen und Untiefen, Strömungen, Baaken und Landmarken kennen, sich durch Stürme, Nebel und Eis zurechtzufinden und bei der Enge und Leichtigkeit mancher Wattströme mit seinem Schiffe klug zu laviren und es geschickt hindurchzuschieben wissen. Trotz alledem kann er auf’s Trockene gerathen und Tage lang sitzen bleiben.

Jedes Watt, jede Sandbank haben ihren Namen, ihre Geschichte. Dort ist ein Schlickläufer verirrt oder gar zu Tode gekommen, hier ein Schiff gestrandet oder ein werthvoller Fund gemacht worden. So heißt eine große Sandbank bei Sylt Buttersand, weil auf ihr ein Wattenschiffer mit seinem Fahrzeug vierzehn Tage lang gelegen, bevor eine Springfluth ihn wieder flott machte, während welcher Zeit er in Ermangelung anderer Lebensmittel die Butter verzehrte, in der die Ladung des Schiffes bestand. Eine andere noch größere Bank, die Höntje geheißen, auf der große Austernfelder liegen, war einst der Schauplatz eines Gefechts zwischen friesischen und dänischen Austernfischern, und auf der Hoogebank haben dänische und schwedische Kriegsschiffe, die hier zur Ebbezeit beiderseits auf den Sand und so aneinander geriethen, sich im Frühjahr 1713 eine blutige Schlacht geliefert.

Auge und Ohr werden nirgends leichter betrogen, als auf dem stillen Watt, zumal bei dickem Nebel oder finsterer Nacht, wo das Rauschen der Gewässer und das Gekreisch der Seevögel die überdies mit zahllosen Spukgeschichten angefüllle Phantasie des Schlickläufers sieden machen. Auch mein Führer erzählte mir, wie er sich einst auf dem Watt verirrt habe, von der Fluth überrascht worden und nur mit Mühe dem Tode entronnen sei.

„Aber,“ fragte ich, „wie könnt Ihr Euch verirren auf einem Wege, den Ihr tausend Mal gemacht habt, wo Ihr jeden Stein kennen müßt?“

„Aa Gottat dachan!“ antwortete er. „Bedenkt, Herr, daß der Weg von heute nicht mehr der von gestern ist. Die See verwischt jeden Fußstapfen, jedes Merkzeichen, läßt nicht Stock noch Stein an ihrem Platze, wandelt Thal in Hügel, reißt neue Priele auf und füllt alte aus. Und dann erst der Nebel! Herri Jimandi! Wenn der Euch überfällt, kreist Euch der Kopf und Ihr wißt nicht mehr, was rechts oder links ist.“

„Doch wie mag die Fluth Euch überraschen? Man weiß ja die Stunde ihres Eintretens und soll sie schon in weiter Ferne donnern hören.“

„Uuha!“ machte er. „Die Fluth richtet sich nicht nach dem Kalender, sie kommt früher oder später. Bisweilen hört man sie, aber sie kommt auch leise wie der Dieb angeschlichen.“

„Und kann man ihr nicht entfliehen?“

„Pü – ü – ü!“ lächelte er. „Entfliehen? Ihr wollt der Fluth entkommen?! Und wenn Ihr das schnellste Pferd unter Euch hättet, sie würde Euch doch überholen. Luk so! Ihr hört sie in der Ferne donnern, sie steht in weißer Brandung noch hinter Euch, Ihr geht schneller, aber plötzlich ist sie Euch zur Seite und jetzt quillt sie vor Euch aus dem Boden empor und umzingelt Euch, rechts und links, hinten und vorn. Nein, nein, Ihr könnt der Fluth nicht entlaufen, und wenn Ihr auf dem Winde reitet!“

„Also die Fluth überraschte Euch?“

„Ja, ich hatte den Weg verloren und sie war plötzlich da. Di Blixam! Ich lief nach einer Muschelbank, thürmte Stein auf Stein und stellte mich hinauf; allein sie kam immer höher, Steine waren nicht mehr bei der Hand, und so nahm ich diesen Kasten, schob ihn mir unter die Füße und stützte mich auf die Springstange, damit mich das Wasser nicht umwürfe. Bald ging’s mir über die Kniee, bald über den Leib, endlich bis an die Brust. Dann stand es, aber ich mußte sechs Stunden ausharren, ohne den Kasten wäre ich verloren gewesen.“

„Gräßlich!“ rief ich.

„Wohl gräßlich!“ sagte er. „Doch nicht des Wassers wegen. Das ließ mich in Ruhe, nicht aber die verdammten Traaler.“

„Was sind Traaler?“

„Ae, Ihr seid ein Fremder, ein Pröish, wie ich meine. Nun denn, die Traaler sind Unholde, die Geister Gestorbener oder noch Lebender, die sich in Vögel, Katzen, Seehunde, oft auch in feine Dirnen mit langen weißen Gewändern verwandeln und den einsamen oder verirrten Wanderer ängstigen. Auch mich umflatterten sie, wie ich unter Todesängsten auf der Muschelbank stand, in allerhand Gestalten, schnitten abscheuliche Gesichter, schlugen mich mit den Flügeln, verlachten und verhöhnten mich, und schrieen mir Verwünschungen in die Ohren. Eine Weile ließ ich’s mir gefallen, dann aber wußte ich sie zu verscheuchen.“

„Ihr schlugt ein Kreuz, spracht ein Gebet?“

„Nicht doch. Daran kehren sich die nicht. Nein, ich kniff die Augen fest zu und spuckte ihnen in’s Gesicht. Das können sie nicht vertragen und ließen mich dann in Frieden.“

„Wenn ich Euch recht verstanden, so leben noch heute unter Euch Personen, die heimliche Traaler sind?“

„Gewiß! es giebt deren noch manche auf Föhr und Amrum; aber man kann sie leider nicht mehr, wie es früher häufig geschehen, vor das Dinggericht stellen und auf der Haide verbrennen. Unter ihnen befinden sich Männer und Frauen, junge Mädchen und alte Weiber. Alle Traaler treiben Teufelskünste und Zauberei [636] schlagen Menschen und Vieh mit Krankheit, oder sie legen einem den Traalkranz, aus bunten Fäden gewebt, in das Kopfkissen, worauf der Bezauberte kein Auge zuthun kann, beständig von Kopfweh und Mattigkeit geplagt wird, so daß er hinschwindet wie der Thau an der Sonne, wenn man den Traalkranz nicht entdeckt und vergräbt.“

„Und wie erkennt man, daß Jemand ein Traal sei?“

„Es giebt dafür nur ein Mittel, aber ein unfehlbares. Luk so! Man legt dem Traal einen Besen in den Weg. Jeder ordentliche Christenmensch schreitet unbekümmert darüber weg, aber ein Traal kann das nicht: er muß ihn aufbeben und bei Seite stellen.“

„In der That?!“

„Bi’n Hinghar!“ betheuerte Haik. „Seht! mein eigner Vater – Gott hab’ ihn selig! – hatte eine Traal zur Braut. Es war ein feines, blutjunges Mädchen, aber sie hatte die Teufelskunst von der Mutter gelernt. Eines Nachts geht mein Vater nach dem Strande, um zu sehen, was die Fluth aufgeworfen hat. Unterwegs überfallen ihn die Traaler in Gestalt großer grüner Vögel und verspotten ihn. Er glaubt den schönsten Vogel an der Stimme als seine Braut zu erkennen und versetzt ihr mit seinem Messer einen scharfen Stich. ,Stoß noch einmal!’ ruft die Traal. Doch mein Vater hütete sich: der zweite Stich hätte den ersten geheilt. Am andern Tage hatte das Mädchen die Schulter verbunden und behauptete, es wäre gefallen und hätte sich schwer verletzt; mein Vater wußte es indeß besser, er ging ihr fortan aus dem Wege und freiete eine Andere.“

„Und Ihr glaubt wirklich an diese Sachen?“

„Bi’n Dönnar!“ schrie er, erstaunt die Augen aufreißend und mich mitleidig ansehend. „Ich sollte nicht glauben, was ich hundert Mal von alten klugen Leuten gehört und selber erfahren habe?! Unser Herr Pastor und der Schulmeister dünken sich zwar weiser und schelten es Aberglauben, aber sie hüten sich, in Nacht und Unwetter auf das Watt oder die Haide zu gehen.“

Unter solchen Gesprächen erreichten wir endlich Amrum. Es liegt mit Föhr auf einer großen Wattfläche, die nur hin und wieder durch schmale seichte Rinnen zerspalten ist. Täglich zwei Mal wandern die Föhringer und Amringer hinüber und herüber. Vor fünfzig Jahren konnte man zur Ebbezeit auch von Amrum nach Sylt gelangen. Beide Inseln trennte damals nur ein schmales Gat, das inzwischen zum breiten reißenden Strome geworden und die Vortraptiefe heißt. Zuweilen sollen es noch kecke Schlickläufer unternehmen, von Sylt nach dem gegenüberliegenden, vier bis fünf Meilen entfernten Festlande zu wandern, aber gewöhnlich müssen die Waghälse wegen der vielen breiten Priele umkehren, und mehrere sind schmählich ertrunken.

Die Insel Amrum hat die Gestalt eines halben Mondes, ist etwa anderthalb Meile lang und von sehr ungleicher Breite, die in der Mitte, wo sie am größten ist, fast eine halbe Meile beträgt. Auf ihr befinden sich drei Dörfer, zwei Schulen, eine Kirche und eine Windmühle. Norddorf zählt vierzig, Süddorf zwanzig und das in der Mitte gelegene Kirchdorf Nebel achtzig Häuser. Außerdem stehen noch auf Stianaad, wo sich der kleine Hafen der Insel befindet, zwei Häuser. Die Zahl der ganzen Bevölkerung beträgt etwa sechshundertundfünfzig, von denen sich jedoch viele Männer und Jünglinge meistens auswärts, das heißt auf der See befinden.

Als wir das niedrige Marschufer erreichten, stießen wir auf eine kleine Alte, die unter der Last ihrer Jahre gebückt, aber rüstig sich fortbewegte. Sie grüßte uns mit dem landesüblichen „Gud Dâi!“ und machte dann vor uns Halt, indem sie die Hände auf ihren Stock stützte und mich mit ihrem frischen rothen Gesicht und den hellen blauen Augen musterte. Sie richtete an meinen Begleiter mehrere Fragen, die dieser gegen seine Gewohnheit nur einsilbig und wie es schien mit Widerstreben beantwortete. Beide sprachen in ihrem friesischen Dialect, wovon ich leider nur wenig verstand; doch konnte ich merken, daß ihre Unterhaltung dem Fremden galt. Endlich schien sie befriedigt und humpelte weiter. Haik blickte ihr nach, und als auch sie sich nach uns zurückkehrte, schrak er sichtlich zusammen und wandte sich schnell.

„Ist die Alte eine Traal?“ fragte ich.

„Nicht doch!“ entgegnete er, „aber sie hat den Vorspuk.“

Der Vorspuk ist ein psychologisches Phänomen, das den Bewohnern abgelegener Inseln in unserm Norden beizuwohnen pflegt, und auf den Hebriden und Shetlandsinseln second sight oder Zweites Gesicht heißt. Sonntagskinder oder solche, die auf einer Glückshaut geboren sind, können gewisse Ereignisse mit allen Einzelheiten voraussehen. Man sieht die Leiche eines noch Lebenden auf dem Strohlager liegen, hört den Sarg zimmern und zunageln, den Küster singen, sieht den Leichenzug sich vom Sterbehause nach dem Gottesacker bewegen, oder erblickt statt dessen auf dem Kirchwege Feuerkugeln und hüpfende Lichter. Man sieht auf der Sandbank, genau da, wo sich später der Unglücksfall ereignet, ein Schiff mit allen Segeln und der ganzen Takelage in der Luft schweben, von einem hellen Schein umgeben. Man hört die Lieben, welche in der Fremde starben, bedeutungsvolle Worte sagen, und der Seemann, der im Sturm verunglückte, tritt in aufgezogenen wassertriefenden Stiefeln, schweren Ganges, und wäre es tausend Meilen weit, unter die Seinen. Man sieht das Haus in Flammen stehen oder gar die leergebrannte öde Stätte.

Jetzt verließ mich mein Führer. Er ging nach Nebel, woselbst sich das Postcomptoir befindet, während ich zunächst in dem vor uns liegenden Norddorf bei einem ehemaligen Schiffscapitain vorsprechen wollte, an welchen ich mir auf dem Festlande einen Empfehlungsbrief hatte geben lassen. Haik weigerte sich, ein Geldstück anzunehmen, das ich ihm für seine Führung bot.

„Nicht doch!“ sagte er. „Es ist gern geschehen und hat mir nicht die geringste Mühe gemacht.“

Solche Uneigennützigkeit und eine große Gastfreundschaft findet sich noch auf den kleinen Inseln und Halligen, selbst unter den ärmsten Leuten, aber nicht mehr auf Föhr und Sylt, wo die zahlreichen Badegäste jene Tugenden fast ganz verwischt haben.

„Nein!“ wiederholte der brave Bursche, als ich in ihn drang, die wohlverdiente Kleinigkeit doch anzunehmen. „Nein, Geld nehme ich nicht; aber wenn Ihr mir durchaus etwas schenken wollt, so gebt mir jenes Uhrband, und ich will es zum Andenken an Euch tragen.“

Es war ein einfaches Band in den schleswig-holsteinischen Landesfarben, was er jetzt dankend in Empfang nahm und mit sichtlichem Vergnügen sofort an seiner massiven dreigehäusigen Uhr, einem Erbstück seines Großvaters, befestigte. Dann wünschte er mir glückliche Reise, und ich ging in’s Dorf.