Aus den letzten Tagen zwei Verurtheilter

Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus den letzten Tagen zwei Verurtheilter
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 199–201
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[199]
Aus den letzten Tagen zwei Verurtheilter.
Nr. 1. Ist das Strafe?

Auf dem Gebiete der Criminal-Rechtspflege haben sich zwei Parteien gebildet. Die eine will wesentliche Reformen, die andere beharrliches Festhalten am Althergebrachten. Am meisten Interesse gewährt jetzt der Streit über Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe. Man kämpft auf beiden Seiten mit denselben Waffen; man entnimmt die Gründe für seine Behauptungen gleichmäßig aus der Criminalpolitik, der Rechtsphilosophie, der Religion und der Ethik. Meine in einer langen Dienstzeit gesammelten Erfahrungen haben mich aber noch mit einer andern Quelle bekannt gemacht. Diese Quelle entspringt im Gefängniß. Hier lassen sich Beweisstücke von unwiderleglicher Stärke sammeln.

Ich habe eine große Zahl Verbrecher zu beaufsichtigen gehabt, welche nach dem Ausspruche des Gerichts die Todesstrafe erleiden sollten, und auch solche beaufsichtigt, denen der Lebensfaden durch das Beil des Henkers zerrissen wurde. Ich bin bemüht gewesen, die Wirkungen der Strafe bis zu dem Augenblicke der Vollstreckung kennen zu lernen, ich habe in der Seele dieser Verbrecher gelesen, bin hinabgestiegen in die Tiefe der Brust und habe von hier Empfindungen an das Tageslicht gefördert, welche Trotz und Scham eng und fest umschlossen hielten. Meine Wahrnehmungen standen in jedem einzelnen Falle mit dem Strafgesetze in Widerspruch. Das Gesetz erachtet die Todesstrafe als die härteste Züchtigung, denn die schwersten Verbrechen sollen damit gesühnt werden. Allein empfindlicher und deshalb auch weit härter als der Tod ist für den schweren Verbrecher das Leben. Das lernt sich allerdings nur begreifen, wenn man Gelegenheit hat, täglich in die Zelle einzutreten, welche den schweren Verbrecher umschließt. Ich habe oft gewünscht, daß dies gestattet sein möchte. Es würde dies die Heilighaltung der Verbotsgesetze weit wirksamer herbeiführen, als dies die Strafen thun, welche für die Uebertretungen dieser Gesetze auszusprechen und zu erdulden sind.

In meiner Erinnerung sind zwei Fälle besonders lebhaft, die ein allgemeines Interesse bieten dürften.

Es war bereits neun Uhr Abends, als mir der Untersuchungsrichter mittels Transports von einem entfernten Dorfe noch einen Gefangenen zuführen ließ. Demselben waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, weil er versucht hatte, davon zu laufen. In dem Verhaftsbefehle war als Grund der Verhaftung angegeben: wegen Mordes.

Der Fluchtversuch und die Schwere der Beschuldigung machten auch mir bestimmte Vorsichtsmaßregeln zur Pflicht. Ich brachte den Gefangenen in die festeste Zelle, ließ ihn mit dem linken Fuße an die Kette legen und außerdem von ihm alles entfernen, wodurch die Flucht nur irgend möglich gemacht werden konnte.

Der Gefangene erregte kein besonderes Interesse. Es war eine kurze gedrungene Gestalt, kaum fünf Fuß groß. Sein unverhältnißmäßig großer Kopf saß auf einem kurzen, aber starken Halse. Das bartlose Gesicht war ohne geistige Belebung, stumpf und finster. Nur wenn der Blick aus den großen Augen sich hochrichtete und blitzartig im Zimmer umherirrte, da war zu erkennen, daß der Mensch dachte und fühlte, und auch, daß er fürchtete.

Der Gefangene versicherte hoch und theuer, unschuldig zu sein.

Die erste Nacht im Gefängniß ist für jeden Gefangenen schauerlich. Selbst ergraute Verbrecher, wenn sie nach einer überstandenen Strafe neuerdings wieder zur Haft gebracht werden, können die erste Nacht nicht ohne Grauen überstehen. Ein alter Dieb gab mir hierfür einmal eine treffende Erklärung. „Wenn ich,“ so sagte er, „wieder in diesen Käfig gehen muß, losgerissen von allen Menschen, und hier allein sitze und dann die Nacht hereinbricht und um mich herum nichts sich regt: da ist es mir, als ob der Teufel in irgend einer Ecke lauere, als ob er jeden [200] Augenblick auf mich losspringen, mich packen und den Hals mir umdrehen müsse,“ Diese Erklärung ist allerdings kernig, sie bezeichnet aber wahr den innern Zustand eines Menschen, der durch strafbare Verirrungen die Aufnahme in das Gefängniß verschuldet hat.

In gleicher Weise mußte mein Gefangener gefühlt und gefürchtet haben. Als ich am andern Morgen in seine Zelle trat, fand ich ihn bereits auf der Bank sitzend. Er schien das Lager gar nicht aufgesucht oder dasselbe schon am frühen Morgen wieder verlassen zu haben. Sein Oberkörper war in Form eines Sprenkels gebogen, der Kopf auf beide Hände gestützt. Die Füße, welche, weil sie kurz waren, auf dem Fußboden keinen Stützpunkt fanden, zeigten sich in ununterbrochener zitternder Bewegung. Er verblieb auch in dieser Stellung, obwohl er mein Eintreten bemerkt haben mußte. Erst als ich ihn fragte, wie er geschlafen habe, richtete er den Kopf langsam hoch. Sein Blick war matt und müde, das Gesicht entsetzlich bleich, jede Muskel schlaff. Die erste Nacht hatte ihm arg mitgespielt.

„Geschlafen?“ erwiderte er leise, „ich habe kein Auge zuthun können.“

„Aber weshalb denn nicht?“ fragte ich theilnehmend.

Ich bekam keine Antwort. Dies Schweigen ließ mich erkennen, daß ich keinen verstockten Sünder vor mir hatte und daß es nicht schwer halten werde, ein Bekenntniß der Schuld zu erhalten. Ich setzte mich auf die Bank dicht neben den Gefangenen und erfaßte seine Hände, die kalt waren wie Eis.

„Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie kein Auge haben zuthun können?“

Ich sagte dies leise und weich, hielt die Hände fest und suchte diese durch Reiben zu erwärmen. Der Gefangene erwiderte nichts, aber seine Brust hob und senkte sich lebhafter.

„Ich will es Ihnen sagen,“ fuhr ich fort. „Wenn Sie die Augen schlossen, so sahen Sie Blut. Und das nicht allein. Sie sahen auch die Wunden, die Sie geschlagen haben. Ach, und noch weit Entsetzlicheres sahen Sie. Soll ich Ihnen auch das sagen?“

Der Gefangene blieb still. Allein sein Athem wurde immer kürzer und der Körper erzitterte.

„Das Schrecklichste, was Sie sahen, das waren die Todeszuckungen der Erschlagenen. Nicht wahr?“

Ich hatte mich zu dem Ohr des Gefangenen herabgebeugt und die letzten Worte in dasselbe hineingeflüstert. Er ließ das ruhig geschehen, er machte nicht einmal eine abwehrende Bewegung, er verharrte nur in seinem dumpfen Hinstarren. Und doch mußte ich eine Antwort haben, ich durfte nicht aufhören, die Schrecknisse der ersten Nacht dem Gefangenen in das Gedächtniß zurückzurufen, wenn er geheilt werden und Ruhe finden sollte.

„Aber,“ sagte ich, indem ich die eine Hand leicht löste und mit dem freigewordenen Arm den Gefangenen umfaßte, „Sie sahen nicht nur, Sie hörten auch. Und das Ohr ist noch weit empfindlicher als das Auge. Das Gehörte vergißt sich nicht, es preßt sich tief, unauslöschlich tief in das Gedächtniß. Wenn Sie auch nichts mehr sehen sollten, in Ihren Ohren werden fort und fort die Laute wiederhallen, die Sie in der letzten Nacht gehört haben, die mit grauenvoller Gewalt Ihr Innerstes erschütterten.“

Der Gefangene riß mit einer hastigen Bewegung seine Hände von mir los. Er legte sie flach vor die Ohren und keuchte:

„Ja, ja, Sie haben Recht. Das Gehörte vergißt sich nicht. Wenn ich auch die Ohren zuhalte, fest, daß kein Laut von außen hindurch kann, ich höre doch –“

Die Folge dieser Unterredung war ein unumwundenes Geständniß. Der Gefangene bekannte nicht nur, sondern er erkannte auch seine Schuld und fühlte aufrichtige und tiefe Reue.

Die That selbst in ihren Einzelnheiten will ich nicht wiedergeben, die Veranlassung zu derselben aber muß ich kurz erwähnen, weil sie den Verbrecher charakterisirt.

Der Gefangene war ein junger, strebsamer und in seinem Fache äußerst geschickter Handwerker. In der Schule und in und außer dem Hause war seine Führung tadellos gewesen, und in dem gesellschaftlichen Verkehr war er sogar ein gern gesehener und beliebter Gast. Er hatte nicht verabsäumt, die Kirche regelmäßig zu besuchen und durch Lesen guter Bücher sein Wissen nach Möglichkeit zu bereichern. So hatte er bereits sein einundzwanzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als in ihm der Wunsch nach Selbstständigkeit rege wurde. Geweckt wurde derselbe dadurch, daß er seinen Ansichten von dem Betriebe seines Gewerbes keine Geltung verschaffen konnte, daß sein Streben nach Ausbreitung und Vervollkommnung des Geschäfts zurückgewiesen wurde, und daß er, wie er sich ausdrückte, in dem alten Schlendrian fortarbeiten mußte. Der Zwang machte ihn zuerst nur unlustig, bald aber widerwillig und zuletzt wurde er für ihn unerträglich. Er suchte lange Zeit nach einem Mittel zur Abhülfe, fand aber keinen Weg, der zum vorgesteckten Ziele führte. Da endlich in einer schlaflos verbrachten Nacht kam ihm ein Gedanke in den Kopf. Dieser Gedanke, so entsetzlich er auch war, faßte Wurzel, er trieb mit riesenhafter Schnelligkeit zu Entschlüssen und nach einer kurzen Inbetrachtnahme zweckdienlicher Mittel ungesäumt zur Ausführung des in größter Eile entworfenen Planes.

Man wird zugeben daß der Gefangene, so schreiendes Unrecht er auch verübt hatte, bedauernswerth erscheinen muß, und daß seine gesellschaftliche und religiöse Bildung ihn befähigte, über seine That und deren nothwendige Folgen zu urtheilen.

Der Gefangene wurde wegen Mordes zur Todesstrafe verurtheilt. Er war darauf vorbereitet und wurde durch die Verkündung des Urtheils nicht überrascht und auch nicht erschreckt.

Am Morgen nach seiner Verurtheilung hatte der Mörder sorgfältig Toilette gemacht. Mir fiel dies sofort auf, da ich ihm in Bezug auf Reinhaltung des Körpers und der Kleidung regelmäßig hatte Verweise ertheilen müssen. Noch mehr aber überraschte es mich, als er sich rasch von seiner Bank erhob, mir einige Schritte entgegenkam, dicht vor mir stehen blieb; die Hände faltete und mir ernst, aber nicht finster, in das Gesicht sah.

„Was haben Sie denn vor?“ fragte ich freundlich.

„Ich bin fertig,“ erwiderte er ruhig und fest. „Ich habe mit dem Leben abgeschlossen. Lassen Sie uns gehen.“

„Wohin denn?“

„Sie fragen das? Ich habe ja nur noch einen Weg zu gehen, und das ist der zur Richtstätte.“

„Damit hat es noch Zeit, lieber Freund, wenn es überhaupt noch dazu kommt.“

„Wie meinen Sie? Ich bin doch verurtheilt, und habe erklärt, daß ich mich dem Urtheile unterwerfe. “

„Das ist richtig. Aber erst muß das Urtheil rechtskräftig werden. Darüber vergehen zehn Tage –“

„Auch wenn ich erkläre, daß ich dem Urtheile mich unterwerfe?“

„Auch dann –“

„Also erst in zehn Tagen! –“ rief er, mich unterbrechend, enttäuscht.

„Nein, dann immer noch nicht. Nach Ablauf dieser zehn Tage wird die Bestätigung des Urtheils nachgesucht.“

„Was ist denn das?“ fragte der Mörder erschreckt.

„Jedes Urtheil bedarf zur vollen Gültigkeit der landesherrlichen Bestätigung. Zu diesem Zwecke erstattet das Schwurgericht Bericht an das vorgesetzte Appellations-Gericht. Von dieser Behörde werden die Acten geprüft und demnächst, mittelst eines besonderen Berichts, dem Justiz-Minister vorgelegt. Hier erfolgt nochmals eine Prüfung der Acten und dann wiederum ein Bericht an des Königs Majestät; und erst auf diesen letzten[WS 1] Bericht Allerhöchste Entscheidung, die dann auf demselben Wege uns zugeht.“

„Und wie lange habe ich darauf zu warten?“

„Das läßt sich genau nicht bestimmen. Besonders schnell geht das nicht. Es mögen acht bis zehn Monate darüber hingehen, wir haben aber auch schon ein Jahr und noch länger warten müssen.“

„Ach, das ist entsetzlich!“ rief der Mörder mit allen Zeichen großer Erregung. „So lange in Ungewißheit zu sein, und unausgesetzt Todesangst ausstehen zu müssen, das ist ja viel schlimmer als den Tod erleiden. Das ist eine fortdauernde Folter des Gastes! Herr Inspector,“ schrie er laut und seine Stimme zitterte vor Erregung, „ich mag nicht leben. Der qualvollste Tod ist mir leichter als das Leben. Ich kann meine Schuld nicht ungeschehen machen. Könnte ich’s, ich wollte es thun und darüber mich selbst zu Grunde richten. Aber weil ich’s nicht kann, so will ich sterben. Wer kann das hindern?“

„Das kann der König. Er hat das Recht zu begnadigen.“

„Ich mag keine Gnade; ich würde diese anrufen, wenn ich zu Zuchthausstrafe verurtheilt wäre.“

Durch gütliches Zureden gelang es mir, die Erregung des [201] Mörders zu beschwichtigen und ihn zu bestimmen, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Es vergingen Tage, Wochen, Monate. Der Mörder berührte in dieser Zeit mit keiner Sylbe die Vollstreckung seines Urtheils. Er sprach überhaupt nur, wenn er gefragt wurde, und dann auch kurz, mit den Worten förmlich geizend. Wenn ich am Morgen in seine Zelle trat, so richtete sich jedesmal sein Blick rasch auf mich. Er sagte kein Wort. Ich wußte aber, daß dieser Blick ihm über seine Zukunft Gewißheit geben, daß er mir von dem Gesicht ablesen wollte, ob die erwartete Entscheidung eingegangen sei. Wenn ich nichts sagte, wie dies regelmäßig geschah, so fielen die Lider langsam über die Augen hinweg, der Kopf beugte sich vorn über, und still wurde dann die kaum auf Augenblicke unterbrochene Beschäftigung wieder aufgenommen. Mit jedem Tage aber mehrte sich die Niedergeschlagenheit des Gefangenen, die bald auch das körperliche Befinden desselben beeinflußte. Es trat nach und nach Appetitlosigkeit und eine vollständige Abmagerung ein. Und dennoch kam kein Laut der Klage uber seine Lippen.

Ich hatte mich an das still leidende Wesen des Gefangenen gewöhnt, und war daher nicht wenig überrascht, als er mir eines Morgens entgegentrat und in großer Erregung ausrief:

„Ich ertrage das nicht länger, es muß ein Ende nehmen. Die Herren wissen nicht, wie mir zu Muthe ist, ich will es ihnen sagen. Das Schwurgericht hat mich zur Todesstrafe verurtheilt. Weshalb wird dieses Urtheil nicht vollzogen? Soll das Urtheil nichts gelten? Dann wäre die Verhandlung vor den Geschworenen nur Komödie! Und wenn sie das nicht sein soll, weshalb noch die Menge Berichte? Und wenn auch diese nothwendig sein sollten, weshalb die Sache nicht beschleunigen, weshalb die Entscheidung so unendlich lange hinhalten? Jeder Tag, den man mich leben läßt, steigert meine Leiden. Am Tage sind diese noch erträglich, aber während der Nacht! Ach, das ist haarsträubend, das ist grauenhaft! Jede Nacht dasselbe sehen und hören müssen, und nichts, auch gar nichts thun können, das zu hindern! O ja, ich könnte es hindern, ich könnte der Sache mit einem Male ein Ende machen. Aber ich will das nicht, ich will der alten nicht eine neue, größere Schuld hinzufügen. Und weshalb auch das thun? Ich habe ja das Recht zu fordern, daß man mir giebt, was ich mir geben könnte, den Tod. Der Tod ist mir Wohlthat, das Leben – Qual. Mit dem Augenblicke, wo ich aufhöre zu leben, haben ja auch alle Schrecknisse ein Ende. Dort oben hoffe ich Gnade zu finden, denn ich habe hier schwer getragen und noch schwerer gebüßt. Heute sind es gerade zehn Monate, daß ich verurtheilt wurde –“

„Woher wissen Sie das so genau?“ fragte ich ihn unterbrechend, um ihn abzulenken.

„Sie glauben nicht? Sehen Sie hierher, das ist mein Kalender. So viel Striche Sie hier wahrnehmen, so viele Nächte habe ich nach meiner Verurtheilung Todesangst ausgestanden, und viele tausend Mal mehr habe ich gewünscht, daß die überstandene Nacht die letzte für mich gewesen sein möchte.“

Der Mörder führte mich an den kleinen, am Fußboden mit starken eisernen Bändern festgemachten Tisch, und zeigte mir an dem Rande desselben kaum bemerkbare Risse, die er mit dem Nagel seines Fingers gemacht haben wollte. Seine Stimme wurde weich und sein Auge naß, als er hierauf fortfuhr:

„Ich weiß es wohl, daß ich das Gesetz mit Füßen getreten habe, daß ich ein Verbrecher bin, wie es selten giebt. Allein ich weiß auch, daß ich nach dem Gesetz bestraft werden muß, und daß mir dies nicht länger vorenthalten werden darf. Ich bitte Sie, melden Sie dem Untersuchungsrichter, daß ich ihn sprechen und noch heute verhört werden müsse.“

Das Verhör fand noch an demselben Tage statt. Der Untersuchungsrichter gab sich die größte Mühe, den Mörder zu belehren, daß es für ihn gerathener sei, ruhig und geduldig zu warten. Seine Worte fanden indeß keinen Eingang. Er mußte niederschreiben lassen, daß der Verbrecher keine Gnade annehmen wolle, daß derselbe die Vollstreckung des Urtheils mit Entschiedenheit fordere und um Beschleunigung der Entscheidung bitte.

Nach der Unterschrift des Protokolls wurde der Mörder wieder ruhiger.

„Ich hätte das schon früher thun sollen,“ sagte er auf dem Wege nach dem Gefängnisse, „dann hätte ich weniger zu leiden gehabt. Jetzt kann die Entscheidung nicht lange mehr ausbleiben.“

Es vergingen aber doch noch mehr als vier Wochen. Der Verbrecher wurde, wie vorauszusehen war, nicht begnadigt; der Gerechtigkeit sollte freier Lauf gelassen werden. Bei der Verkündigung dieser Entscheidung blieb der Verbrecher vollkommen ruhig; er unterschrieb das Protokoll, in welchem ihm zugleich die Stunde der Hinrichtung bekannt gemacht wurde, ohne zu zittern, mit fester Hand.

Am Abende vor der Vollstreckung des Urtheils blieb ich bis nach elf Uhr in der Zelle des Mörders. Ich hatte mir einen Stuhl in die entlegenste Ecke des kleinen Raumes setzen lassen und beobachtete von hier aus still das Thun und Treiben des Delinquenten. Ich sah, daß derselbe sein Abendessen, dem ausnahmsweise eine halbe Flasche leichter Wein beigegeben war, ohne alle Hast und mit wahrem Appetit verzehrte, daß er vor und nach dem Essen die Hände faltete und still vor sich betete, daß er dann das Gesangbuch nahm, wiederum die Hände faltete und aufmerksam und andächtig in diesem Buche las. Ich wurde nicht müde zuzusehen, obwohl das Lesen eine Stunde Zeit hinwegnahm. Der Delinquent blieb hierbei vollkommen ruhig, ich konnte kein Zeichen innerer Bewegung wahrnehmen. Als er das Buch geschlossen hatte, sagte er mehr vor sich hin:

„So, nun soll es genug sein. Ich fühle mich, was ich lange nicht war, müde; ich will versuchen, einige Stunden zu schlafen. Vielleicht schlafe ich heute noch einmal ruhig, wie ich als unschuldiges Kind geschlafen habe; es ist ja die letzte Nacht.“

Er legte sich alsdann auf den Strohsack, schlug die Decke um sich herum, und nicht lange darauf hörte ich Laute, die zweifellos andeuteten, daß er fest eingeschlafen war.

Am andern Morgen war ich schon vor vier Uhr wieder in der Zelle. Der Delinquent lag noch ebenso, wie ich ihn am Abend vorher verlassen hatte, und schlief noch so fest, daß er meinen Zuruf nicht hörte und erst durch Rütteln ermuntert werden mußte.

„Ach, habe ich schön geschlafen!“ sagte er, als er auf den Füßen stand. „So wohl wie heute ist mir lange Zeit nicht gewesen. Solcher Schlaf ist süß. Ich werde nun immer, bis in alle Ewigkeit so schlafen.“

Dies waren seine letzten Worte im Gefängnisse. Er sagte sie ruhig, würdevoll, als ob er bete.

Gegen sechs Uhr führte ich ihn aus dem Gefängnisse. Er lehnte jede Unterstützung ab und schritt fest und sicher die Treppen hinab bis auf den Hof. Es war ein wundervoller Frühlingsmorgen, der wohl die Lust am Leben hätte erwecken können. Bei dem Betreten des Hofes fiel der erste Sonnenstrahl über die hohe Mauer, durch welche der Hof von der Außenwelt abgeschlossen wurde. Der Delinquent wendete sein Gesicht der aufsteigenden Sonne zu und blieb in dieser Stellung bei der Verlesung des Urtheils und der Bestätigungsordre; er änderte sie erst, als der Scharfrichter durch Vorlegen einer Binde ihm das Sehen unmöglich machte. Nur einige Secunden später hatte das Beil seinen Lebensfaden zerrissen. Für diesen Verbrecher war der Tod keine Strafe.

Der zweite Fall, den ich den Lesern der Gartenlaube später erzählen werde, wird allerdings das Gegentheil des heutigen beweisen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzen