Aus den holsteinischen Marschen

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Autor: K. Wtg.
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Titel: Aus den holsteinischen Marschen.
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 564
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Teil I.
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[564] Aus den holsteinischen Marschen. I. Ein Reisebild aus den holsteinischen Marschen zu schreiben, ist schon ein etwas bedenkliches Unternehmen, bedenklicher, viel bedenklicher, als eine ganze Mappe voll Bilder über Frankreich, Spanien oder Italien. Denn in Frankreich gibt es ein Paris mit seinen Mysterien, seinem Bal-mabille, seinen Grisetten und seiner Demimonde, seinem Palais-royal und seinem Pére-Lachaise, in Spanien gibt es eine alte, zerfallene Alhambra, maurische Burgruinen, Gitanos, Fandangotänzerinnen, Schmuggler und romantische Maulthiertreiber, grauenhafte Posadas oder Wirthshäuser mit noch entsetzlicherem Ungeziefer, in Italien gibt es Banditen, Apenninen, Mönche, Nonnen, eifersüchtige Ehemänner, Lagunen, Seufzerbrücken – Himmel! was läßt sich aus solchem Stoff nicht für prächtige Arbeit machen. In den Marschen dagegen findet man kein einziges dieser für feuilletonschreibende Touristen so nützlichen Requisite. Flaches Land und einfache, meist blondhaarige Menschen – was läßt sich da erzählen, schildern? Pikante Reiseabenteuer à la Alex. Dumas, bei dem jede Eisenbahnfahrt nach der Schweiz, jede Excursion nach Rom oder Madrid zu einer romantischen Wallfahrt wird, wie sie die Paladine von Arthur’s Tafelrunde nicht wunderlicher erlebt, allerdings nicht, aber doch bieten auch die Marschen, diese äußersten Ausläufer der großen germanischen Tiefebene viel Eigenthümliches dar, wenn man auch das Charakteristische hier erst nach längerem Aufenthalte im Lande kennen lernt, während es anderwärts vielleicht sofort in die Augen springt. Man sagt den norddeutschen Niederungen Einförmigkeit nach. Die häufigen, schweren, trüben Nebel, die aus dem Moorboden aufsteigen oder vom Meere herein in’s Land getrieben werden, das ewige Einerlei der Flächen, ohne Abwechselung von Thal und Hügel, die matt und träg, mit ihrem vom Moor- und Torfgrund dunkel gefärbtem Wasser, dahinschleichenden Bäche, die weiten Seen mit ihren baumlosen Ufern, in deren Schilf und Gestrüpp eine Menge Wasservögel nisten, die sich oft lang und monoton dahinstreckenden Kieferwaldungen, nur hier und da durch etwas Laubgehölz unterbrochen – Alles das trägt zu jenem Eindruck der Einförmigkeit bei, zumal wenn man vielleicht mitten aus der großartigen Tyroler- oder Schweizeralpenwelt, aus den sonnigen Thälern und Hügeln des Rheingau’s oder aus den waldigen, grünen Bergen Thüringens mit ihren frischen, klaren Quellen, Bächen und Flüssen dahin versetzt wird. Läßt sich nun auch Einiges, was wir über die Eintönigkeit der norddeutschen Niederungen sagten, auf die Marschgegenden Holsteins anwenden, so haben diese, besonders die dicht an der Meeresküste gelegenen, doch noch mannichfaltigere Unterschiede. Der Boden – angeschwemmtes, dem Meere abgerungenes und durch Deiche (Dämme) gegen die Einbrüche des Wassers geschütztes Land – ist fett, schwer und schwarz. In hügelloser Ebene breitet sich die Gegend vor unseren Blicken aus. Aber es ist trotz dieser Flachheit ein charakteristisches Landschaftsbild, das vor uns liegt. Die großen, grünen, gutbewässerten Wiesen, hier und da von lebendigen Hecken eingeschlossen, die runden, holländischen Windmühlen mit dem beweglichen Dach, eingerichtet, jede Winddrehung zu benutzen, die vielen kleinen, mit den buntesten, glänzendsten Farben, roth, grün, blau, gelb, weiß, braun, angestrichenen Häuser, die zwischen den Büschen und Laubgehölzen sichtbar, dazu, in der Nähe der Elbe oder des Meeres, das ewig bewegliche Element des Wassers mit seinem kräftigen Wellenschlage, seinen buntbewimpelten Schiffen, die mit weitausgespannten, weißen Segeln oder mit dampfender Esse dahinfahren – Alles das bietet ein Ensemble, welches zwar an Romantik von einer Menge Gegenden Süd- und Mitteldeutschlands übertroffen wird, aber dennoch für das Auge des Beschauers einen ganz eigenthümlichen Reiz hat. Gerade diese Gegensätze: die unbewegliche Ruhe des Landes und die bewegliche Wasserwelt, die rastlos dahinfluthenden Wellen, über welche in niedrigem Fluge mit mißtönendem Geschrei die Möve fliegt, ziehen uns unwiderstehlich an. Wenn wir von der Ruhe des Landes sprechen, so wollen wir damit aber blos den Contrast zu dem beweglichen Meere und Wasser ausdrücken, nicht etwa damit von einer unbelebten, todten Landschaft sprechen. Im Gegentheil, nirgends ist das Land belebter, als in den Marschen. Ist doch die Marsch berühmt, hochberühmt durch ihre Viehzucht, besonders durch ihre Rinder, und alle diese Thiere sind vom Frühjahr bis zum Herbst, wenn die ersten Schneeflocken fallen und der kalte Nordwestwind über die Haiden streicht, Tag und Nacht draußen auf der Weide. Die Stallfütterung ist blos für die Wintermonate: sobald die ersten grünen Grasspitzen sprossen, wird alles Vieh hinaus in’s Freie getrieben. Auf die Güte des Fleisches, wie auf den ganzen Zustand des Viehes überhaupt hat dies Verfahren einen bedeutenden Einfluß. Jene berühmten Hamburger Beefsteaks, deren Ruf sich von der alten Hansestadt bis hinunter nach Triest erstreckt, jene englischen Roastbeefs, von deren zahlreicher Consumtion englische Schriftsteller die physische Ausdauer, die zähen Nerven John Bull’s herleiten: sie stammen von jenen Ochsen der Marsch, deren stolzer, kräftiger Nacken sich im strengsten Sinne des Wortes nie unter ein Joch gebeugt, die nie durch die Furchen der Aecker, wie es im Binnenlande geschieht, die Pflugschaar gezogen. Auch dies trägt ungemein zur Trefflichkeit des Fleisches bei. Ein lebensmüder Stier oder eine altersschwache Kuh, die zehn Jahre lang vor den Pflug gespannt waren, können unmöglich ein solches kräftiges Fleisch liefern. Doch auch große, starkknochige Pferde, besonders als stattliche Wagenpferde und für die schwere Reiterei gesucht, zieht die Marsch, und es ist in der That ein reizender Anblick, diese schönen, kräftigen Thiere auf grüner Weide sich ihrer ungebundenen Freiheit freuen zu sehen. Indessen ist hierbei etwas Vorsicht räthlich. Die Thiere – besonders die Stiere – gerathen bei der Annäherung fremder Personen leicht in Wuth und es sind dadurch schon so manche Unglücksfälle vorgekommen. Der Export an Schlachtvieh und Butter bildet einen sehr beträchtlichen Handelsartikel und über Tönning werden jährlich Tausende von Rindern nach den englischen Häfen, besonders London, ausgeführt.

Die Schafzucht ist in den Marschen nur unbedeutend – im Verhältniß zu der übrigen Viehzucht wenigstens – dagegen sahen wir, allerdings bei einer Thierschau im südwestlichen Holstein, Schweine von solchem enormen Umfange, daß man sie getrost als Seltenheiten in Menagerien hätte sehen lassen können. Am unbedeutendsten aber ist die Federviehzuchr und es scheint, als hätte der Marschbauer seinen einzigen Ruhm und Stolz in die Rinderzucht gesetzt, die sich denn auch ohne Gefahr der holländischen, schweizerischen und einigen berühmten englischen Racen kühn zur Seite stellen kann, ohne einen Vergleich zu scheuen. Charakterisirt doch auch der alte Arndt in seinem „Was ist des deutschen Vaterland?“ diese Gegenden durch die Worte: „Dort wo des Marsen Rind sich streckt.“ So viel für dieses Mal zum Eintritt in die Marschgegenden Holsteins. Das nächste Mal wollen wir von ihren Bewohnern, unsern wackern deutschen Brüdern dort oben in den nordalbingischen Herzogthümern erzählen.

K. Wtg.


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Autor: K. Wtg.
Titel: Aus den holsteinischen Marschen.
aus: Die Gartenlaube 1858, Heft 40, S. 579-580
Teil II.


[579] Aus den holsteinischen Marschen. II. Wie das Land, so die Leute. Beide stehen in genauester Wechselbeziehung. Fruchtbar, unerschöpflich an Ergiebigkeit ist der Boden der Marsch und kräftig, gesund, blühend der Menschenschlag, der auf ihr wohnt. Der nationale Charakter ist bei den holsteinischen Marschbewohnern vielleicht mit am reinsten und bestimmtesten unter allen deutschen Stämmen erhalten. Blonde Haare, blaue Augen, breite Schultern, starke Flanken, die Nase in der Regel wohlgeformt, mehr groß, als klein. Stumpfnäschen sieht man selbst beim weiblichen Geschlecht selten. Ich erinnerte mich, als ich diese holsteinischen Gesichter sah, lebhaft der interessanten Beobachtungen, die Arndt in seinen [580] „Wandlungen und Wanderungen mit dem Freiherrn von Stein“ über die charakteristische Verschiedenheit der deutschen und russischen Physiognomien macht. Die russischen Nasen nennt er breite, unförmliche Fleischklumpen, flach und platt in’s Gesicht geklebt, im schärfsten Gegensatz zu der bestimmten, scharf begrenzten, hervortretenden Nasenbildung der germanischen Race. – Das weibliche Geschlecht in den Marschen steht den Männern an körperlicher Tüchtigkeit nicht nach. Frauen und Mädchen blühen und strotzen von Kraft und Gesundheit und wenn sie im Durchschnitt auch mehr feste, dralle Figuren, als zarte, ätherische Erscheinungen sind, so findet man doch auch nicht unter ihnen jene bleich- und schwindsüchtigen Gestalten, wie sie anderwärts nur zu zahlreich unter der Frauenwelt zu erblicken. Eine allerdings nicht gerade schöne Eigenthümlichkeit der Frauen und Mädchen aus der Marsch ist, daß sie fast durchgängig große Füße haben, eine Specialität, an welcher der fette, schwere Marschboden, in welchem sich, besonders nach dem Regen, der Fuß beim Gehen platt und breit drückt, Schuld sein soll. Diese Eigenthümlichkeit des Bodens mag auch wohl – wie hier gleich bemerkt werden mag – den so häufigen Gebrauch des hohen, schweren Holzpantoffels, wie er auch von dem Bauer in Frankreich und Belgien getragen wird, verursacht haben. Niemals ist mir das abscheuliche Geklapper der Holzpantoffeln häufiger vorgekommen, als in den holsteinischen Marschen, wo sie von Jung und Alt auf dem Lande und auch von den ärmeren Classen in der Stadt durchgängig getragen werden.

Der Hauptgrund dieser kräftigen Gesundheit liegt wohl vor Allem in der reichlichen und nahrhaften Kost, welche die Marschbewohner genießen. Zum Frühstück Grütze und Klöße mit Speck, zu Mittag wieder Speck, wieder Klöße, dann Rindfleisch, Fische in Butter gebraten, Kartoffeln, Grütze und wieder Speck: das ist so die Kost der Bauern in der Marsch, wozu als Modulation vielleicht einmal eine Fruchtsuppe oder Buttermilchsuppe mit Klümpen oder Klößen tritt. Im Durchschnitt werden die Speisen sehr fett zubereitet und zu einem Gericht Bohnen (sogen. Pferdebohnen), welches vielleicht für drei Personen bestimmt ist, kommt sicherlich ein Pfund Speck. Das Brod, das eigentliche Schwarzbrod, ähnelt dem westphälischen Pumpernickel; das Korn wird nur geschroten und dann verbacken. Es sieht schwärzer aus, als das Commißbrod unserer Soldaten, ist zwar etwas schwer zu verdauen – für einen mitteldeutschen Magen nämlich – doch trotzdem wohlschmeckend und man gewöhnt sich auch leicht an den Genuß desselben. Häufig wird dazu, wie überhaupt in Norddeutschland, feines weißes Brod gegessen, so daß die Grundlage ein Stück Schwarzbrod bildet, worauf eine Lage Butter oder ein Stück Speck, auch Schinken kommt, und ein Stück weißes Brod den Schluß macht. Auf eine Entbehrung muß man sich in den Marschen gefaßt machen, auf den Mangel an gutem Trinkwasser, von Bier nicht zu reden, denn das, was man unter diesem Namen braut, kann von einem Menschen, der nur einmal in seinem Leben gutes Bier getrunken, nicht über die Lippen gebracht werden. Aber dieser Trinkwassermangel ist für den, welcher aus einer quellenreichen Gegend kommt, in der That sehr empfindlich. Quellen mit gutem Trinkwasser gibt es in den Marschen sehr wenige, man muß daher zu dem Hülfsmittel seine Zuflucht nehmen, das schon die Patriarchen des alten Testamentes anwendeten und das noch heute im Orient, der Natur der Sache nach, gebräuchlich: zum Cisternenwasser. Wohlhabendere filtriren dieses Wasser durch Tropfsteine, die arbeitenden Classen im engeren Sinne aber trinken es, wie es eben aus der Cisterne kommt. Im Winter mag dies noch hingehen, aber im Sommer, wenn die Juli- und Augustsonne mit einer Gluthhitze von 25–27 Grad R. auf diesem Cisternenwasser gebrütet, ist es ein ganz abscheuliches Getränk. Und selbst dieses Cisternenwasser war in diesem jetzigen, anfangs so heißen und trockenen, regenarmen Sommer so kostbar und selten, daß in Dithmarschen dieses Wasser förmlich unter Aufsicht vertheilt wurde.

Durstige Herzen müssen sich in den Marschen mit dem landesüblichen Thee, mit Milch und Tropfsteinwasser, das sie mit Rothwein, Cognac, Rum etc. vermischen können, begnügen. Die letztgenannten Spirituosen, sowie die französischen Weine sind in den Marschen wohlfeiler, als im Zollvereinsgebiet, da die von der dänischen Regierung davon erhobene Steuer eine bedeutend niedrigere ist, als die zollvereinsländische. – Die eigentliche Industrie ist unbedeutend in den Marschgegenden; Handel, Schiffahrt und Ackerbau nebst Viehzucht sind die vorherrschenden Berufsarten. Wenn man von Ackerbau und Viehzucht spricht, denken wir in Mittel- und Süddeutschland zugleich an Dörfer, große geschlossene ländliche Ortschaften. Diese findet man in den Marschen nicht. Jeder Bauer oder Hofbesitzer hat sein alleinstehendes Haus, um welches dicht herum seine Grundstücke, Aecker und Wiesen liegen, und ihn dadurch von dem vielleicht eine Viertel- oder halbe Stunde weit entfernt wohnenden Nachbar isoliren. Eine vielleicht halb- oder ganzstündige Entfernung der Grundstücke vom eigentlichen Bauerhofe, wie es in vielen unserer ländlichen Districte vorkommt, ist dort schon wegen der Bodenbeschaffenheit, die ein weites Fahren mit schwerbeladenem Wagen ungemein beschwerlich und mühsam macht, nicht üblich. Das Haus, der Hof selbst ist ein Muster von Reinlichkeit, und wir übertreiben nicht, wenn wir sagen, daß in manchen Bauerhöfen die Stalldiele, zu deren beiden Seiten die Ställe mit den Futterkästen hinlaufen, und die zugleich als Tenne zum Ausdreschen des Getreides dient, so blank und reinlich aussieht, wie in vielen andern Gegenden die Wohnzimmer der Menschen nicht. Das oft wüste, liederliche Durcheinander so vieler Bauerhöfe kennt man dort nicht, es herrscht eine fast holländische Ordnung und Reinlichkeit, die beim ersten Anblick in’s Auge springt. Unter den Landleuten selbst trifft man sehr viele gebildete Männer mit scharfem, praktischem Verstand, die neben ihrem Platt, das sie im gewöhnlichen Verkehr sprechen, auch das schönste und reinste Hochdeutsch reden, besser, als mancher elegante Spaziergänger der Brühl’schen Terrasse, der das „beste Deitsch“ zu reden glaubt, weil er in „dem scheenen Träsden“ das Licht der Welt erblickt hat. Doch von der Sitte, Bildung und dem innern Wesen des Volks wollen wir in unserm dritten und letzten Bericht erzählen.

K. Wtg.
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Autor: K. Wtg.
Titel: Aus den holsteinischen Marschen.
aus: Die Gartenlaube 1858, Heft 42, S. 608
Teil III.


[608] Aus den holsteinischen Marschen. III. Wir haben in ganz Deutschland keinen Volksstamm kennen gelernt, der im Grunde seines Charakters conservativer wäre, als der holsteinische, zumal in den Marschen. Nur muß man unter diesem conservativen Charakter nicht den Begriff einer gewissen Partei, das zähe, egoistische Festhalten an verrotteten, abgelebten und deshalb naturwidrigen Zuständen verstehen, sondern die beharrliche stete Ausdauer im Kampfe für das durch gewissenhafte Prüfung errungene Rechtsbewußtsein und Geltendmachung desselben, die Scheu vor der Annahme von Neuerungen, über deren Werth oder Unwerth nicht das eigene Urtheil zu Gericht gesessen, und die Pietät, mit welcher jenes Charakteristische der Volkssitte gepflegt wird, über dessen Verschwinden alle wahren Patrioten Ursache zur begründetsten Klage haben. Wir wollen in Bezug auf letztern Punkt nur zwei Seiten hervorheben. Wenn irgendwo in Deutschland, so gilt noch in den Marschen der alte deutsche Spruch: Ein Mann, ein Wort, gilt noch hier das feste, unverbrüchliche Halten des Versprechens. Wir waren Zeuge, wie Landleute bedeutende geschäftliche Verträge, Kauf, Pacht, Darlehn u. s. w. abschlossen, ohne nur eine Zeile darüber niederzuschreiben, das einfache, gegebene Wort genügte. So sind auch die Processe wegen Meineids oder leichtsinniger Eidesleistung die verhältnißmäßig seltensten. Eine andere Tugend der Marschbauern, die allerdings durch gewisse locale Verhältnisse unterstützt wird, ist die Gastfreundschaft, die sie üben. Die Gastfreundschaft der Dithmarschen, dieses kernigen Menschenschlags, die von den ältesten Zeiten an freie Männer waren, nie einen Edelmann, der sie mit Frohnden und Lasten beschweren wollte, unter sich duldeten, dieser kühnen, tapfern Bauern, welche Jahre lange Kriege mit den Königen von Dänemark, den Herzögen von Oldenburg und andern Fürsten und Herren führten, und vor deren langen Spießen und Morgensternen der Schreckensruf herging, welcher mehr als einmal die Söldnerschaaren erbleichen ließ: „Garde, hab’ Acht, der Buer (Bauer) kommt“, diese dithmarschische Gastfreundschaft besteht auch jetzt noch. Sie machen dabei nicht viele Worte, wie denn überhaupt die Leute hier oben, im Vergleich zu den Mittel- und Süddeutschen, weniger redselig, schweigsamer sind. Rege und bewegliche Phantasie besitzen die Süddeutschen überhaupt in bedeutenderem Maße, ein Grund, weshalb das Kunstleben dort auch auf einer viel höheren Stufe steht, als hier, wo schon das alte Sprüchwort: „Holsatia non cantat“ die in dieser Hinsicht geringere Befähigung ausdrückt.

Besonnene Ruhe, praktischer Blick, Kaltblütigkeit in der Gefahr sind die hervorstechendsten Tugenden des Marschbewohners. Es sind dies Vorzüge, die sie mit dem übrigen Volke Holsteins und Schleswigs theilen, und deshalb sind auch die Matrosen aus unsern Herzogthümern Holstein und Schleswig die besten, welche je auf dem Salzwasser gefahren, und weder Holländer, noch Engländer und Amerikaner können in ihren eigenen Ländern so treffliches Schiffsvolk werben, wie das unserer norddeutschen Küsten ist. Die Leser dieser Zeilen werden sich wohl noch des furchtbaren Sturmwetters erinnern, welches am 25. Juli d. J. über das nordwestliche Deutschland mit so unerhörter Heftigkeit, wie es im Sommer seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesen, hereinbrach. Eine Menge Schiffe gingen dabei zu Grunde, und auf der Elbe allein verloren gegen hundert Menschen das Leben. Ich befand mich damals gerade an der holsteinischen Küste, und mit einem kleinen Handfernrohr konnte man deutlich den Kampf der vom Sturm überraschten Schiffe gegen die Elemente wahrnehmen. Zwei Schiffe besonders, die ganz in der Nähe der Küste steuerten, ein portugiesisches und ein holsteinisches, erregten unsere Theilnahme. Beide Schiffe waren in gleich gefährlicher Lage – entweder unterzugehen oder zu stranden. Auf dem Portugiesen, dessen Schiffsmannschaft vielleicht 12 bis 15 Mann stark war (genau konnten wir trotz unserer guten Fernröhre bei dem Sturm der entfesselten Elemente die Mannschaft nicht zählen), schienen schon alle Bande der Disciplin gelöst zu sein. Wir sahen die Matrosen rathlos und verwirrt durcheinander laufen, und ein Commando des Capitains schien es gar nicht mehr zu geben. Auf dem holsteinischen Schiff dagegen herrschte eine geordnete Rührigkeit, wie sie kaum besser bei einem Scheinmanöver auf einem Kriegsschiffe Ihrer Großbritannischen Majestät auf der Rhede vor Spithead gefunden werden kann. Unweit des Steuerruders stand die kurze, gedrungene Gestalt des Capitains, mit dem Sprachrohr in der Hand, in dem Tauwerk hing die Mannschaft und die Befehle wurden, wie gesagt, mit einer Pünktlichkeit und Ruhe ausgeführt, als wölbte sich der klarste blaue Himmel über ihren Häuptern und als spiegelte sich das goldene Sonnenlicht in ruhiger, glatter, von sanftem West bewegter Fluth. Das Resultat war leicht vorauszusehen. Der Portugiese ging – ein Rettungsversuch von der Küste aus mißlang trotz der übermenschlichen Anstrengung der Schiffer – zu Grunde und der Holsteiner kam mit schweren Verletzungen, aber doch ohne Verlust an Gut und Mannschaft davon.

Wenn sich je die Hoffnung Deutschlands verwirklicht, eine Kriegsflotte zu besitzen, so werden uns diese Gegenden, sowie Ostfriesland, Mecklenburg, Oldenburg, Matrosen liefern, wie sie kein Land der Erde besser hat. Es ist hier gar nichts Seltenes, daß ein fünfzehn- oder sechzehnjähriger Bursche, der kaum einen Flaum auf der Lippe hat, schon in Valparaiso, Kanton oder Bombay, zum wenigsten aber in Grönland war. Elmshorn und Glückstadt sind nämlich die beiden Häfen des südwestlichen Holsteins, die noch Grönlandfahrer auf Wallfisch- und Robbenjagd nach dem nördlichen Eismeer aussenden. In den letzten Jahrzehnten haben sich diese Grönlandfahrer jedoch bedeutend vermindert. Denn während noch vor vierzig Jahren 10 Schiffe von Glückstadt nach den nördlichen Meeren auf Wallfisch- und Robbenfang ausliefen, ist die Zahl jetzt bis auf zwei oder drei herabgesunken. Die Ursache ist der immer geringer werdende Ertrag dieser gefährlichen Expeditionen, von denen schon so manches Schiff nie wieder zum heimischen Hafen zurückkehrte, und dieser geringe Ertrag hat seinen Grund wieder in dem Hinderniß, welches, bei lange anhaltendem Winter, das Eis dem Auslaufen der Fahrzeuge in den Weg legt. Engländer und Schweden, die gleich in das offene Meer fahren können, sind deshalb stets früher in den Gewässern, wo der beste Fang zu machen ist, und nehmen die beste Beute vorweg. Der heurige Ertrag des einen Schiffs (der Glückstädter „Lucie“) waren 2000 Stück Robben und zwei Wallfische. Die Zeit des Auslaufens fällt gewöhnlich gegen Ende März bis Anfang April, die der Heimkehr gegen Ende Juni oder Anfang Juli.

Eine ganz charakteristische Belustigung des jungen Volks in der Marsch ist im Winter, wenn die Felder hart und fest gefroren sind, und eine glänzende, weiße Eisdecke Gräben und Bäche überzieht, das Eisbosseln. Die Bossel ist eine kleine, eiserne Kugel, welche im Ricochetwurf über die festgefrornen Felder und Wiesen geschleudert wird. Es gehört viel Uebung, eine gewisse Kraft und Geschicklichkeit zu diesem harmlosen Kampfspiel, welches ganze Kirchspiele nach vorhergegangener feierlicher und förmlicher Herausforderung mit einander abhalten. Eine Hauptperson ist dabei der „Kretscher“, welcher in zierlicher, wohlgesetzter Rede die Herausforderung überbringt und dann den Sieg der triumphirenden Partei feiert, während er die unterlegene durch launige Scherzreden neckt. Ein lustiger Abend im Wirthshaus, wo die Sieger von den Besiegten mit Punsch, Grog und Rothwein tractirt werden, beschließt die friedlichen Wettkämpfe. Das Eisbosseln ist ein höchst populäres und beliebtes Spiel in der Marsch, und Männer, die schon seit vielen Jahren in Amt und Würden stehen, erinnern sich noch mit lebhaftem Vergnügen jener Kämpfe ihrer Jugendzeit.

Erwähnen wir zum Schluß unserer Skizze noch eine Tugend des Marschbauers: die Häuslichkeit. Der Besuch der Wirthshäuser und Schankwirthschaften ist bei Weitem nicht so im Schwang, wie in vielen Gegenden Mittel- und Süddeutschlands, wo das Kneipenleben in erschreckendem Maße überhand genommen, und alle edleren Blüthen des Lebens zu ersticken droht. Ist aber nun auch diese Tugend anzuerkennen und zu loben, so darf doch auch nicht unerwähnt bleiben, daß vielleicht mit darin die Ursache einer gewissen Exclusivität zu suchen, die sich sowohl auf dem Lande, als in den Städten der Marsch geltend macht. Die verschiedenen Kreise der Gesellschaft sind viel strenger von einander geschieden, als in dem mittleren und südlichen Deutschland, wo die Gesellschaft unstreitig demokratischere Principien in dieser Hinsicht hat, ein Vorzug, der wohl verdient hervorgehoben zu werden, da er auf die Entwicklung unserer socialen Verhältnisse von bedeutendem Einfluß ist.

K. Wtg.