Aus den Dolomiten
Aus den Dolomiten.
Wenn von Dolomiten die Rede ist, so denkt fast jedermann unwillkürlich an das berühmte Ampezzaner Gebiet; dorthin wälzt sich alljährlich, begünstigt durch den bequemen Zutritt mittels der Pusterthalbahn, der Hauptstrom des Fremdenverkehrs, während er vorerst nur schwache Arme nach den südlicher gelegenen Gegenden, nach der an großartiger Schönheit keineswegs ärmeren Pala- oder Primörgruppe, entsendet. Allerdings führt der Weg zu diesen Paradiesen für alle, die ihn nicht im eigens gemieteten Landauer, oder mit dem Bergstock in der Faust, den Rucksack auf dem Rücken, zu Fuß zu durchwandern aufgelegt oder befähigt sind, durch das Fegfeuer einer vielstündigen Postfahrt, die man entweder von Neumarkt, der dritten Station der von Bozen nach Trient führenden Eisenbahnlinie, oder von Trient selbst aus antritt. Der letztere durch das Val Sugana führende Weg ist der umständlichere und steht auch an landschaftlicher Schönheit hinter jenem zurück, der von Neumarkt seinen Ausgang nimmt. Auf gut gehaltener Straße führt dieser durch das Fleimser und Travignolothal über Cavalese und das geognostisch interessante Predazzo nach Paneveggio und dem im Mittelpunkt dieser herrlichen Gebirgswelt gelegenen San Martino di Castrozza, er wird daher auch von den aus dem Norden kommenden Reisenden zumeist eingeschlagen. Schon während man sich, durch das Thal des Travignolo ansteigend, dem in ernster Waldabgeschiedenheit trotz seines eben 1m Entstehen begriffenen Bergforts friedlich daliegenden Paneveggio nähert, wird man sich mit Vergnügen eines Vorzugs bewußt, der diese Gegend vor vielen anderen Tirols auszeichnet, ja in dieser Höhe geradezu als ein Unikum zu bezeichnen ist. Ein herrlicher, von der Axt des Holzfällers noch wenig berührter Hochwald begleitet uns auf unserem Wege längs des rauschenden Wildbachs und scheint an Fülle und Kraft noch zu wachsen, wenn wir über den Rollepaß hinüber ins Thal des Cismone, das Val di Primiero oder Primörthal, wandern. Als Wegweiser dienen uns die in einsamer Größe gespensterhaft, thurmartig über den Tannenwipfeln aufragenden Häupter des Cimone della Pala (3186 m) und der Cima di Vezzana (3191 m), die ersten Vorboten jener gewaltigen wildzerrissenen Gebirgskette, die wir von der Paßhöhe aus in ihrer überwältigenden Gesamtheit überschauen. Und an den bewaldeten Fuß dieser Riesen fast zärtlich angeschmiegt, liegt in dem sich erweiternden Thal, in das von Süden der Monte Pavione mit seiner pyramidenartig abgestumpften Spitze hereingrüßt, zwischen üppig blühenden Matten, unter einem Himmel voll südlicher Bläue jene kleine Häusergruppe, von einem bescheidenen Kirchthurm überragt, die den stolzen Namen San Martino di Castrozza führt.
Der Hauptreiz der Lage dieses gleich Paneveggio und dem westlich vom Etschthal gelegenen Madonna di Campiglio aus einem ehemaligen geistlichen Hospiz hervorgegangenen Luftkurorts besteht eben in dem Gegensatz, den die großartigen Formen jener unwirthlichen, von Schlünden und Klüften durchfressenen Gebirgswelt mit den lachenden blühenden Triften im Thal bilden, sein hygieinischer Werth in der durch das italienische Klima gemilderten Hochluft.
„Es ragt der hohe Elborus,
So weit der Himmel reicht,
Der Frühling blüht an seinem Fuß,
Sein Haupt ist schneegebleicht.“
Dieses Bild des Dichters der Mirza-Schaffylieder, es ließe sich auch auf die Pala di San Martino und ihre wilden Genossen, Rosetta, Cimon di Ball, den Saß Maor und wie sie sonst heißen, anwenden, wenn diese vielgezackten Felszinnen nicht zu spitz und steil aufragten, um dem Schnee, der sich in die Falten ihres Mantels verkriecht, irgend einen Haftpunkt auf ihrem Haupt darzubieten. In den Frühling aber, der an ihrem Fuß und zwar immer noch, in der recht stattlichen Meereshöhe von nahezu 1500 Metern blüht, weht schon ein Hauch aus dem Lande der Citronen herein, das dort jenseit des Pavione, von dessen Gipfel man die Wogen der Adria schimmern sieht, seine seligen Gefilde ausbreitet. Um übrigens italienisches Volksleben so echt, wie man es etwa im Apennin und in den Abruzzen findet, kennenzulernen, braucht man sich gar nicht einmal aus dem Machtbereich des Doppeladlers hinauszubegeben, es genügt ein Gang öder eine Fährt nach dem nur einige Stunden entfernten Primiero, dem Hauptort des nach ihm benannten Thals. An herrlichen Spaziergängen, an schattigen Ruheplätzen in Wald und Wiese, die man fast ohne Steigung erreichen kann, ist die nächste Umgebung von San Martino reich, wie es auch den Ausgangspunkt für die kühnsten Kletterpartien in den Dolomiten bildet. Denn so wild und unnahbar sie auch in das Thal hernieder dräuen, die düsteren Riesen der Pala, es ist keiner unter ihnen, den nicht des Menschen Fuß schon betreten hätte, und einige von ihnen haben sich sogar die Taufe auf die Namen ihrer Ueberwinder gefallen lassen müssen.
In neuerer Zeit hat niemand so viel zur Verherrlichung dieses Theils der Dolomiten beigetragen als der deutsche Hauptmann Theodor Wundt. Ausgerüstet mit allen körperlichen und seelischen Eigenschaften, deren der Freund gefährlicher Bergtouren bedarf, außerdem aber auch mit einem photographischen Apparat, hat er die Wände, Zacken und Schründe der Pala-Gruppe nach allen Seiten durchwandert, ihre grausigen und ihre lieblichen Schönheiten mit dem Auge des Künstlers, des Naturfreundes und des Sportsman gesucht und genossen und schließlich seine Eindrücke und Erfahrungen in einer glänzenden Schilderung zusammengefaßt, für welche zwei Besteigungen des Cimone della Pala, dieses „Matterhorns der Dolomiten“, den Mittelpunkt abgaben. Es liegt uns durchaus fern, dem so vielfach zu Auswüchsen und Verirrungen neigenden Bergsport das Wort zu reden. Aber was wir hier in dem Werke von Wundt (erschienen bei Greiner und Pfeister in Stuttgart) sehen und lesen, muß auch dem grundsätzlichen Gegner trotz aller Einwendungen, die er zu machen hätte, ein Wort der Bewunderung abnöthigen.
Der Cimone della Pala galt lange als unersteiglich, bis es im Jahre 1870 dem kühnen Engländer Whitwell gelang, vom Travignolothal aus, also von Norden her, die Spitze zu erreichen. Aber der Anstieg auf dieser Seite blieb wegen der starken Verwitterung des Gesteins immer ein großes Wagniß, das verhältnißmäßig nur selten, darunter allerdings einmal auch von einer Dame, unternommen wurde. Anders gestaltete sich die Sache, als im Jahre 1889 Dr. Darmstädter einen schon früher vergeblich gesuchten Weg von der Südostseite her fand; er war an sich schwieriger als der alte, verlangte mehr Kletterarbeit, war aber wegen der Festigkeit des Gesteins und der Sicherheit vor Steinschlägen dennoch gefahrloser als jener. An der [286] bedenklichsten Stelle hat neuerdings die „Società degli Alpinisti Tridentini“ zur Erleichterung ein Drahtseil anbringen lassen, so daß jetzt der Berg in einem Jahre häufiger erstiegen wird als während der gesamten neunzehnjährigen Benutzung der früheren Route.
Wer das Bild „Einstieg zum Drahtseil“ betrachtet, den erfaßt beinahe ein Schwindel. Doch versichert Wundt, die Sache erscheine hier wohl etwas schwieriger, als sie in Wirklichkeit sei.
Bei einer genaueren Betrachtung der Felswand zeigen sich nämlich da und dort wagrechte Stellen, auf welchen fester Fuß gefaßt werden könne, und auch für die Hände seien genügend Griffe vorhanden. Dazu komme, daß das fest verankerte Drahtseil än sich schon einen absolut sicheren Halt gewähre, welcher durch das von dem vorausgehenden Führer gehandhabte Manillaseil noch erhöht werde.
Der Mann, welcher sich mit der Linken am Drahtseil hält, ist Michele Bettega, der berühmteste unter den Führern von San Martlno. Mit der Rechten hat er das Seil gefaßt, dessen anderes Ende ein zweiter Führer, Giuseppe Zecchini, um einen Felsvorsprung geschlungen hat. Diese schwanke Brücke unterstützt den Mann in der Mitte, elnen italienischen Professor, der eben einen etwas weiten Schritt von rechts nach links zu machen hat.
Und noch eine andere kritische Stelle verräth uns die photographische Platte auf dem Bilde „Bettega am Cimone dena Pala“. Sie zeigt uns den vorauskletternden Führer, der immer die schwerste Arbeit hat, in seiner ganzen Meisterschaft.
„Michele steht hier,“ schreiht Wundt, „an einem vorspringenden Felsblocke, welcher erklettert werden muß, um auf den weiter oben befindlichen Vorsprung zu gelangen. Er sucht erst mit der linken Hand einen sicheren Halt, um dann mit der rechten nachzugreifen. Dann kommt ein Schwung mit beiden Armem und er ist in der dunkeln Nische gerade über ihm.“ Für den, der das nicht selbst erfahren, bleibt solche Leistung fast eine unvollziehbare Vorstellung, und wie erlöst ruht Auge und Sinn auf dem letzten Bilde (S. 292), welches uns die verwegenen Kletterer in luftiger Rast auf dem Gipfel vorführt. Ein fast noch größeres Räthsel als jene Kunstleistung des Führers bildet für den Beschauer die Frage, wie der Photograph zu dieser und zu den anderen Aufnahmen gelangen konnte. Ist es schon keine Kleinigkeit, den schweren photographischen Apparat auf solcher Klettertour mit sich zu schleppen, welche riesigen Schwierigkeiten muß es erst gehabt hahen, den richtigen Standpunkt für ihn zu gewinnen, ihn aufzustellen und all die vielen Handgriffe an ihm vorzunehmen, welche eine Aufnahme, wenn sie gelingen soll, nun einmal erfordert! Der Verfasser des Buches giebt uns darüber keinen Aufschluß, wie er es vermocht hat, so gleichsam zwischen Himmel und Erde seine Kunst noch auszuüben. Aber die Thatsache, daß seine Bilder vorhanden sind, und zwar so schön und scharf als man nur wünschen kann, sie beweist, daß er das Wagstück glücklich vollbracht hat.
Für diejenigen, welche es ablehnen, sich auf derartige Hochfahrten einzulassen, winkt ein Ersatz im Botanisieren oder im „Grasen“, wie der Bergfex wohl geringschätzig sich auszudrücken liebt. In der That ist an Pflanzen und Blumen kein Mangel in der Umgebung von San Martino. Eine Flora, wie man sie in solch üppiger Fülle, solch leuchtender Farbengluth nur in dieser Höhe und unter diesem südlichen Himmelsstrich findet, schmückt die Flur, den Wald und die Felsen. Die Alpenrose, zu der man sich in andern Theilen des Gebirgs erst mühevoll kletternd den Weg bahnen muß, drängt sich hier mit ihren purpurnen Blüthen bis dicht an die Wohnungen der Menschen heran, die Feuerlilie, der Frauenschuh und tausend andere mehr oder weniger seltene Blumen, deren lateinische Namen nur der in der Kurgesellschaft selten fehlende gelehrte Botaniker bestimmen kann, bieten sich der pflückenden Hand zum herrlich duftenden Strauß.
Wie schon gesagt, ist San Martino kirchlichen Ursprungs. Schon zu Anfang dieses Jahrtausends als Kloster erbaut, diente es gleichzeitig als Hospiz und wurde im sechzehnten Jahrhundert in ein Kirchenbenefiz unter dem Patronate der Grafen von Welsperg umgewandelt, welche noch heute dieses Ehrenamt inne haben. Der Name „Castrozza“ soll von dem lateinischen „castrum“ herrühren, indem das Hospiz den üher den Rollepaß Wandernden gewissermaßen als Lager- und Etappenplatz diente. Eine Wirthschaft befand sich in dem Klostergebände seit jeher, der eigentliche Aufschwung des Platzes als Touristen-Standquartier und Sommerfrische schreibt sich aber erst aus dem Jahre 1878 her, in welchem die neue Straße vollendet und dadurch eine bequemere Verbindung mit der Eisenbahn hergestellt wurde; diese aber liegt doch wieder zu meit ab, als daß die Idylle dieses Erdenwinkels durch die unruhigeren Elemente des Fremdenverkehrs gestört würde.
Der Ort San Martino umfaßt außer der Kirche und dem Pfarrhaus nur noch wenige Gebäude. Zur Rechten liegt das altehrwürdige Kloster mit seinen wetterfesten Mauern, die auch eine Wirthschaft einschließen; daran stößt die Wohnung des Pfarrers, mit dem Postbureau zu ebener Erde, und weiter ein großes Hotel, das mit seinen in jüngster Zeit vollendeten umfangreichen Neubauten über hundert Personen beherbergen kann. Unmittelbar vor diesen Gebäuden befindet sich eine breite Terrasse, auf welcher sich den Sommer über stets ein reges Leben abspielt, ein beständiges Kommen und Gehen, zu Wagen und zu Fuß.
Unter dem Schatten eines Zeltdaches sitzen die Gäste des Hauses,
spielen Kegel oder trinken Bier, hier sammeln sich auch die Führer, um
die Besteigungen zu besprechen. Zwei dieser wackeren Männer, die unsere
Gruppe auf S. 284 vereinigt, Bettega und Zecchini, haben wir schon
kennengelernt; die beiden andern sind Antonio Tavernaro und der erst
fünfundzwanzigjährige Zagonel Bortolo. Auf all das fröhliche Gewimmel
schauen in ernster, ewig unveränderlicher Ruhe und Hoheit die
Bergriesen der Pala herab; phantastische Schatten zeichnen sich ab auf den
zerrlssenen steinernen Wänden, die bald im vollen Sonnenglanz erstrahlen,
bald, von wirren Nebelfetzen umlagert, ein tolles Versteckspiel treiben. Ja,
die Nebel slnd ein häufiger Gast in diesen Höhen – denn nicht allzu weit
draußen breltet sich der blaue Spiegel der Adria, und seine feinen
Wasserdämpfe schlingen sich gern als wallende wogende Schleier um die Zacken
der nachbarllchen Gebirge. C. H.