Textdaten
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Autor: Johannes Wilda
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Titel: Auf Geben und Nehmen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–8, S. 14–16, 31–35, 47–51, 64–67, 78–83, 94–98, 110–114, 126–128
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[14]
Auf Geben und Nehmen.
Novelle von Johannes Wilda.


1.

Hinter dem jungen Manne, der sinnend in einem zierlich getakelten, rasch dahinfliegenden Vergnügungskutter saß, ragten die Thürme der Stadt, die Masten und Rahen des Hafens aus dem verschwimmenden Goldduft der untergehenden Sonne. Traumhaft stand zu beiden Seiten der Bucht der Buchenwald an den sanften Höhenzügen; dazwischen senkten sich die Kornfelder und Wiesen zum weißsandigen Ufer.

Lag das Glück dort in der Ferne, wo das Meer sich endlos vor seinen Augen dehnte, wohin sein sehnsuchtsvoller Blick aus dem Boot über die sich weitende Bucht drang?

Ach nein, dort in der Ferne lag es nicht! Mehr als einmal war er an dem Leuchtthurm vorbei ins Unendliche gesteuert, wo der Wind heulend die brausenden Wogen übereinander warf; wohl hatte des Südens heißere Sonne mit ihren Wundern ihm gelacht, allein die Insel, auf der das Glück ihn an die Brust geschlossen hätte, die hatte er nicht gefunden.

Wenn er hier in der Heimath weilte, zog es ihn hinaus; schweifte er in der Ferne, so trieb es ihn zurück.

Aber noch war er jung; noch durfte er suchen, was er vielleicht nirgends erreichte, was ihm vielleicht nur das Bewußtsein eintrug, daß die Zeit des Suchens die schönste auf Erden gewesen sei! –

Das Boot, an dessen Spiegel der Name „Bachstelze“ prangte, hatte beim Winde der jenseits liegenden nördlichen Buchtseite zugestrebt. Jetzt raffte sich der junge Mann aus seiner grübelnden Haltung auf, rückte die Uniformmütze noch ein wenig weiter in den Nacken und befahl seinem Burschen, der mit breitem Rücken an der kleinen Kajüte lehnte, sich zum Wenden fertig zu halten. Darauf legte er langsam das Ruder seitwärts.

Willig gehorchte die „Bachstelze“, um bald wieder hurtig unter geschwelltem schimmernden Segel mit leisem Rauschen die wenig bewegte Fluth zu durchschneiden, die in der Strandnähe wie Smaragd, in der Ferne blau und dort, wo der Sonnenglanz auf ihr lag, violett und purpurn leuchtete. Hier und da trieb glatter Tang vorbei, ein Krautbündel mit einem Taschenkrebslein darauf, oder, rhythmisch sich ausdehnend und zusammenziehend, eine glockengestaltete weißliche Molluske. Flatternd berührten Möven die Fluth, um sich dann wieder gleich Silberpunkten durch die Bläue des von rosigen Wölkchen gesäumten Abendhimmels zu schwingen.

Während sich nun das Boot einer kleinen Einbiegung des Ufers näherte, hinter der aus Getreidekoppeln und sattem Busch- und Baumgrün die Ziegeldächer und Strohfirste eines Stranddorfes hervorlugten, trat bei den zwei Insassen des Fahrzeugs wieder eine beschauliche Pause ein. Der Matrose, ein Hüne an Gestalt, spielte gedankenvoll mit dem eben ausgeklopften schwarzen Thonstummel, an dem er mit Kabelgarn kunstvoll ein kleines Mundstück angebracht hatte. Sein Herr aber nahm die Bernsteinspitze seines ebenfalls recht geschwärzten Holzpfeifchens aus dem Mund und fragte den Untergebenen: „Woran denken Sie, Frettwurst?“

Der Bursche schnellte in eine militärische Haltung empor; während er die treuen blauen Augen auf den Fragenden richtete, verzogen sich seine Lippeu zu einem aufwärts gekrümmten Halbmond. Dann sagte er unendlich vertrauensvoll: „An Ihr, Herr Lieutenant!“

„Haben Sie ‚Ihr‘ auch schon wieder geschrieben?“

„Noch nich, Herr Lieutenant!“

Dieser machte eine mißbilligende Miene. „Das dürfen Sie nicht auf die lange Bank schieben, Frettwurst! Wenn man eine wirkliche Braut besitzt, hat man auch Pflichten gegen sie.“

Frettwurst schaute verlegen auf die Zehen seiner nackten Füße hinunter. „Ach, Herr Lieutenant, sie weiß auch so, daß ich ihr nich vergessen thu’.“

„Das glaub’ ich schon; aber deshalb müssen Sie doch ihre Briefe beantworten. Das bloße Denken an Ihre Treue macht Ihre Braut nicht glücklich, sie will’s auch schwarz auf weiß haben.“

Frettwurst seufzte. Sein Lieutenant hatte gut reden, für den war Schreiben gar nichts, für ihn aber bedeutete es ein schweres Stück Arbeit – und dann guckten die Tischkameraden ihm immer über die Schultern und machten ihre Witze. Doch sein Gesicht verklärte sich wieder, als Lieutenant Gebhardt bemerkte:

„Ist Ihr Tabak alle?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.“

„Da!“

Seelenvergnügt nahm der Matrose den Kautschukbeutel mit dem duftenden türkischen Tabak in Empfang und stopfte sich mit seinen dicken Theerfingern zierlich den Thonstummel, worauf er den Beutel mit respektvoller Vorsicht zurückgab.

„Haben Sie Lust, mit auf den ‚Falken‘ zu gehen, Frettwurst, wenn ich meinen Dienst dort antrete?“

„O, wenn das anginge, Herr Lieutenant!“

„Ich will versuchen, Sie mitzubekommen. Der ‚Falke‘ wird einen Monat in Radegast zur Verfügung der Familie des Prinzen August stationiert werden. Dann können Sie vielleicht auch Urlaub erhalten und Ihre Braut zu sehen kriegen. Damit sind Sie doch einverstanden, he?“

„Das is tausendmal besser als schreiben, Herr Lieutenant!“ rief Frettwurst in gehobener Stimmung. „Und wenn ich nur bei Ihnen bleiben thu’, will ich überhaupt nix mehr!“

Der Offizier lächelte gerührt; die Anhänglichkeit des offenherzigen Burschen that ihm wohl. „Aber einmal müssen wir doch scheiden, Frettwurst,“ gab er zur Antwort, „und bei Ihrer künftigen Frau wird’s Ihnen dann doch besser gefallen als bei mir.“

Der Matrose fuhr sich verlegen in das weißblonde kurzgeschorene Haar, „Wenn ich doch meine Frau haben und dabei Ihr Bursche bleiben könnte, Herr Lieutenant!“

„Ja, das geht leider nicht. Sie sehen, Frettwurst, daß es im Leben nichts Vollkommenes giebt. Man muß eben mit den Aussichten, die man hat, zufrieden sein!“

Frettwurst besaß ein dumpfes Gefühl für die Richtigkeit solcher Philosophie. Er nickte daher ebenso aus Gehorsam wie aus Ueberzeugung. Neben diesem dumpfen Gefühl machte sich aber ein sehr klares über die persönliche Stimmung seines Herrn geltend. Auf den vielen gemeinsamen Fahrten, die sie beide auf der „Bachstelze“ ausgeführt, hatte er seinem Lieutenant alles erzählt, was sein Herz bewegte, und dieser hatte freundlich alles mit angehört und ihn so gut ermahnt und berathen, nicht anders wie sein eigener Vater, als der noch lebte. Ja, wie sein Herr über seine Braut zu ihm sprach, so hatte überhaupt noch niemand zu ihm gesprochen! Der Herr Lieutenant wußte ganz genau, wie es so einer in der Ferne zu Muthe sein mußte, und er besaß doch selbst keine! Aber daß er sich eine wünschte, das hatte ihm Frettwurst schon lange angemerkt. Und verdienen würde er sie! Na und wie! Solch einen Lieutenant wie den Herrn Lieutenant Herbert Gebhardt gab es nicht wieder!

Frettwurst setzte verschiedenemal zum Reden an und stockte wieder. Endlich faßte er sich ein Herz. „Herr Lieutenant sollten auch mit eine gehen, mit eine würkliche, mein’ ich. Herr Lieutenant können so schön darüber sprechen und würden dann gewiß zufriedener sein als jetzt. Dieses hab’ ich an mich selbst gemerkt, Herr Lieutenant!“

„Sie sind“ – „ein Esel“ wollte Herbert sagen, aber Frettwurst sah ihn so treuherzig an, daß er den Zusatz unterdrückte und ganz ernsthaft fortfuhr: „Das verstehen Sie nicht, Frettwurst, obgleich Ihr Rath so uneben nicht ist. Wenn mir so ‚eine‘ vor den Bug kommt, die zu einer ‚wirklichen‘ paßt, werde ich mir’s vielleicht ’mal überlegen. – Jetzt aber klar beim Geitau! Und passen Sie auf den Klüverbaum – wir wollen dort an die Brücke gehen!“

Die „Bachstelze“ hatte das Ufer erreicht. Mit eingeschnürtem Großsegel glitt sie sanft an die Seite des Holzsteges, der hier in das durchsichtige grüne Wasser hinausgebaut war. Frettwurst gab acht, daß der lange Klüverbaum nicht mit einem der Pfähle in zu harte Berührung käme, sprang dann heraus und legte das Fahrzeug fest.

[15] Das Pdeidchen im Munde, de Hände in den Taschen des Jacketts und die Mütze gewohnheitsmäßig zurückgeschoben, schlenderte Herbert durch Wiese und Busch auf die Waldhöhe zu, um sich dort oben, wie er es liebte, ins Grün zu strecken. Irgend welche Befehle an Frettwurst wurden nicht ertheilt; der wußte ohnedies, daß er im Boote zu warten hatte, bis sein Herr zurückkam.

Am Rande eines Getreidefeldes schritt Herbert aufwärts. Er dachte an Frettwursts scharfsinnige Beobachtung und mußte lachen. Wer den Burschen für dumm hielt, irrte sich doch gewaltig!

Er pflückte eine Kornblume und steckte sie ins Knopfloch. Wie oft hatte er sich unter der Tropensonne nach der schlichten Schönheit der Heimath, nach ihren Wäldern, nach dem wogenden Roggen und dieser blauen Blume gesehnt. Jetzt besaß er dies alles, es ergötzte ihn – und dennoch war er nicht zufrieden!

Das Pfeifchen war ausgeraucht. Herbert steckte es in die Brusttasche; dann raufte er einen Roggenhalm aus und begann im Weiterschreiten die nahezu reifen Körner mechanisch zu verzehren. Plötzlich stutzte er.

Dort auf der Bank unter der weitverzweigten prächtigen Buche, die vor ihm an der Ecke des Waldes stand, bemerkte er eine weibliche Gestalt, offenbar eine Schlafende, denn sein Nahen rief keinerlei Bewegung bei derselben hervor, was seiner Erfahrung nach bei dem Verhältniß, welches zwischen jungen Damen und Uniform nun einmal besteht, sonst gänzlich unmöglich gewesen wäre.

Und in der That, sein Scharfblick hatte ihn nicht getäuscht. Was sich ihm bot, war ein so rührendes und entzückendes Bild, daß er jedes dürre Zweiglein, jeden Stein auf dem Pfade vermied, um den Zauber nicht zu zerstören; mehr einem Uebelthäter als Frettwursts väterlichem Berather ähnlich, schlich er immer näher. Nun stand er lächelnd, thatendurstig den Schnurrbart zwirbelnd, vor der Schlummernden, ein wenig seitwärts von der Bank, in die sich die Unbekannte mit zierlich gekreuzten Füßchen und in den Schoß gelegten Händen zurückgelehnt hatte. Neben ihr lag ein Kornblumenstrauß, am Boden ein offenes auf die innere Seite gestürztes Buch.

Ein junges schlankes Mädchen war’s, mit feingescheiteltem Haar, das um die Stirn sich in anmuthigen Löckchen ringelte, mit einem zierlichen Näschen und langen Wimpern; die von Sonne und Seeluft etwas gebräunten Wangen waren von Gesundheit und Schlaf wie Pfirsiche geröthet. Was auf Herbert aber die unwiderstehlichste Anziehungskraft ausübte, das war der reizende leicht geöffnete Mund, ein Mund frisch wie Kirschen nach einem Gewitterregen!

So schlummerte die Ahnungslose im Rahmen der tiefhängenden laubigen Buchenäste, der dunkelnden Tiefe des Waldes. Herbert schien sie ein liebliches Geheimniß zu sein, das ihm eine wohlgesinnte Fee plötzlich entschleiert hatte, ein Dornröschen, das auf den Prinzen wartete, der es genau so wecken mußte, wie es im Märchen geschah. Er schaute um sich. Kein Mensch war zu erblicken. Durchs Gezweig hüpfte – dem Himmel sei Dank, geräuschlos – ein Fink, der jedenfalls mit dazu gehörte. Still lag der Spiegel des Hafens da, auf dem die Flaggen der ankernden Kriegsschiffe mit Sonnenuntergang verschwunden waren; nur vom Strande herauf tönte – dem Himmel sei Dank, auch pianissimo – die berühmte Melodie vom „Lieben Augustin“, durch welche Frettwurst sich die weltschmerzliche Philosophie seines Herrn fortpfiff.

Herberts Herz klopfte. Vorsichtig hob er das Buch auf. Es war die Frithjofssage. Vorn stand in durchaus wohlgezogener Schrift: „Hilde Jaspersen“.

Hilde! Hieß dieses kleine Strand- und Waldwunder selbst so, oder trug diesen Namen nur irgend eine alte Tante, welche der Nichte zur Hebung von deren Bildung die Dichtung überantwortet hatte? Pah! Wozu brauchte ein solches Geschöpf überhaupt Bildung! Aber nein, das war nicht möglich – „Hilde“ klang allerliebst, zweifellos hatte er die Trägerin des Namens selbst vor sich! Gegen den Zunamen „Jaspersen“ hatte er nichts einzuwenden, obschon dies das erste Waldmärchen sein mochte, das den schmucklosen Titel „Fräulein Jaspersen“ führte.

Leise legte Herbert das Buch wieder so hin, wie er es gefunden hatte, und schaute dann das Mädchen von neuem an. Lieber Gott, welchen dämonischen Einfluß so ein Paar Lippen mit tadellos weißen Zähnen dahinter ausüben konnte!

Er schlich sich seitwärts näher und näher, bis er hart hinter dem Mädchen stand. Nun war er ihr so bedenklich nahe, daß er ihren leisen Athem hörte. Ihr Köpfchen lag ein wenig über die Lehne zurück. Wie von magnetischer Gewalt gezogen, beugte er sich vor, erst nur ein klein wenig, dann tiefer und tiefer. Und jetzt ein rascher Entschluß – einen Augenblick lang, einen Augenblick, flüchtig wie ein Gedanke, aber süß wie das Paradies, lagen seine Lippen auf den ihrigen! In der nächsten Sekunde fuhr das Mädchen empor, er ebenso blitzschnell zurück; mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn entsetzt an, ein Ruf des Schreckens – und wie ein geängstetes Wild eilte sie mit fluchtigen Füßen dem Kornfeld zu in dem sie verschwand. –

Herbert bedurfte geraumer Zeit, um zu bemerken, daß er mit herunterhängenden Armen und vermuthlich mit einer von geistiger Ueberlegenheit freien Miene noch immer in die Richtung blickte, in welcher sich das Waldwunder unter Zurücklassung seiner Kornblumen und seiner Frithjofssage so überraschend schnell rückwärts konzentriert hatte.

Was hatte er angerichtet! War das ritterlich, ja war das eine That, die vor dem Richterstuhl der Moral je gesühnt werden konnte, den Schlaf einer jungen Dame so frevelhaft zu stören? Hatte er nicht ihre Ehre gekränkt, ihre innere Ruhe ernstlich erschüttert? Und wenn nun Fräulein Hilde Jaspersen zu der vermuthlich auch in der Nähe existierenden Mama Jaspersen ging und weinend klagte: „Mama, ein frecher Mensch, ein Offizier hat mich im Walde geküßt, als ich ahnungslos schlief“, wie sollte er sich dann gegen die gekränkte Familie Jaspersen vertheidigen? Aber warum hatte das kleine Geschöpf auch so hinreißend lieblich ausgesehen! Was konnte er, der noch fünf Minuten vorher auf der Höhe menschlicher Moral gestanden hatte, für diesen verführerischen Reiz!

Er preßte halb in Demuth, halb im Trotz einen Kuß auf die Schriftzüge „Hilde Jaspersen“, schrieb das Wort „Verzeihung!“ auf ein ausgerissenes Blatt seines Notizbuches und hatte eben das Blatt nebst der Kornblume aus seinem Knopfloch in das Buch gelegt, als seine Hand zufällig über seine Kravatte streifte. Das fehlte gerade noch! Seine Kravattennadel, ein gekrönter, mit den Buchstaben H. G. geschmückter goldner Anker, das Geschenk eines alten Kameraden, war verschwunden! Bestimmt hatte er sie im Boote noch gehabt. Es war nicht anders möglich, als daß sie vorhin bei dem heftigen Zurückprallen fortgeschleudert worden war. Er begann zu suchen – bei der immer tiefer werdenden Dämmerung allerdings ein ziemlich hoffnungsloses Bemühen. Endlich gab er das fruchtlose Unterfangen auf und machte sich auf den Rückweg. „Kommen wir also morgen wieder,“ murmelte er, „denn wenn das verrätherische Ding hier entdeckt würde, das wäre ja recht niedlich!“

Unten pfiff Frettwurst noch mit hellem schönen Ton sein: „Ach du lieber Augustin, alles ist hin!“

„Du ahnst gar nicht, gute Seele, wie recht du wieder hast,“ dachte Herbert. „Aber selbst wenn wir weder Mädchen noch Nadel wiederfänden – schön war’s doch!“

*      *      *

Am nächsten Nachmittag hieß es an Bord des Wachtschiffes „Preußen“: „Frettwurst, die ‚Bachstelze‘ auftakeln! Da die Nadel nicht im Kutter war, müssen wir sie auf der Strandhöhe suchen.“

„Es is aber nich für ’n Hosenknopf Wind, Herr Lieutenant.“

„Kratzen Sie nur tüchtig am Klüverbaum, dann wird er schon kommen. Fahren müssen wir auf jeden Fall.“

Frettwurst kratzte gehorsam, denn er hielt felsenfest an dem alten Seemannsaberglauben, und richtig, es half! Nach einer halben Stunde tänzelte die „Bachstelze“ vor dem Winde auf die weiße Höhe zu, hinter der das Stranddorf sich barg.

Herbert hatte heute Civilkleider angelegt; daß dies seines schlechten Gewissens halber geschah, würde er freilich nicht zugegeben haben. Nach langem Schweigen fragte er unvermittelt: „Was würden Sie thun, Frettwurst, wenn Sie einmal im Walde ein hübsches Bauernmädchen fänden, das auf einer Bank sitzt und eingeschlafen ist?“

Der Bursche grinste vergnügt. „Das kümmt gor nich vor, Herr Lieutenant.“

„Aber wenn es nun doch vorkäme.“

[16] „Dann würde ich ihr vielleicht wecken.“

„Soo? Und natürlich durch einen Kuß!“

Frettwurst schüttelte sehr entschieden den Kopf. „Herr Lieutenant spaßen! Ich bim ja versprochen, und denn würd’ ich doch nich so’n ausverschämten Kerl sein gegen ’ne kleine Deern, die mir nich kennt.“

Herbert zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Nasenspitze. Da hatte er also sein Urtheil weg! Schweigend vollendeten die beiden ihre Fahrt.

Die „Bachstelze“ wurde wie gestern an die Brücke gelegt. Herr und Diener begaben sich auf die Suche nach der Nadel. Vergebens – diese blieb verschwunden, und Herbert fragte sich ärgerlich, ob am Ende Hilde gestern abend oder heute früh beim Holen ihres Buches, von dem er nichts mehr entdecken konnte, den Anker als willkommenes corpus delicti an sich genommen habe.

Betrübt, als ob er selbst den Verlust zu tragen hätte, übernahm Frettwurst endlich wieder die Bootswache. Da es noch viel früher als gestern war, beschäftigte er sich damit, allerlei kleine Schäden des Kutters auszubessern, während Herbert, die Sportmütze tief sich ins Gesicht drückend, durch das Roggenfeld auf das Dorf zuschritt. Das Verschwinden des Andenkens that ihm sehr leid und verursachte ihm einige Sorge wegen des Verlaufs, den sein Abenteuer auf diese Weise nehmen konnte; auch hatte ihn der unbewußte Richterspruch Frettwursts getroffen. Dennoch erfüllten sein Herz hauptsächlich Gedanken sehr freundlicher und sehr unternehmender Art. Das Bild des Mädchens hatte sich ihm tief eingeprägt und ließ ihm keine Ruhe. Auf die Gefahr hin, erkannt und entlarvt zu werden, wollte er nachforschen, ob die junge Schöne im Dorfe wohne und wer sie sei.

Der Pfad neigte sich abwärts; nach wenigen Minuten betrat Herbert die Dorfstraße, an deren Ende das Wirthshaus lag. Hier ließ er sich ein Glas Bier geben und erkundigte sich so beiläufig, ob im Dorfe ein Herr Jaspersen wohne, der eine Tochter Namens Hilde habe. Die Auskunft, die er erhielt, befriedigte ihn vollauf: Hilde Jaspersen wohne allerdings hier, sie sei die Tochter des Herrn Lehrers.

Nach einer Weile stand Herbert auf; er durchwanderte umherspähend die einzige Gasse des Dorfes und machte dann vor einem kleinen flachsköpfigen Rangen Halt, der ihn verwundert und wie festgenagelt anstarrte.

„Wo wohnt hier der Schullehrer, mein Junge?“

„Dor!“ Nach dieser lakonischen Antwort steckte der Gefragte den als Wegweiser benutzten Zeigefinger wieder in den Mund, aus dem er ihn mit augenscheinlichem Widerstreben herausgezogen hatte.

„Dor!“ – Ein langgestrecktes, halb mit Stroh, halb mit Ziegeln gedecktes Haus lag vor ihm. Die mit Ziegeln gedeckte Hälfte sah neu und nüchtern aus. Reihen von leeren Bänken, die hinter den vorhanglosen offenstehenden Fenstern sichtbar wurden, zeigten die Stätte der Weisheit an; die andere Hälfte des Gebäudes dagegen war von wildem Wein umrankt und machte einen sehr anmuthigen Eindruck. Hier gab es blitzblanke Fenster nebst weißen Vorhängen und Topfblumen, ein Vorgärtchen, dessen Einfriedigung einen Reichthum von Rosen, Nelken und Lilien und anderem bunten sommerlichen Schmucke umschloß. An der Giebelseite erhob sich eine Linde mit einem gemüthlichen Sitzplätzchen darunter. Daneben standen Obstbäume und Fliederbüsche, zwischen denen eine stattliche Reihe Bienenkörbe hervorschaute.

Bekanntlich zieht es Verbrecher stets mit geheimnißvoller Gewalt zu den Opfern ihrer Uebelthaten. Aehnlich erging es Herbert. Obgleich er sich sagen mußte, daß sich ein Zusammentreffen mit dem beleidigten Mädchen oder den entrüsteten Mitgliedern der Familie Jaspersen für ihn recht unangenehm gestalten könne, trieb es ihn doch unwiderstehlich an den Gartenzaun, an den er sich wie ein harmloser, des Ausruhens bedürftiger Wanderer lehnte. Allein was er erwartete, wollte sich nicht zeigen. Nirgends war etwas von einem hellen Gewand, einer jugendlich zarten Gestalt zu bemerken. Statt dessen tauchte vielmehr jetzt aus den Fliederbüschen ein Mann in Hausschuhen hervor, mit einem Sammetkäppchen auf dem Haupte, in unverkennbar seelenzufriedener Stimmung aus langer Pfeife dampfend. Den Rücken dem Zaune zugekehrt, stellte er sich vor die Bienenstöcke und verfolgte aufmerksam das Treiben der fleißigen kleinen Honigsammler.

Vater Jaspersen! dachte Herbert. Ein recht gemüthlicher Schulmonarch, schade nur, daß er nicht wenigstens Pastor ist! Aber ärgerlich unterbrach er sich selbst. Schade? Warum? Was ging es sein kleines Abenteuer mit dem Töchterlein an, ob der Vater eine höhere oder niedrigere Lebensstellung einnahm!

Eine Weile verharrte Herbert noch in seiner beobachtenden Stellung; dann richtete er sich mit einem Ruck entschlossen auf.

„Giebt’s guten Honig diesen Sommer, Herr Jaspersen?“ tönte eine helle kräftige Stimme an das Ohr des Schulmeisters. Dieser kehrte sich um und erblickte am Zaune einen sportmäßig aussehenden jungen Mann, der so behaglich und breitbeinig dastand, als sei er sehr geneigt zu einer längeren freundnachbarlichen Unterhaltung.

Vielleicht durch diese Gemüthlichkeit bewogen, trat der Lehrer auf den Fremden zu. „Ich hoffe,“ sagte er dann, indem er sein Gegenüber ruhig aus freundlichen Augen musterte. „Ich habe da eine gute Bienenrasse, und sie finden jetzt viel Nahrung, besonders auf dem Stück Heide am Walde droben, das zu meiner Stelle gehört. Es ist Ihnen vielleicht auch aufgefallen, denn es ist das einzige beim Dorfe; überall sonst findet sich nur fruchtbarer Roggen- und Weizenboden. Früher haben die Bauern wohl gedacht: ‚O, für den Schulmeister ist das Heideland gut genug!‘, mir aber kommt es nun gerade für meine Bienenzucht zu paß.“

Häufig mit der Pfeifenspitze nach der erwähnten Richtung deutend, sprach der Lehrer dies in einem Hochdeutsch, das durch seine Anklänge an den Landesdialekt und durch die dunkle Tonfarbe etwas Breites und Plumpes erhielt. Dabei klangen aber die Worte so treuherzig und zutraulich, als ob er einen alten Bekannten vor sich habe. Die Anrede bei seinem Namen hatte ihn nicht in Verwunderung gesetzt, da er sich in der Gegend überall gekannt wußte.

Herbert vermochte vorläufig irgend eine äußere Aehnlichkeit zwischen dem zuthulichen alten Herrn und der leichtfüßigen Erscheinung der Tochter nicht herauszufinden, aber er fühlte sich angeheimelt. Lächelnd hörte er die kleine Rede des Schullehrers an und beschloß, ihn bei dem Gegenstand, der offenbar sein Lieblingsthema war, festzuhalten, und so erkundigte er sich angelegentlich nach der Zahl der Bienen in den vorhandenen Stöcken. „Ist diese Zahl annähernd zu schätzen, Herr Jaspersen?“

„Nun, einen ungefähren Anhalt hat man schon. Man rechnet auf den Stock außer der Hauptperson, der Königin, etwa sechshundert bis tausend Drohnen und zwischen zehn- und fünfundzwanzigtausend Arbeitsbienen. – Sie haben sich wohl noch nie mit der edlen Imkerei beschäftigt?“

„Leider nein! Aber ich habe mich stets ungemein für das Treiben dieser kleinen Staatsbürger interessiert. Kann man in den Stöcken dort sehen, wie sie arbeiten?“

„Gewiß! Wenn Sie nähertreten wollen, werde ich es Ihnen gern zeigen. Dort in dem Kasten rechts ist gerade ein frisch eingefangener Schwarm bei der ersten Einrichtung beschäftigt. Ja, ja, in den Städten lernt man die schönsten und wunderbarsten Dinge, die unser Herrgott geschaffen hat, gar nicht kennen. Kommen Sie nur!“

Herbert ließ die Aufforderung nicht zweimal an sich ergehen; er betrat den Garten in einer Eile, die mit seinem Interesse für die Bienenzucht nicht ganz zu erklären war. Mit kurzer Verbeugung lüftete er darauf seine Mütze und schloß sich, ohne seinen Namen zu nennen, dem freundlichen Bienenvater an. Dieser erwies sich als vorzüglicher Erklärer, so daß der Lieutenant vor dem Wissen des Mannes nicht wenig Respekt bekam; auf allen möglichen Gebieten der Naturwissenschaft schien Herr Jaspersen beschlagen zu sein.

„Nun müssen Sie aber doch auch das Erzeugniß meines Königreichs kosten, lieber Herr!“ schloß der Schullehrer seinen Vortrag. „Nein, Sie dürfen mir das Vergnügen nicht nehmen, wenn Ihre Zeit es irgend gestattet,“ fügte er dann hinzu, als der Fremde eine unsichere, auf Ablehnung deutende Höflichkeitsbewegung machte. „Es ist vorjähriger Honig von wirklich besonderer Güte. Meine Frau wird sich eine Ehre daraus machen, Sie damit zu bewirthen.“

Herbert widerstand nicht länger. Mit einem eigenthümlichen Gefühl halb freudiger, halb banger Erwartung folgte er dem alten Herrn zu dem Platz unter der gleichfalls von Bienen umschwärmten Linde.

[31] Herr Jaspersen trat unter die Hausthür. „Mutter!“ rief er hinein, „bring doch ’mal ein bißchen Honig und etwas dazu, wir haben einen Gast!“

Gleich darauf erschien eine schlicht gekleidete Dame; als sie den Fremden erblickte, machte sie schleunigst kehrt, kam aber gleich darauf zurück; sich im Gehen glättend über das Haar streichend. Herbert bemerkte, daß sie die Schürze gewechselt hatte.

„Meine Frau,“ stellte der Lehrer vor.

Die bewegliche Dame, die nicht minder freundlich dreinschaute als ihr Gatte, reichte dem Lieutenant mit unbefangener Natürlichkeit die Hand, und dieser erwiderte den herzlichen Druck nicht ohne Verlegenheit.

„Und hier, das ist Herr -“ der Lehrer sah Herbert fragend an, worauf dieser mit einer Verbeugung ergänzte: „Ich heiße Gebhardt.“

„Marinelieutenant, nicht wahr?“ fuhr Jaspersen gemüthlich fort, denn er hatte den Beruf des Fremden trotz des Civils bald herausgefunden.

„Ja, Lieutenant zur See.“

„Also der Herr Lieutenant will unseren Honig ’mal versuchen, Mama. Aus der langen Kruke auf dem linken Bord, weißt Du!“

Frau Jaspersen holte den Honig und setzte dann nicht ohne gesellschaftliche Gewandtheit das Gespräch mit dem Gaste fort. Sie besaß entschieden mehr Form als der Gatte, ohne doch der Behaglichkeit zu entbehren; dabei lag etwas in ihren feinen Zügen und schönen Augen, was auf die Tochter vererbt sein mochte.

Ja, die Tochter, wo blieb die nur? Aus der unbefangenen Art, mit der er hier aufgenommen wurde, glaubte Herbert mit Sicherheit schließen zu können, daß Hilde nichts verrathen hatte, und dieweil er geruhig seinen Honig verzehrte, schwellte wieder ungetrübte Kühnheit seine Brust. Jetzt wollte er unbedingt bleiben, bis sie käme! Wenn sie doch bald käme! – –

Während Herbert nun im Laufe der Unterhaltung durch seine ungezwungene frische Art das Herz seiner Gastfreunde im Sturme gewann, that eine andere wichtige Persönlichkeit ebenfalls das Ihrige, um das Netz der Verwicklungen fester zu knüpfen.

Hilde hatte eine jener unruhigen Nächte hinter sich, wie sie junge Mädchen zuweilen verbracht zu haben glauben. Sie seufzen anfänglich viel und behaupten dann, infolgedessen kein Auge geschlossen zu haben, obgleich Mond und Sterne ihre herzliche Freude an den gesunden lieblichen Schläferinnen hatten.

Mit dem Bewußtsein, ein schweres Geheimniß vor den Eltern zu verbergen, war Hilde gestern abend zur Ruhe gegangen. Aber konnte sie ihre Schmach irgend jemand mittheilen? Ein wildfremder Mann, ein Offizier, hatte sie geküßt – großer Gott, wenn das ruchbar wurde, so durften alle Leute mit Fingern auf sie zeigen!

Und als sie sich dann in erregtester Stimmung auskleiden wollte, hatte sie sich an einem spitzen Gegenstand heftig geritzt. Bei vorsichtigem Schütteln war dieser Gegenstand, der sich zu ihrem Schrecken als eine kostbare reizende Herrennadel erwies, auf den Fußboden ihres Giebelkämmerchens gefallen. Aengstlich hatte sie das Schmuckstück aufgehoben. Wie kam sie zu der Nadel? War diese bei dem frechen Ueberfall zufällig an ihr haften geblieben oder hatte der Unbekannte die Unverschämtheit soweit getrieben, sie ihr als Geschenk zuzustecken? Mit einer heftigen Bewegung hatte sie das gefährliche Ding in die Ecke geworfen.

Nachdem Hilde dann Schlummer gefunden, träumte ihr, daß unabsehbare Scharen von Marineoffizieren auf sie eindrängen, die alle sie küssen wollten, wobei jeder eine Ankernadel wie einen Dolch gegen sie zückte. Sie wies die Zudringlichen kräftig zurück, nur ein Einziger schaute sie, als er vor ihr stand, so demüthig bittend an, daß sie nicht wagte, ihn abzuwehren. Dieser Traum spann sich bis zum Morgen fort. Da erwachte sie, weil ihr die Sonne hell ins Gesicht schien, und mit zorniger Scham ward sie sich bewußt, daß der Einzige, dem sie in ihrem Traume die Annäherung verstattet, gerade die Züge des schrecklichen Mannes getragen hatte, der sie so unglücklich gemacht, den sie haßte, verachtete.

Und kaum hatte sie sich erhoben und zum Frühstück in den Garten begeben, da wartete ihrer eine neue Ueberraschung. Ein Dorfjunge überbrachte ihr das Buch, das sie gestern bei ihrer hastigen Flucht zurückgelassen hatte, und als sie es aufschlug, hätte sie es vor Schrecken beinahe fallen lassen. Der Unverschämte! Dieser Fremde wagte es, auf einem Blatte, das hier in jedermanns Hände kommen konnte, sie um Verzeihung zu bitten und gar noch eine Blume dazuzulegen. Schon war sie entschlossen, das Blättchen zu zerreißen und die Blume fortzuwerfen, da besann sie sich eines anderen – sie legte beides in das Buch zurück und trug es in ihr Zimmerchen.

Dort ging sie mit sich selbst zu Rathe. Was sollte sie thun, was sollte sie vor allem mit dieser unglückseligen Nadel beginnen? Behalten konnte sie dieselbe ja doch unmöglich! Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Wenn sie den Anker zu der Bank droben zurückbrachte, dann war sie aller Verantwortung enthoben; mochte dann damit geschehen, was da wollte!

[32] Zu ihrer Beunruhigung wurde Hilde aber den ganzen Vormittag von der Mutter in Anspruch genommen und erst in den späteren Stunden des Nachmittags, als die häuslichen Arbeiten erledigt waren, fand sie Zeit, zu der Unglücköstätte zurückzukehren. Vorsichtig um sich spähend wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, schlich sie auf einem weiten Umweg zu der Strandhöhe hinauf.

Ihr gestriger Ruheplatz lag einsam und friedlich da, nichts Verdächtiges regte sich. So wagte sie denn, näherzutreten, und war schon im Begriff, die Nadel mit den verschlungenen Buchstaben H. G. ihrem Vorsatz gemäß auf die Bank zu legen, als von der Bucht herauf leise aber deutlich ein Pfeifen an ihr Ohr drang, das die berühmte Weise „Ach, du lieber Augustin“ zum besten gab. Spähend trat Hilde vorwärts bis an einen Punkt, der einen Ausblick gestattete. Sie erblickte unten ein reizendes Lustfahrzeug und darin einen weißgekleideten Marinematrosen, der auf dem Dache der Kajüte saß, eine Arbeit in den Händen und dabei unverdrossen seine schöne Melodie pfeifend.

Er war allein. Keine Seele sonst weit und breit! Das Köpfchen des Mädchens wurde von den verschiedensten Gedanken durchkreuzt. War das Boot heute da, so hatte es auch gestern da sein können, und dann gehörte es sicherlich ihm. Und wie gestern, so war wohl auch heute der Besitzer des Fahrzeugs fortgegangen um – ja, was mochte er heute im Schilde führen? Wollte er am Ende gar sie selber suchen?

Ein Lächeln, ein drollig triumphierendes, kindliches Lächeln flog über ihr rosiges Gesicht. Mochte er suchen! Sie steckte einstweilen im sicheren Busch! Aber wie wär’s denn, wenn sie da drunten die Nadel anbrächte? Diese war doch eigentlich zu kostbar, um sie einem Zufall preiszugeben. Und dann – wenn sie je ein dreistes Geschenk hatte sein sollen, so mußte die Rückgabe dem ungebetenen Spender ein höchst niederdrückendes Gefühl bereiten ! –

Der gute Frettwurst pfiff ahnungslos immer noch weiter, als plötzlich ein zierliches Mädchen auf den Steg getrippelt kam, Ueberrascht blickte er auf und musterte eingehend die unerwartete Erscheinung. „Ein mobiles Frauenzimmerchen!“ dachte er. „Und eine Dame – oder wenigstens bald eine,“ fuhr er mit stiller Hochachtung in seinen Gedanken fort.

Hilde hatte eine hoheitsvolle Miene aufgesetzt. Zunächst schlenderte sie bis zum Ende des Stegs, als ob Frettwurst nebst seiner „Bachstelze“ sie nicht das Geringste anginge. Nachdem sie dann eine Weile mit erhobenem Näschen über das Hafenbecken geschaut hatte, drehte sie sich um und zurückwandernd, dem Matrosen fast unmerklich zunickend, blieb sie vor dem Fahrzeug stehen.

„Hübsches Boot, die ‚Bachstelze‘!“ sagte sie nachlässig.

Dieser Gnadenbeweis veranlaßte den höflichen Frettwurst, an seine Mütze zu greifen. „Das will ich meinen!“ erwiderte er. „Wir sind auch bannig stolz auf ihr!“

„Wir? Was heißt ‚wir‘?“

„Mein Herr Lieutenant und ich,“ erwiderte Frettwurst selbstbewußt.

„Wer ist Ihr Herr Lieutenant?“

„Herr Lieutenant zur See Gebhardt.“

Hilde durchzuckte es bei dem Anfangsbuchstaben des Namens. „Was machen Sie da?“ fragte sie ablenkend, auf die räthselhafte Arbeit in Frettwursts Händen deutend.

„Ich sticke eine Decke für die Kajüte. Sie wird fein, nich?“ Damit breitete er das Kunstwerk vor ihr aus; es stellte eine über blaues Meer segelnde Brigg dar und war ganz aus zusammengestoppelten Wollresten gearbeitet.

Hilde legte kritisch die Hände hinter dem Rücken übereinander. „Allerliebst! Ihr Herr wird sich freuen.“

Frettwurst neigte überzeugt das Haupt.

Einen ängstlichen Blick nach dem Ufer werfend und dann unter halbgeschlossenen Wimpern kühl auf den Matrosen schauend, fuhr die junge Dame fort: „Also Gebhardt heißt Ihr Herr Lieutenant. Ich glaube, ich habe ihn schon gesehen. Wie lautet denn nur gleich sein Vorname? Fängt er nicht mit einem ‚H‘ an?“

„Gewiß, mit ’n ‚H‘; Herbert heißt er. Einen besseren Herrn giebt’s in die ganze Marine nich. Sie mögen ihn alle leiden!“

Hilde zuckte die Achseln. „Waren Sie gestern abend auch hier?“ fragte sie nach einer kleinen Pause weiter.

„Natürlich waren wir hier.“

„So? Dann ist Ihrem Herrn vielleicht hier herum eine goldene Nadel abhanden gekommen?“

Seine Arbeit fortwerfend, sprang der Bursche auf die Füße. „Jawoll! Oben bei die große Buche! Haben Sie ihr da gefunden?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie ist also wirklich verloren gegangen?“

„Na, sonst hätten wir doch nich so lang nach ihr rum gesucht! – O ja, Sie haben ihr! War sie doch bei die Buche? Geben Sie ihr man gleich her! Da wird sich mein Lieutenant aber höllisch über freuen!“

„Nur langsam! Ich habe noch gar nichts gesagt!“ wehrte Hilde ab. „Ehe die Nadel überhaupt gezeigt wird, müssen Sie mir fest versprechen, Ihrem Herrn Lieutenant zu verschweigen, wie und durch wen sie zurückgelangt ist. Wollen Sie das?“

Frettwurst machte ein bedenkliches Gesicht. „Wenn er mir nu aber fragt?“ meinte er.

„Was Sie dann erwidern wollen, ist Ihre Sache! Wenn Sie mir aber das Versprechen nicht geben, so bekommt Ihr Herr die Nadel nicht zurück, darauf können Sie sich verlassen!“

Der große Bursche schaute hilflos in die Richtung des Dorfes. Anfassen und festhalten? Aber das durfte er doch wohl nicht mit ’ner Dame!

„Na,“ entschied er sich nach schwerem Besinnen, „dann will ich es man lieber versprechen.“

„Also auf Ihr Wort?“

„Auf Wort, Fräulein!“

„Schön!“ entgegnete das junge Mädchen erleichtert, „hier ist die Nadel!“

Frettwursts ehrliche Augen leuchteten, als er das Kleinod in Empfang nahm. Hilde sah ihn durchbohrend an und legte den Finger auf den Mund. „Wer sein Wort bricht, hat seine Ehre verloren!“ Damit wendete sie sich um und schritt mit demselben feierlichen Ernst, mit dem sie vor Frettwurst aufgetaucht war, die Anhöhe hinauf. Sobald sie jedoch durch die Büsche den Augen des Matrosen verborgen war, begann sie zu rennen, als ob der Feind ihr auf den Fersen wäre.

Frettwurst aber widmete sich mit getheilten Gefühlen wieder seiner Wollstickerei; ihm war zu Muth, als habe er dem Teufel für irdisches Glück sein unsterbliches verkauft. –

Freudig bewegt über den gelungenen Anschlag, stürmte Hilde ins Dorf und in den elterlichen Garten hinein; wie ein Wirbelwind fuhr sie um die Hausecke herum und – starr wurzelte ihr Fuß am Boden!

Dort vor ihr – sie traute ihren Augen nicht – dort saß der Frevler selbst! Und Vater und Mutter saßen friedlich neben dem gräßlichen Menschen, den sie trotz seiner Civilkleidung auf der Stelle erkannt hatte. Keines Wortes mächtig, stand sie mit gesenkten Augen da.

Herbert, der sich erkannt sah, fühlte, wie ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Aber nachdem der erste Schreck verflogen war, hing sein Auge wie gebannt an der liebreizenden Erscheinung. Und auf diesen Lippen hatten gestern die seinen geruht!

Die ahnungslosen Eltern hielten die Befangenheit ihres Lieblings für die Wirkung der Verlegenheit, sich so als tollenden Unband vor einem wildfremden jungen Mann eingeführt zu haben.

„Meine Tochter Hilde“, sagte der Lehrer mit behaglicher Handbewegung, um der Verwirrung seines Kindes zu Hilfe zu kommen. Und die Mutter bemerkte entschuldigend zu dem Gaste, der rasch aufgesprungen war: „Sie ist noch so jung und Fremden gegenüber so leicht verlegen, obgleich sie mehrere Jahre in der Stadt erzogen wurde.“

Fassunglos, noch immer mit niedergeschlagenem Blick, trat Hilde ein paar Schritte näher zum Tische. Da indessen Herbert seinen Platz nicht wieder einnahm, solange sie stand, so war sie genöthigt, sich ebenfalls am Tisch niederzulassen.

„Du siehst bleich aus, Hilde – bist Du nicht wohl?“ fragte nun die besorgte Mutter, welcher jetzt doch das veränderte Benehmen ihrer Tochter auffiel.

„Nichts von Bedeutung, Mama! Kopfweh –“

Herbert spürte einen Stich in der Brust. „O, das thut mir sehr leid!“ fiel er herzlich ein. „Hoffentlich wird es bald vorübergehen!“

Hilde neigte den Kopf noch tiefer. „Es ist schon wieder vorbei,“ erwiderte sie mit verschleierter Stimme.

Jetzt begann der Lehrer das so plötzlich unterbrochene Gespräch über Tiefseemessungen wieder aufzunehmen. Allein die [34] Theilnahme seines Gastes war sichtlich erlahmt. Unaufhörlich suchten dessen Augen ein Zeichen der Verständigung aus denen des stumm dasitzenden Mädchens zu erhaschen – vergebens!

Frau Jaspersen hatte sich einen Augenblick entfernt. Als sie jetzt vom Hause her ihren Mann zu sich rief, benutzte Herbert den günstigen Augenblick, um seiner Nachbarin zuzuflüstern: „Tausend Dank für Ihr Schweigen! Verzeihen Sie mir! Bitte, bitte!“

Die dunkeln Wimpern hoben sich; ein rührend vorwurfsvoller Blick streifte ihn, ein Blick, so erfüllt von Qual und Scham, daß es ihm ordentlich ins Herz schnitt. Er wollte fortfahren, aber Herr Jaspersen kehrte zurück und rief schon von weitem:

„Hilde, Mama will Dich sprechen!“

Wie ein Pfeil schoß das Mädcheu davon, offenbar froh, einen Anlaß zum Verschwinden gefunden zu haben.

Als sie gar nicht wiederkam und es Herbert endlich doch zu unpassend erschien, den ersten Besuch noch länger auszudehnen, schickte er sich zum Gehen an, die Aufforderung des Lehrers, an dem bescheidenen Abendbrot theilzunehmen, höflich ablehnend. „Aber gern werde ich ein andermal kommen, wenn ich nicht lästig falle,“ erklärte er.

„Es wird uns eine Freude sein, Herr Lieutenant, wenn Sie die Bekanntschaft mit uns einfachen Leuten fortsetzen wollen. Ich verkehre sonst nur mit meinesgleichen oder doch nur mit Leuten von einfach bürgerlichen Sitten, sehne mich auch nicht über diesen Kreis hinaus – man hat so seinen Stolz, Herr Lieutenant! Allein hie und da thut es doch gut, mit einem Manne aus anderer Welt ein Stündchen zu plaudern, besonders wenn dieser fast aller Herren Länder gesehen hat und so frisch davon zu erzählen weiß wie Sie!“

Auch Frau Jaspersen kam noch einmal herbei, um sich zu verabschieden. Da die Eltern der Tochter keine Erwähnung mehr thaten, so bat Herbert nur kurz, ihr seine Empfehlung ausrichten zu wollen, und dann ging er.

Mit welcher Fülle von Empfindungen begab er sich wieder zum Strande! Dieser Erfolg seines Streifzuges übertraf alle Erwartungen, die er an sein Abenteuer geknüpft hatte, und doch mischte sich seiner freudigen Erregung ein bitterer Tropfen bei. Was hatte er dem Mädchen zugefügt und wo sollte die Geschichte hinaus?

Erschien er sich selbst als ein Verwandelter, während er auf der „Bachstelze“ zu seinem Schiffe zurückfuhr, so kam ihm Frettwurst erst recht sonderbar vor. „Frettwurst!“ rief er, „hat Sie denn ein altes Weib behext, daß Sie mich fortwährend wie das leibhaftige Geheimniß anstarren?“

„Ne, Herr Lieutenant, behext bin ich nich. Ich wollte nur melden, daß wir ihr wieder haben.“

„Wen?“

„Das da!“

„Donnerwetter!“ rief Gebhardt vergnügt. „Die Nadel! Wo war sie denn? Also doch im Boot?“

Frettwnrst zog kläglich lächelnd Augenbrauen und Schultern in die Höhe und wand sich, als ob er Magenschmerzen habe.

„Was sollen denn die Possen, Frettwurst? Rasch antworten Sie!“

„Sie lag unter die Fußleiste, Herr Lieutenant.“

„Na, hören Sie mal, dann müssen Sie aber gestern höchst oberflächlich gesucht haben. Das ist mir ja ganz neu bei Ihnen!“

Gleich einem Schulkind erröthend, senkte der Matrose den Kopf. Zum ersten Male hatte er seinen Lieutenant angelogen!

Herbert aber dachte längst nicht mehr an die Nadel und Frettwursts Mangel an Diensteifer, als die „Bachstelze“ unter dem glitzernden Sternenhimmel, eine schimmernde Spur im phosphorescierenden Seewasser hinter sich lassend, auf die „Preußen“ zurauschte. Hatte heute das Glück, von dem er geträumt, seine Stirn berührt, oder war auch dies nur eine flüchtige Täuschung?




2.

Einige Tage waren seit jenem ersten Besuch im Schulhaus vergangen, als Herbert den Garten des Herrn Jaspersen wieder betrat. Zu seiner freudigsten Ueberraschung fand er nur Hilde daheim, die, mit einer Stickerei beschäftigt, unter der Linde saß; ihre Eltern waren weggegangen, um einen längeren Besuch im Dorfe abzustatten.

Der Schreck des jungen Mädchens, den Gegenstand ihrer unaufhörlichen bangen Träume leibhaftig vor sich zu sehen, war kein geringer. Da stand er wieder, dieser Mann, mit dem sie durch ein Geheimniß verbunden war, um das als dritter nur noch der liebe Gott wußte und der vermuthlich, ohne es zu billigen! Aber hätte sie, nachdem sie zuerst aus Scham stumm geblieben war, überhaupt noch reden dürfen, während er doch so flehentlich ihre Verschwiegenheit angerufen hatte? Ach, welch schreckliche Konflikte gab es doch im Leben!

Sie wagte dem gefährlichen Manne, der auf ihre schüchterne Einladung hin mit einer Verbeugung neben ihr Platz genommen hatte, nicht ins Auge zu schauen; dafür streifte ihr scheuer Blick den oberen Theil seiner Brust. Dort auf der Kravatte saß sie wirklich – die goldene Nadel! Hatte der Bursche sein Versprechen gehalten oder am Ende doch geplaudert?

Diese Frage, die sich Hilde immer wieder stellte, war nicht geeignet, ihre Befangenheit zu vermindern, und auch Herbert fand seine gewohnte Sicherheit nicht. So saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander, beide in Gedanken bei demselben Augenblick verweilend, der sie einander nahegebracht hatte, um sie klaftertief zu scheiden, und den sie beide durch eine offene Aussprache gern aus der Welt geschafft hätten. Doch keines wagte, davon anzufangen, und als endlich eine Unterhaltung in Gang kam, da waren es Erörterungen, die sich so weit wie möglich von dem entfernten, was man zu sagen wünschte. Dann trat wieder eine Pause ein. Um die Lindenblüthen tummelten sich die Bienen, mit ihrem träumerisch behaglichen Summen die laue Luft erfüllend. Das Laub überschattete den Tisch, nur ab und zu, wenn ein leiser Windhauch die Blätter bewegte, tanzte ein verlorener Sonnenstrahl über den Kies.

Herbert lehnte sich sinnend in den Gartenstuhl zurück und begann mit einem Lindenzweig zu spielen, die Augen unverwandt auf das junge emsige Mädchen gerichtet, das den Kopf anmuthig gesenkt hielt und sich mit einer auffallenden Hingebung ihrer Handarbeit widmete. Wie mädchenhaft sie war, und wie unnahbar, wie fern sie vor ihm saß! Ihm war, als könnte er niemals wagen, ohne ihren Willen auch nur an den Saum ihres Kleides zu rühren. Und doch hatte er diesen ernsten Mund schon geküßt!

Aber gewaltsam riß er sich aus seinen Gedanken empor – es mußte etwas geschehen, um dieses Stündchen ungestörten Zusammenseins, wie es vielleicht nicht mehr wiederkehrte, auszunutzen.

„Fräulein Jaspersen –“ begann er plötzlich. Als Hilde den feierlichen Ton vernahm, versuchte sie schleunigst, einen abweisenden strengen Ausdruck in ihre Haltung zu legen, mit sehr schwachem Erfolg, denn ihr Gegenüber fuhr unbeirrt fort: „Fräulein Jaspersen, ich bin bisher nicht dazu gekommen, Sie in geziemender Weise um Vergebung zu bitten für meine unverzeihliche Frechheit. Das soll hiermit geschehen. Also, es thut mir schrecklich leid, daß ich – nein, lügen kann ich nicht! Es war doch zu schön, als daß ich die That ungeschehen machen möchte! Aber ich fühle trotzdem Reue! Wahrhaftig, glauben Sie mir es nur, so widerspruchsvoll es klingt! Ja, ich empfinde um so mehr Reue, als Sie mich durch Ihr großmüthiges Schweigen tief beschämt haben.“

Hilde wußte nicht, was thun. Sie zupfte an ihrer Stickerei herum und kämpfte mühsam gegen die Thränen, ohne es verhindern zu können, daß endlich zwei große Tropfen über ihre Wangen rannen. Sie warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu. „Und nicht einmal schmerzlich ist es Ihnen!“ schluchzte sie.

Herberts Herz wurde weich wie Wachs. Ruckweise schob er sich mit dem Stuhle näher.

„Liebes, liebes Fräulein, weinen Sie nur nicht! Eine Schande ist’s doch nicht; wenigstens nicht für Sie! Ebenso wie Sie geschwiegen haben, schweige ich auch. Niemand außer uns beiden soll je davon erfahren! Und dann – o Fräulein Hilde, wenn Sie sich selbst hätten sehen können, ich schwöre darauf, Sie würden auch nicht widerstanden haben, Sie hätten sich selbst küssen müssen! So hinreißend lieblich sahen Sie aus, ganz wie ein Dornröschen! Sehen Sie, das ist der Fluch dieser Kindermärchen, daß man sogar als erwachsener Mensch ihrem Einfluß sich nicht zu entziehen vermag. Und das ist doch auch nicht meine Schuld, daß ich kein Theewasser, sondern warmes jugendfrisches Blut in meinen Adern habe. Was können Sie für Ihre Lieblichkeit? Nichts! Was kann ich dafür, daß meine moralische [35] Festigkeit vor ihr wie Schnee an der Sonne geschmolzen ist? Nichts, ober wenigstens – nicht viel! Aber unrecht war’s doch! Weil Sie weinen, weil ich sehe, wie bekümmert Sie die That gemacht hat, deshalb war es unrecht! Und ich will alles, alles thun, um es wieder gut zu machen, wenn Sie nur den Kummer vergessen, Ihre Zurückhaltung aufgeben und unbefangen mit mir verkehren wollten!“

Hilde fand keine Antwort, seine treuherzigen Worte hatten sie ganz entwaffnet. Sie duldete, daß er ihre Hand ergriff, und als er dieselbe, durch ihr Schweigen ermuthigt, an die Lippen preßte, da duldete sie es wieder. Aber im gleichen Augenblick zuckte sie auch schon tief erröthend zusammen und entzog ihm hastig die Hand. Dann erwiderte sie bestimmten Tones: „Gut, Herr Lieutenant, ich bin Ihnen nicht mehr böse. Dafür müssen Sie aber von jetzt an ganz ernsthaft gegen mich sein! Wollen Sie das versprechen?“

„Aus tiefstem Herzen, Fräulein Hilde! Allein wieso soll ich denn ernsthaft sein?“

„Sie sollen mit mir nicht anders verkehren wie mit jedem anderen jungen Mädchen. Sie sollen sich vor allen Dingen nicht mehr meiner Hand bemächtigen, mich auch nicht ‚Fräulein Hilde‘ nennen. Dann soll alles vergeben und vergessen sein und,“ schloß sie mit Würde, „dann kann auch ich Sie im Hause meiner Eltern als Gast willkommen heißen!“

Um ein Haar hätte Herbert schnurstracks das gethan, was ihm eben verboten worden war. Er griff nach ihren Fingerchen als diese jedoch eine schleunige Rückzugsbewegung machten, besann er sich und legte seine Hände fest ineinander, damit sie nicht gleich wieder Unfug anrichteten.

„Es ist ja schwer, unendlich schwer, was Sie mir da auferlegen!“ rief er. „Doch Sie haben wohl recht, ich muß mir Ihr Vertrauen erst verdienen, Fräulein Jaspersen! Fortan werden Sie den ehrerbietigsten Kavalier in mir finden, der ohne Ihre Zustimmung die Grenze der Form nicht einen Finger breit überschreiten wird! Aber –“

„Kein ‚Aber‘!“ sagte Hilde ernst. „Eine solche Zustimmung werden Sie niemals erhalten, da Sie Offizier sind und ich –“ Sie erröthete wieder und brach ab

„Ach was, Offizier! Ich bin der Sohn eines Geistlichen; Pastor und Schulmeister aber gehören in dieselbe Klasse! Doch lassen wir das! Mein Wort werde ich jedenfalls halten. Und nun geben Sie mir noch einmal die Hand zum Zeichen, daß unser Vertrag geschlossen ist!“

Hilde that es und erwiderte leise seinen festen Druck; dabei wandte sie den Blick ab, um seinem Auge nicht zu begegnen.

Als er endlich ihre Hand freigegeben hatte, fragte er: „Sind Sie eine Freundin des Segelsports, Fräulein Jaspersen?“

Hilde bejahte eifrig.

„O, dann müssen wir – Ihre Eltern natürlich eingeschlossen – miteinander segeln! Wollen Sie?“

„Wir haben kein Boot!“

„Dafür lassen Sie mich sorgen! Sie sollten einmal meine ‚Bachstelze‘ sehen! Sie kostet mich, ehrlich gestanden, weit über mein Vermögen hinaus – ein Heidengeld. Doch dafür belohnt sie mich überreich und fast meine ganze freie Zeit bringe ich auf ihr zu. Also nicht wahr, Sie kommen?“

Hilde wich einer bindenden Antwort aus. „Fahren Sie stets ohne Begleitung?“ fragte sie listig.

„Gewöhnlich, ja. Das heißt, meinen Burschen, den Frettwurst, nehme ich mit. Die ‚Bachstelze‘ stellt für einen Mann schon ein bißchen zuviel Anforderungen an Bedienung, und dann wäre es mir auch nicht möglich, nach Belieben ans Land zu gehen, wenn ich keinen Posten bei dem Boote zurücklassen könnte.“

„Und da wartet der geduldige Mensch die ganze Zeit mutterseelenallein auf Sie?“

Herbert lachte über den mitleidigen Ton dieser Frage. „Warum nicht? Denken Sie, er würde melancholisch? Im Gegentheil, er freut sich unbändig, sobald es von Bord geht, denn der Dienst auf dem Kriegsschiff ist durchaus nicht sein Geschmack.“

„Aber zuverlässig scheint er trotz dieser Abneigung zu sein, wenn Sie ihn immer mitnehmen!“

„Er ist ein Mensch wie Gold und doch ein sonderbarer Kauz – furchtbar empfindlich! Da hab’ ich ihn neulich zum Beispiel leicht getadelt, und seitdem ist er ganz verändert. – Uebrigens sind auch Sie dabei betheiligt.“

Hilde schrak zusammen. „Auch ich?“

„Ja, aber nur sehr entfernt, Sie brauchen sich deshalb nicht zu beunruhigen! Es handelte sich um einen verlorenen und vergeblich gesuchten Werthgegenstand, der sich schließlich doch da fand, wo Frettwurst ihn vorher zehnmal übersehen hatte.“

Er wußte also nichts! Trotz ihrer Befriedigung darüber fühlte Hilde lebhaft ihr Unrecht gegen den ehrlichen Frettwurst, und sie überlegte lebhaft, wie sie ihn für seine Verschwiegenheit belohnen könne, ohne sich seinem Herrn gegenüber zu verrathen.

In diesen Gedanken wurde sie durch die Rückkehr ihrer Eltern unterbrochen, die sich herzlich freuten, den jungen Offizier als Gast vorzufinden. Sie luden Herbert mit derselben liebenswürdigen Gastlichkeit wie neulich zum Abendessen ein, und diesmal nahm Herbert die Aufforderung bereitwillig an.

[47] Während sich der Lieutenant mit Behagen dem Zauber hingab, welchen Hilde bei dem einfachen Mahl als kleines Hausmütterchen entfaltete, sollte auch dem einsamen Frettwurst sein Theil vom Glück dieses Tages zufallen. Hilde hatte ihre Verpflichtung nicht vergessen und schickte Trina, die ebenso robuste als treue Magd des Schulhauses, mit einem sehr ausgiebigen Abendbrot zu dem Hüter der „Bachstelze“ hinaus.

Frettwurst lachte über das ganze Gesicht, als Trina sich ihm vorgestellt und Rothe Grütze, Käse, Butter und Brot vor ihm ausgebreitet hatte. Eine Weile sah sie ihm dann vom Stege aus zu, während er trotz seines inneren Kummers mit unvermindertem Appetit einen planmäßigen Angriff auf die Leckerbissen unternahm.

„So so, bie’n Scholmeister is min Leutenant?“ meinte er, behaglich kauend.

„Ja, und wat uns’ Fräulen is, de Hilde, de hett mi herschickt. Se kunn mi gor nich genog för Di uphalsen, jüst, as wenn se Din langen Liew all mal sehn hat.“

Dabei lachte Trina nicht ohne Wohlgefallen den Hünen vor ihr an, obschon sie als reife Vierzigerin es längst aufgegeben hatte, sich zu verheirathen. Ihr Ehrgeiz bestand einzig darin, der Familie Jaspersen bis an ihr Ende die Stütze zu bleiben, die sie ihr bereits seit fünfzehn Jahren gewesen war, und über das Wohl jedes einzelnen Familiengliedes mit eifersüchtigen Augen zu wachen.

Frettwurst hatte bei den Worten der Magd hoch aufgehorcht; ihm begann plötzlich ein Licht über die Nadelgeschichte zu dämmern. „Is Din Fräulen wull so ’ne lütte Deern’, so ’n Katteker[1], dat awerst ok höllisch forsch sin kann?“ fragte er eindringlich.

Trina erklärte diese Beschreibung für zutreffend. „Denn hest Du se doch wull all sehn?“ meinte sie mißtrauisch. „Büst Du mit Din Leutenant all öfters hier west?“

Frettwurst schüttelte unwillig das Haupt. „Dat geiht Di gor nix an, min Söte! Ob min Leutenant se all kennt hett, weet ick nich; ick heff ehr blot een Mal so nah den Barg dor herupkajohlen sehn un dach mi glik, dat se hier rüm wahnen müßt’. Awerst se mutt en goodes Hart hebben, dat se mi den gansen Kram hier schickt.“

„Hest Du dor en Tmiefel an hatt? Wenn Din Leutenant awerst blot so ’n windigen Kirl is, de de Mätens dummes Tüg vörflunkert, as de Mannslüd dat so an sick hebben, denn hebbt Yi beter wegbliewen künnt!“

„Snack doch nich as de Buer vun’t Schipp! Wenn min Leutenant in Yi Hus kümmt, denn is dat ’ne grote Ehr’ för Yu. Wat he seggt, dor kann sick jede Deern’ up to verlaten! Un riek is he ook, wat man vun ’n Scholmeister wull nich seggen kann.“

„Nanu! Wi hebbt ook noch to bieten!“ rief Trina ärgerlich, indem sie ihre rothen Arme in die Seite stemmte. „Wat Yi Mariners sick man inbilt! Is dat de Dank för dat schöne Eten von uns’ Fräulen?“

Frettwurst sah ein, daß er im Begriff gewesen war, über der Vertheidigung seines Herrn die schuldige Dankbarkeit außer acht zu lassen. „Na, schimp man ni furt![2]“ lenkte er gutmüthig ein. „Dat hett mi verdammt fein smeckt; ick lat mi ok veelmals bedanken.“

Trina war besänftigt. Da der Matrose jetzt mit dem letzten Bissen fertig war, packte sie das Geschirr wieder in ihren Korb, und die beiden ehrlichen Seelen verabschiedeten sich voneinander in gegenseitiger Zufriedenheit. – –

„Fru Jaspersen,“ sagte Trina daheim, als Herbert gegangen war, „de Leutenant vun de Mariners is en rieken jungen Mann, aß[3] sien Burß mi vertellt het, und smuck is he ok. Meenen Se wull, dat he um uns’ lütt’ Hilde to friegen[4] kamen is?“

Mutter Jaspersen wurde böse. „Ich bitte mir aus, Trina,“ rief sie, „daß Du Hilde nichts von solchem dummen Zeug hören läßt! Dem Herrn ist es bei uns behaglich, das ist alles. Im übrigen pflegen sich die Officiere nicht gerade Lehrerstöchter zu ihren Frauen zu wählen!“

Aber trotz dieser entschiedenen Abwehr ward Frau Jaspersen in der Tiefe ihres mütterlichen Herzens Trinas Frage nicht so ohne weiteres los. Waren ähnliche Verbindungen nicht schon öfters dagewesen? Und war Hilde nicht mit allen Vorzügen des Körpers und Geistes ausgestattet? Noch ein wenig Schliff, und das Mädchen stand der vornehmsten Dame nicht nach! Wie dem aber auch sein mochte, vorläufig galt es, still zu beobachten und die Ruhe des Töchterchens vor Störungen zu hüten.

So oft Herbert nun erschien, und das geschah im Laufe der nächsten Wochen ziemlich häufig, bezeigte sie ihm eine sich stets gleichbleibende Liebenswürdigkeit. Das Nämliche geschah von seiten ihres Mannes, nur bewahrte dieser vollständig die ursprüngliche Harmlosigkeit seines Wesens. Die Möglichkeit einer Heirath zwischen den beiden jungen Leuten kam ihm gar nicht in den Sinn, und eine bloße Liebelei hielt er bei Herberts Ehrenhaftigkeit und Hildes Charakter für ausgeschlossen; der Verkehr zwischen beiden zeigte auch immer mehr das Bild einer fröhlichen Kameradschaft, bei der man gut Freund ist, ohne die Wege der Leidenschaft zu suchen.

Nur Trina mit ihrer Menschenkenntniß machte andere Beobachtungen. Aber da ihr Frau Jaspersen Schweigen geboten hatte, so begnügte sie sich damit, bedenklich den Kopf zu schütteln und sich vorzunehmen, wie ein Engel über jeden Schritt von Hilde wachen zu wollen.

Da Herbert nicht, wie es ihn trieb, jede freie Stunde im Schulhaus zubringen konnte, sondern schicklicher Weise immer wieder einige Tage zwischen seinem Kommen verstreichen lassen mußte, so benutzte er diese nothgedrungenen Pausen, um der Bank auf der Strandhöhe lange Besuche abzustatten. Dann saß er voll sehnsüchtiger Hoffnung unter der Buche, oder er wanderte über das Feld, bis er die Fenster des Schulhauses zu sehen vermochte.

Und Hilde war es nicht anders zu Muthe als Herbert. Mehr als einmal schon war sie leichtfüßig zu ihrem Lieblingsplatz hinaufgeeilt. Dort pflegte sie träumerisch nach der Binnenföhrde zu blicken, wo die „Preußen“ vor Anker lag. In ängstlicher Spannung folgte sie jedem vorübergleitenden Segel, lauschte sie, ob nicht der „Liebe Augustin“ vom Strand heraufklänge, um sich, wenn nichts zu vernehmen war, mit geschlossenen Augen in die Bank zurückzulehnen und erinnerungsreichen, süßen, süßen Phantasien nachzuhängen.

Auch heute saß sie dort oben und schaute hinunter auf die Bucht. Plötzlich pochte ihr Herz gewaltig und eine jähe Röthe überströmte ihr Gesicht – sie hatte in einem heransegelnden Fahrzeug die „Bachstelze“ erkannt. Vorschreitend spähte sie dem Kutter entgegen, und bald erkannte sie in dem scheinbar theilnahmlos am Ruder sitzenden Manne den Bewunderten – den Geliebten!

Nun huschte sie zur Bank zurück und schlug ihr Buch auf. Doch sie las nicht eine Zeile. Kein Knarren der Takelung, kein Befehlsruf, kein Schritt auf den Brückenbrettern und dann auf dem nahen Pfad entging ihrem Ohr. Jetzt krachte ein trockenes Reis und hinter den Haselbüschen hervor drang ein bekannt klingendes Räuspern zu ihr her.

Mit zitternden Fingern strich sie das krause Haar aus der heißen Stirn und nahm das Buch dicht vors Gesicht.

„Hilde!“ – Das war ein Ruf der freudigsten Ueberraschung, er zuckte Hilde wie Feuer durch die Nerven, so daß sie nicht imstande war, ihre Maske festzuhalten. Sie sprang auf und voll Verwirrung ging sie dem Ankömmling einige Schritte entgegen.

Herbert eilte auf sie zu. „Sie hier, Hilde? Welche Freude!“ rief er fast jauchzend. Und alle Schranken vergessend, ergriff er ihre Hand und drückte sie stürmisch an die Lippen.

„Wollten Sie zu uns?“ stammelte das junge Mädchen mit unsicherer Stimme.

„Nein, nur hierher! Hier auf diesem gesegneten Platze wollte ich dessen doppelt gedenken, was ich all mein Lebtag nicht vergessen werde!“

Das Mädchen zitterte und griff hinter sich nach der Banklehne, es schien, als ob eine Ohnmacht sie anwandle. Aber schon hatte Herbert sie umfaßt und gestützt. Mit einem dankbaren Blicke sah sie ihm in die leuchtenden Augen, dann senkte sie die Lider so rasch, als wenn sie sich vor einer gefährlichen Flamme hüten müßte.

Da konnte Herbert nicht länger widerstehen - er preßte seine Lippen wieder und wieder, immer länger, immer glühender [48] auf die ihrigen. Und Hilde – schlang ihre Arme um seinen Hals und überließ sich willenlos dem süßen Taumel, in den er sie hineingerissen hatte.

„Mein, mein, Du heißgeliebtes Mädchen!“

„Geliebter!“

Er leitete sie zur Bank, auf der sie sich niederließ, die Arme noch immer um seinen Hals, den Kopf an seine Brust gelegt. –

Sanft hob er ihr das Kinn in die Höhe. „Schau mich an, Hilde!“ bat er mit seiner tiefen weichen Stimme. „Einen Blick nur, einen einzigen, gönne mir zum Zeichen, daß Du mein sein willst, wie ich Dein bin!“

Langsam lösten sich die dunklen Wimpern von den brennenden Wangen. Ihre feuchtschimmernden Augen sahen ihn an mit einem Blicke noch voll tiefster Beschämung, aber zugleich voll verzehrender Leidenschaft. Und alles um sich vergessend, weder an Vergangenes noch Zukünftiges denkend, suchte sie mit ihren Lippen seinen Mund. „Hast Du mich denn gleich damals lieb gehabt, Herbert?“ flüsterte sie selig.

„Vom ersten Augenblick an, wo ich Dir ins Gesicht sah. Aber Du – Du hast mich wohl anfangs gründlich verabscheut?“

„O nein, Geliebter! Zuerst meinte ich freilich, daß ich Dich hasse und mich vor Dir fürchte. Aber jetzt weiß ich, daß mein Bangen etwas ganz anderes bedeutete, daß es Liebe war, was ich empfand, wenn Deine Gestalt vor mich trat. Ach, ist das sonderbar mit der Liebe! Wie ein Blitz hat sie eingeschlagen, und ich fasse es noch nicht, ob all dies Traum oder Wirklichkeit ist!“

Ein Kuß war die ganze Antwort, die sie erhielt; er sollte sie wohl vergewissern, daß sie nicht träume. Eine Pause entstand, dann fragte Hilde zagend: „Wann mußt Du fort nach Radegast?“

„Ungefähr in drei Wochen, mein Schatz.“

„Schon!“ Sie seufzte tief. „Aber nach einem Monat bist Du dann wieder hier?“

„Unbedingt!“

„Aber wenn Du nachher noch einmal auf die Reise müßtest, auf so eine lange, schreckliche?“

„Daran wollen wir nicht denken, Hilde,. Wahrscheinlich bleibe ich ja den ganzen Winter hier.“

Sie jubelte auf. Doch schon im nächsten Augenblick fragte sie bedenklich: „Kannst Du denn aber im Winter auch mit der ‚Bachstelze‘ herüberkommen?“

„Nein, Schatz, die ‚Bachstelze‘ hält dann ihren Winterschlaf. Allein wozu sind denn die Dampfer da!“

„Und werden Deine Besuche nicht seltner sein als jetzt?“

„So oft es dienstlich möglich sein wird, komme ich – vorausgesetzt, daß Deine Eltern uns keinen Strich durch die Rechnung machen.“

Die Eltern! Die düstere Frage: „Was nun ?“ stieg in Hilde auf. Sorgenvollen Auges schaute sie auf den Hafen hinaus, durch den eben, wie ein kleiner schwarzer Teufel, ein Torpedoboot mit schier unglaublicher Geschwindigkeit der offenen See entgegen sauste, einen Schaumberg vor sich hertragend. Das gab ihren Gedanken eine neue Richtung.

„Weißt Du, Herbert, ich möchte schrecklich gern einmal in die See hinaus. Ich habe voriges Jahr den Horizont durch ein großes Fernrohr gesehen – das war ein Tanzen der Wellen da draußen, daß ich mir seitdem nichts Schöneres denken kann, als im schnellen Boote über sie hinzufliegen!“

„Das Vergnügen kann ich Dir verschaffen! Wollen wir einmal auf der ‚Bachstelze‘ einen Ausflug unternehmen?“

„Und die Eltern? Sie werden nicht wollen!“

„Dann mit Dir allein, mein Mädchen!“

„Herbert, wie kannst Du so etwas denken!“ rief Hilde vorwurfsvoll. Allein trotz dieser ernsthaften Abweisung setzte sie doch hinzu: „Kann sich die kleine ‚Bachstelze‘ wirklich allein auf das hohe Meer hinauswagen?“

Herbert lachte. „Dazu ist sie ja gebaut. Du solltest nur sehen, wie flink sie über die Wellen wegklettert. Das geht sanfter wie auf den Dampfern mit ihren schlagenden Maschinen. Und dann haben wir ja auch Frettwurst bei uns, der eine ausgezeichnete Hilfskraft und außerdem ein so scharfer Tugendwächter ist, daß ich Dir auf der ganzen Fahrt kaum einmal verstohlen die Hand küssen dürfte.“

Hilde blickte ihn zweifelnd an. „Du,“ sagte sie dann, „hat er Dir garnichts verrathen?“

„Verrathen? Nein! Etwas von Dir?“

„Ja, von mir. Ich hab’ deshalb schon so viel Gewissensbisse gehabt, aber nichts sagen wollen, weil ich mich vor Dir scheute. Sieh’ mal – weißt Du, wem Du die Rückgabe dieses Besitzes zu danken hast?“ Sie tippte an die kleine Nadel.

„Dir etwa?“

„Ja, mir! Ich hab’ sie gefunden, heimlich an Frettwurst gebracht und mir sein Ehrenwort geben lassen, daß er mich nicht verrathen werde.“

Herbert lachte fröhlich auf. „Ei der tausend, das ist mir allerdings ganz neu, daß Ihr schon so alte Bekanntschaft miteinander [49] habt! Und schau ’mal einer den Frettwurst an! Erzählt mir der abgefeimte Schwindler, er habe die Nadel im Boot gefunden. Wer hätte das von ihm gedacht!“

„Du wirst ihn doch nicht schelten, Herbert?“

„I wo! Im Gegentheil! Nun sag’ aber, wo hast denn Du die Nadel gefunden?“

Hilde sah halb schelmisch, halb verschämt zu ihm empor. „Rathe einmal!“

„An Dir selbst etwa?“

Sie nickte, „Am Kleid. Ich fand sie abends und war schrecklich böse auf Dich.“

„Weshalb? Du wirst doch nicht gar geglaubt haben, es sei Absicht von mir gewesen?“

„Na, weißt Du! Ich konnte doch einen Zufall kaum annehmen. Bei näherem Besinnen aber dachte ich besser von Dir, weil Du trotz Deines schlimmen Ueberfalls so gute Augen hattest. Und dann machte ich mich an den Matrosen, Hinter dem ich Deinen Burschen vermuthete, und wie der Dich so lobte, da verschwand auch der letzte Verdacht und Zorn. Sein Verdienst ist’s, wenn ich Mama auch nachher nichts gesagt habe.“

„Der gute Frettwurst! – Willst Du mir einen großen, großen Gefallen thun, Hilde?“

„Von Herzen gern!“

„Dann behalte die Nadel als Andenken! Siehst Du, durch diesen Anker hat das Schicksal mein Herz, das ein sehr unruhiges Fahrzeug war, an das Deine als an sicheren Grund festlegen wollen. Da mußt Du diesen kleinen Handlanger des Schicksals doch als Dein Eigenthum ansehen!“

Sie zögerte. Das Schmuckstück erschien ihr wie eine große Kostbarkeit, und das machte ihr die Annahme unbehaglich. Und doch hätte sie sich kein lieberes Andenken von ihm gewünscht als dies.

Herbert legte die Nadel in ihre Hand. Hilde betrachtete sie eine Weile mit leuchtenden Augen, drückte sie dann plötzlich an die Lippen und rief leidenschaftlich aus: „Kleiner Anker, halte ihn fest – fest auf immer!“

„Auf immer!“ wiederholte Herbert.

In die Seligkeit dieses Augenblicks fuhr vom Walde her ein Husten mißtönig hinein. Im Nu saß Herbert in der einen und Hilde in der anderen Ecke der Bank.

Als der Lieutenant den Kopf zu wenden wagte, sah er eine derbe Frauengestalt sich unter häufigem Bücken nach Kräutern oder Blumen auf die Buche zu bewegen.

„Da kommt jemand, Hilde!“

Voll Bangen lugte diese ein wenig über die Schulter zurück. Heiliger Himmel, Trina! Wie in aller Welt kam die gerade jetzt hierher! Wenn sie nun etwas gesehen hatte! Hilde hätte bei diesem Gedanken vor Scham in die Erde sinken mögen.

Indessen plänkelte sich Trina, scheinbar ganz in ihre liebliche Beschäftigung vertieft, bis dicht in die Nähe der Bank, und erst jetzt nahm sie, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, eine angenehm überraschte Haltung an. „Süh, süh!“ rief sie gutmüthig, „lütt’ Hilde, büst Du hier? Un ok de Herr Leutenant? Dat dröppt sick ja wunnerschön! Ick wull mi man ’n beten Mösch plöcken.“[5]

„Mösch?“ entgegnete Hilde entrüstet, „um diese Zeit giebt’s doch keinen Waldmeister mehr!“

„Na, denn wull ick wull anner lüttje Blöm söken. Rük mal an!“ Dabei hielt sie Hilde ein paar wahllos ausgeraufte Waldblumen dicht unter die Nase, und sich nun an den Marineoffizier wendend, fuhr sie fort: „Wullen Sie auch mal an rüken, Herr Leutenant?“

Herbert schnitt ein deutlich ablehnendes Gesicht.

„Nich? Sie mögen doch kleine Blöm gern leiden, wie mich scheint. Wenn man ihr in sein Haus tragen und uphegen will, is das auch gans schön, sonßen aber is es schad um ihr. Da soll man ihr in ihren Wald nich stören und ihr tot machen. – Hilde ihren Papa und Mama sünd zu Haus, wenn Herr Leutenant ihr heut’ besuchen wollten!“

Hilde bekam einen richtigen kleinen Vorgeschmack der Hölle. Verzweifelt wand sie ihr Taschentuch um den Daumen. Herbert drehte an seinem Schnurrbart, vergeblich bemüht, den vierschrötigen Schutzengel durch ein erzwungenes Lächeln über seine Gefühle zu täuschen. In möglichst ruhigem Tone erwiderte er: „Ich danke Ihnen für Ihre gütige Aufforderung, verehrte Trina, aber leider kann ich den Besuch nicht mehr ausführen. Uebrigens habe ich Fräulein Jaspersen hier ganz zufällig getroffen, also werden Sie hoffentlich keine Geschichten machen, die Ihrem Fräulein unangenehm sein könnten!“

Ich mach’ kein’ Geschichen, Herr Leutenant! Wenn anner Lüd das blots nich thun!“

„Trina!“ flehte das Mädchen, einen thränenfeuchten beschwörenden Blick auf die Herzlose werfend, die sich gemüthlich neben ihr an die Bank lehnte.

[50] Trina strich ihr sanft über das Haar. „Laß’ man, Kind!“ tröstete sie und dann fuhr sie zu Herbert gewendet fort: „Ihren Burß sagt, daß Sie einen guten Herrn sünd. Ich will für uns’ lütt Hilde hoffen, daß dar was an is. Dann wissen Sie woll auch, was Sie zu thun haben. Bis dahin will ich gern ein huschen töben[6] un Frau Jaspersen nix von Ihre Extravisiten erzählen, wenn Sie das angenehmer is.“

Der Offizier sah ein, daß irgend eine Verstellung hier keinen Zweck mehr habe. Die unheimliche Trina war zweifellos Zeugin des Stelldicheins gewesen. Wollte er nicht alles aufs Spiel setzen, so mußte er seinen Stolz in Demuth vor der alten Magd beugen und sie zu beruhigen suchen.

Er sprang auf, faßte sie vertraulich unter den Arm und zog die Widerstrebende ein Stück mit sich fort.

„Seien Sie gut, Trina!“ sagte er leise. „Ich heirathe ja Hilde, aber kein Mensch darf es noch wissen – sie selbst sogar nicht! Sonst kann alles schief gehen.“

Trina schaute ihn unsicher an. Allein Herbert, der in diesem Augenblick, wo ihm außer Hilde die ganze Welt nichts galt, selber an die Wahrheit seiner Worte glaubte, machte eine so ernste überzeugende Miene, daß die Schwankende wirklich Vertrauen gewann.

„Schön, Herr Leutenant! Is dat so, heff ick vörlöpig nix sehn, denn nehmen Se mi man nix för ungot!“ entgegnete sie mit gedämpfter Stimme.

„Es ist so! Und jetzt gehen Sie, bitte, und machen Sie Hilde nachher keine Angst. Sie wird bald nachkommen, also gehen Sie nur ruhig zu!“ Dabei drückte er ihr fest die grobe Hand, und Trina rief laut:

„Na, ick heff nu Blöm nog funn, ick will man lever nah Hus gahn. Adjüs, Herr Leutenant! Adjüs Hilde! Kumm man bald nah, wie hebbt Bookwetenpankoken[7] mit Sürup vörn Abend!“

Hilde war ebenso erleichtert wie erstaunt über den unerwarteten Abgang des Störenfrieds. „Mein Gott, Herbert, was hast Du ihr denn gesagt, daß sie sich plötzlich so freundlich zurückzieht?“

„Das bleibt Geheimniß zwischen Trina und mir, mein Schatz!“

„Aber Herbert!“ Ein leises Schmollen lag in diesem „Aber“.

„Es soll das erste und letzte Geheimniß zwischen uns sein, Hilde, und auch dieses wirst Du später erfahren.“

„Nun, da muß ich mich wohl beruhigen, obgleich ich es schrecklich gern sofort wissen möchte. Mir thut’s bloß leid, daß sich Trina so dreist gegen Dich benommen hat. Es war aber alles nur Sorge um mich, Geliebter. Und daß Du sie beruhigt hast, beruhigt auch mich. O Herbert, wenn ich an das Schöne denke, das die Zukunft bringen kann –“ Von innerem Glück überwältigt, warf sie sich an seine Brust und überließ sich abermals selbstvergessen seiner Zärtlichkeit. Dann riß sie sich hastig aus seinen Armen.

„Jetzt muß ich unbedingt nach Hause, Herbert! Ach, wenn ich doch immer, immer bei Dir bleiben dürfte! Ich mag gar nicht an zu Hause denken. Wenn Trina nun nicht schweigen oder Mama mir etwas anmerken würde!“

„Trina schweigt unbedingt, und Du mußt Dich ein klein wenig zusammennehmen, hörst Du! Bis an die Dorfstraße will ich Dich noch bringen –“

„Nein, nein! Es könnte uns jemand zusammen sehen. Bitte, steig’ hier gleich durch die Büsche nach dem Strand hinunter!“

„Wie ängstlich Du bist!“

„Du hast vorhin erfahren, wie vorsichtig wir sein müssen.“

„Das weiß der Himmel!“

„Wann sehen wir uns wieder, Herbert?“

„Morgen und übermorgen habe ich Wache. Also leider, leider erst in drei Tagen!“

„So spät erst? Dann mußt Du mir schreiben! Doch nein, nein – thu’s lieber nicht!“

Noch ein letztes Mal fielen sich die Liebenden um den Hals, dann flog Hilde wie der Wind davon. –

Während der Offizier zu der Landungsstelle hinabstieg, suchte er seine stürmischen Gedanken zu ordnen. Das war der glücklichste Tag seines Lebens gewesen, und doch – auch dieser hatte nicht ungetrübt sein sollen. Diese ungeschickte Küchenfee, wie sie ihn zu dem Versprechen fast gezwungen hatte! Aber wenn er es auch nicht versprochen hätte, sich dem holden Geschöpf für immer zu verbinden – war er nicht ohnehin dazu verpflichtet? Wollte er’s denn selbst anders? Bei Gott, er wollte es von ganzer Seele! Aber, aber – die Verhältnisse! Zum Henker, warum mußte er gerade einem Stand voll schroffen Kastengeistes angehören und sie eines Schulmeisters Tochter sein!

Mit solchen Erwägungen beschäftigt, war er an den Strand gelangt, wo Frettwurst ihn erwartete. Herbert reichte seinem Getreuen die Hand. „Sie sind ein zuverlässiger Kerl, Frettwurst! Ich kenne jetzt die Nadelgeschichte, verzeihe Ihnen die kleine Lüge und billige nachträglich Ihr Verhalten. Auch das Fräulein läßt Sie grüßen und sich bei Ihnen bedanken. Im übrigen bleibt, was geschehen ist und noch geschehen sollte, unter uns. Verstanden?“

Frettwurst athmete tief auf, als sei ihm eine Centnerlast von der Brust genommen, und antwortete dann mit einem so feierlichen „Zu Befehl, Herr Leutenant!“ daß es wie ein Schwur klang. Wie stolz und selig fühlte er sich. Auf der Heimfahrt schaute er seinen Herrn verstohlenerweise förmlich verliebt an, als ob nicht dieser, sondern seine Lena da hinten am Steuer säße.

*      *      *

Hilde war keine Schauspielerin. Ihre Aufregung zu verbergen, fiel ihr während der nächsten Tage unendlich schwer. Ein Glück nur, daß Trina so that, als ob sie niemals auf einer unschuldigen Blumensuche sonderbare Entdeckungen gemacht habe, und sich gegen Hilde genau so benahm wie zuvor. Die schwierigste Aufgabe aber wurde an diese gestellt, als nach zwei Tagen der Geliebte wieder im Schulhaus erschien. Ihm begegnen zu müssen, als sei er bloß ein guter Bekannter, ihn mit „Herr Lieutenant“ und dem langweiligen „Sie“ anzureden, ohne nur ein einziges Mal aus der Rolle zu fallen – das war eine Aufgabe, die fast das Unmögliche forderte. Nur in ein paar unbeobachteten Sekunden konnten sich die Augen beider Wonne und Leid der Seele anvertrauen.

„Du blühst ja heute wie rother spanischer Pfeffer, mein Kind“, sagte der Schulmeister harmlos, indem er seiner Tochter auf die Wange klopfte.

„Es ist aber auch drückend heiß“, kam Frau Jaspersen der verlegen lächelnden Hilde zu Hilfe.

„Ja wahrhaftig, so gut hat’s die Sonne in diesem Jahre noch nie gemeint!“ bestätigte Herbert in dem Bewußtsein, daß auch er sehr wohl durch Anzeichen erhöhter Temperatur auffallen könnte, und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu.

„Na, ich dächte doch, wir hätten es schon schlimmer gehabt,“ bemerkte der Lehrer, „ich habe es heute mittag längere Zeit sogar in praller Sonne bei dem Bienenstand ausgehalten. Es ist nämlich ein Schwarm ausgeflogen, den ich von dem Birnbaum dort herunterholen und einem neuen Asyl überweisen mußte. Wollen wir die Gesellschaft betrachten, Herr Lieutenaut?“

Dieser erklärte sich gerne bereit, Hilde schloß sich an, und so fand sich die erste Gelegenheit, in aller Eile, während der Vater, an nichts Böses denkend, zum Stock hineinvisierte, den ersten Wiedersehenskuß auszutauschen.

Eine zweite Gelegenheit bot sich abends vor der Trennung. Herbert pilgerte mit der ganzen Familie Jaspersen, der er endlich seine „Bachstelze“ zeigen wollte, durch den Wald dem Strande zu. Der Schulmeister erzählte dabei, daß er am nächsten Tage die Freiheit des letzten Ferientags benutzen wolle, um mit seiner Frau in einem Dorfe mehrere Meilen landeinwärts einen befreundeten Amtsgenossen zu besuchen, und Hilde setzte lachend hinzu, sie für ihren Theil habe sich die Erlaubniß erbeten, daheimbleiben zu dürfen; sie trage ganz und gar kein Verlangen danach, die über die Maßen langweiligen Unterhaltungskünste dieser Bekannten einen ganzen Tag lang bis spät abends zu genießen.

Mittlerweile war man an einer Biegung des Weges angelangt, und Herbert, der an Hildes Seite ging, blieb mit dieser ein wenig hinter den voranschreitenden Eltern zurück. Flugs hatte auch der kleine geflügelte Herr mit den gefährlichen Pfeilen dem Pärchen einen ehrwürdigen hundertjährigen Buchenstamm gewiesen, hinter dem Herbert die Geliebte ans Herz schließen konnte.

„Das trifft sich morgen ausgezeichnet, Hilde!“ flüsterte er hastig. „Ich hole Dich mit der ‚Bachstelze‘ ab – gegen drei Uhr – wir treffen uns auf der Strandhöhe! Du darfst mir keinen Korb geben, Schatz! Wer weiß, wann wir wieder einen halben Tag für uns erobern können!“

„Aber Herbert, wenn uns jemand sieht!“

[51] „Niemand sieht uns, verlaß Dich drauf! Und wir sind rechtzeitig wieder zurück. Ich nehme Dir’s schrecklich übel, wenn Du nicht mitfährst!“

„Herbert!“ Mit diesem halb ängstlichen, halb schmerzlichen Ausruf nahm die Unterhaltung ein Ende, denn in der Ferne rief Frau Jaspersen den Namen ihrer Tochter.

Frettwurst lachte den Ankommenden verständnißinnig und respektvoll zu; er war heute im Auftrag des Fräuleins durch Trina wahrhaft fürstlich bewirthet worden und stand noch unter dem Eindruck der genossenen Gottesgaben. Außerdem hatte er die Magd gründlich ausgeholt, während diese, wie er wohl gemerkt hatte, der Meinung war, daß sie ihn aushole. Allein Trina hatte gar nichts herausbekommen, wohingegen er, Frettwurst, jetzt alles wußte!

Als Herbert sich unter vielem Händeschütteln verabschiedet hatte und schon im Boote stand, rief Hilde: „Ach, Papa, ich möchte schrecklich gern einmal auf der ‚Bachstelze‘ segeln!“

„Möchtest Du? Versuch’ es nur einmal, dann wirst Du finden, daß man solche Matrosen wie Dich kaum an Bord gebrauchen kann,“ erwiderte der Lehrer scherzend.

„Wer weiß!“ sagte sie. „Es käme also auf diesen Versuch an!“

Inzwischen hatte Frettwurst das Großsegel gehißt, und die „Bachstelze“ begann, sich vom Steg abzudrehen.

„Adieu! Adieu! Auf baldiges Wiedersehen!“

Zwei Augenpaare suchten sich festzuhalten, so lange es irgend ging, Frettwurst aber, dessen von Dankbarkeit verschönte Blicke fast ebenso zärtlich wie die seines Herrn an Hildes zierlicher Person gehangen hatten, murmelte nachdenklich in sich hinein: „Na, nu heff ick dat doch mit mien egen Ogen sehn, dat de Putt[8] klar[9] is! Wenn he nich he un ick nich Frettwurst wär un nich mien Lena har, har ick dütt lütt Katteker ok wull friegen müggt!“




3.

„Hilde, wo wullt Du hen?“ fragte Trina am nächsten Nachmittag kurz vor drei Uhr, mit teigbedeckten Fingern die Küchenthüre öffnend und die ungewöhnlich ausgerüstete junge Dame, welche unbemerkt entwischen wollte, eben noch abfassend.

„Nah ’n Strand, Trina.“

„Wat, so in ’n Sündagsnahmiddagsstaat un mit dat dicke Dook?“

Statt eine Antwort zu geben, fiel Hilde ihr um den Hals.

„Frag’ nich mehr, Trina! Ick bün to rechte Tied wedder hier.“

„Weet Vadder dorüm?“

„Ja, wenn ok nich vun hüt. Awerst segg em lever nix!“

Trina wiegte unschlüssig ihr Haupt. Sollte sie das dulden? Konnte aus dieser Heimlichkeit etwas Gutes entstehen? Aber der Lieutenant hatte ihr ja gesagt, daß er Hilde heirathen wolle. Am Ende verdarb sie ihrem Liebling durch ihre Strenge die ganze glänzende Partie! Immer noch besorgt, indessen schon nachgiebigen Tones sagte sie dann: „Kind, Kind, wenn dat man good geiht!“

„Wat schull dar slecht bie gahn, Trina? Du weest ja, dat he mi leev hett. Lat mi doch dat Vergnögen för düssen enen Nahmiddag!“

„Is sien Burß ok dorbie?“

„Ja, ümmer!“

„Na, dat is all wat! Dat is en trugen Jung, de aß en Tüg[10] för slimme Saken nich to bruken is.“

„Slimme Saken, Trina? Wat ’n Snack! Kannst Du sowat vun dien lütt Hilde glöwen?“

„Nee, egentlich nich. Blots dat so ’ne lütte Deern’ aß Du de Mannslüd nich utkennt. Na – denn gah man. Awerst jo nich to lat[11] wegbliewen, ick wüß ja gor nich, wat ick to Vadder un Mudder seggen schull! Ich back Di ok en schöuen Krinthenstuten[12] mit, mien lütt Snut, den scha’st[13] Du hüt abend warm ut’n Aben eten, wenn Du tiedig kümmst, hörst Du?“

„Dank ok! He schall mi wunnerschön smecken. Adjüs, mien lewe, lewe Trina!“

Ein herzlicher Kuß auf Trinas derbe Lippem und fort war das Mädchen, einer Schwalbe gleich, die aus dem Nest um die Hausecke schießt.

Tief in Sorgen über die Folgen ihres gutmüthigen Mitwirkens in dieser heimlichen Liebesgeschichte blieb Trina zurück. „Wenn dat man good geiht!“ murmelte sie. „Doch de Minsch is man enmal jung; ick wull de bei’n doch so girn de lüttje Freud günnen, de veel söter smeckt, as wenn nahher allens in de Reeg[14] is.“

[64] Als Hilde die Strandhöhe erreichte, stand Herbert schon wartend unter der Buche. Wie auf Kommando liefen sie aufeinander zu, und Herbert schwenkte das Mädchen gleich einem Federchen seitwärts hinter die grüne Coulisse, so daß ihr Hut davonflog. Hilde schalt und ließ sich doch den tollen Ausbruch seiner Zärtlichkeit so gerne gefallen.

Als der erste Sturm der Begrüßung vorüber war, schritten beide in geziemender Haltung, Hilde voran, auf die „Bachstelze“ zu. Festlicher als jemals sah das Fahrzeug aus. Frettwurst hatte das Messingputzen und Abwaschen des Holzes bis zu einem fast überirdischen Punkt der Vollkommenheit getrieben. Neue Segel waren untergeschlagen worden, kunstvolle Knoten bestachen das Auge nicht minder wie die Feiertagsdecken und Kissen und die beste Flagge. Und in Vervollständigung dieses Schmuckes prangte Frettwurst selbst in einem frischgewaschenen, blüthenweißen Hemd. Hildes Augen strahlten. Das alles war ihr zu Ehren geschehen!

Im Vollbewußtsein der Wichtigkeit dieses Tages grüßte Frettwurst stramm militärisch. Die junge Dame galt ihm von jetzt an ebensogut als Vorgesetzter wie sein Lieutenant. Nur in seinen Blicken spiegelte sich noch ein Rest der vertraulicheren Gefühle, die er einst dem mit ihm verschworenen kleinen „Katteker“ gewidmet hatte. Ins Unermeßliche aber stieg seine innere Wonne, als ihm Hilde kräftig die Hand drückte und sagte: „Sie haben mich sehr verpflichtet. Ich werde Ihnen das nicht vergessen!“

Respektvoll reichte nun der Schiffsherr seiner Dame den Arm; zierlich stieg Hilde über Bord, um dann großartig und behaglich zugleich als geehrte Hauptperson neben Herbert Platz zu nehmen. Und schon flog auch die Gaffel mit dem feingenähten, sich blähenden Linnen, von Frettwursts kräftigen Fäusten gezogen, zauberschnell empor, das Gaffeltopsegel entfaltete sich, und anmuthig seitwärts geneigt, glitt die „Bachstelze“ auf die sonnenbestrahlte blaue Fläche hinaus.

Hilde hätte aufjubeln mögen vor Lust. Wie stolz das Boot dahinflog, wie die Wasser rauschten! Und zur Seite den Geliebten, männlicher, schöner denn je!

Nur eines störte: die Unterhaltung mußte einen gewissen förmlichen Ton festhalten. Herbert hatte diesen absichtlich angeschlagen, da er ihm bei dem unklaren Verhältniß Hilde gegenüber um ihretwillen heute besonders geboten schien. Nur gestattete er sich, statt „Fräulein Jaspersen“ „Fräulein Hilde“ zu sagen.

Frettwurst hatte sich schon gestern abend über diese unerwartete Steifheit gewundert und wunderte sich jetzt noch mehr. Sie war doch seine „Würkliche“, warum duzten sie sich denn nicht? Indessen die feinen Leute hatten eben immer ihre Sitten für sich und fingen wohl erst nach der Hochzeit mit dem Duzen an!

Der Hafen zeigte sich sehr belebt. Gefüllt von Ausflüglern zuweilen mit Fahnen geschmückt und mit einer Musikbande an Bord, eilten Dampfer vorüber. Hier streiften elegante Jachten vorbei, dort kleine Fischerboote, braunrothe Segel an ihren Masten tragend.

Fahrzeugen der Marine segelte Herbert aus dem Wege. Nur als eine Ruderbarkasse ohne Offizier daherkam, ging er dicht vorbei, und Hilde fühlte sich kindlich mit geehrt, als die Matrosen zur Begrüßung des Vorgesetzten auf Kommando die Riemen horizontal ausgerichtet rasten ließen. „Wenn ich erst Kapitän bin, strecken sie die Ruder hoch in die Luft,“ scherzte Herbert.

Hilde träuntte ihn einen Augenblick als Kapitän und sich – Unsinn! Sie machte eine heftige Bewegung, um den dummen Gedanken zu verscheuchen. Dabei faßte der Wind ihren breiten Strohhut und entführte ihn ins Wasser.

„O weh, mein neuer Hut!“

Schon aber hatte Herbert, rasch gefaßt, die Wendung begonnen. Frettwurst mußte sich mit dem Haken bereit stellen und erhielt den Befehl, die äußerste Vorsicht anzuwenden, denn es sei ein ander Ding, so ein luftiges Gebilde von Damenhütchen zu fischen als eine Kommißmütze. Geschickt manövrierte der Offizier an dem verlorenen Gegenstand vorüber, so daß er selbft ihn im Vorbeigleiten mit der Hand ergreifen konnte, während Frettwurst aus lauter Zartgefühl ins Wasser statt in den Hut gehakt hatte.

Glücklich brachte Herbert das triefende Ding an Bord. Zwar war der duftige Besatz etwas mitgenommen, allein Hilde nahm das nicht schwer. Sie fühlte sich sehr erleichtert. Was hätte sie der Mama sagen sollen, wenn sie ohne Hut hätte zurückkehren müssen! Herbert belustigte sich über ihr noch halb besorgtes, halb wieder erheitertes Gesicht. „Solche Windfänger eignen sich überhaupt nicht für den Sport, Fräulein Hilde! Wir wollen das Gebäude in die Kajüte zum Trocknen legen. Aber was machen wir mittlerweile mit Ihrem Kopfe?“

Fröhlich ließ Hilde ihre Stirnhärchen im Winde wehen. „Ach, ich brauche gar nichts!“

„Doch, die Sonne scheint noch zu stark. Warten Sie! – Ist die Mütze von Frau Kapitän von Zarnin noch da, Frettwurst?“

„Ja, Herr Leutenant.“

Frettwursts Riesenleib zwängte sich in den Kajütenraum hinein; nach einiger Zeit tauchte der erfolgreiche Finder freudestrahlend mit einem Matrosenmützchen voll hellblauer Wolle wieder auf.

„Das ist ja famos! – Frau von Zarnin hat nämlich im vorigen Monat mit ihrem Gatten häufig meine Fahrten auf der ‚Bachstelze‘ mitgemacht, da sie den Seesport liebt, und da ist diese Mütze vergessen worden. Setzen Sie dieselbe einmal auf!“

Hilde drückte sich das kleidsame, oben durch einen Knopf verzierte Mützchen keck auf den Scheitel. Wie entzückend sie aussah! Herbert wünschte den guten Frettwurst zu allen Teufeln. Der aber schien plötzlich tiefsinnig geworden zu sein, vielleicht wegen seiner vorherigen Ungeschicklichkeit, obgleich er deshalb nicht so anhaltend nach Nordost hätte zu starren brauchen.

„Gucken Sie ein Loch in die Natur, Frettwurst?“

„Zu Befehl, Herr Leutenant! Ich glaub’, die ‚Teutoburg‘ kümmt.“

„Die ‚Teutoburg‘? Das ist ja herrlich! Geben Sie ’mal rasch das Doppelglas her! – Das Schiff kehrt von Chile zurück, Fräulein Hilde, und wurde schon vor mehreren Stunden erwartet. Bei dem guten Winde, den es jetzt hat – er bat sich sonderbarerweise wieder gedreht – wird es wahrscheinlich hereinsegeln. Wenn es dann salutiert, giebt es ein prächtiges Schauspiel. Das müssen Sie sich anschauen; wir wollen uns in der Nähe halten!“

Durch das Glas sah man über dem Horizont schon die drei segelbedeckten Masten der Fregatte. Bald wuchsen sie auch für das unbewaffnete Auge deutlich empor, und endlich wurde der Rumpf erkennbar. Die „Bachstelze“ kreuzte hin und her, bis die „Teutoburg“ mit rother gelbgekreuzter Flagge am vordersten Mast in die Hafenbucht einlief. Gern hätte Herbert die heimkehrenden Kameraden begrüßt und Hilde das stolze Bild mehr in der Nähe gezeigt, allein bei genauerer Ueberlegung hielt er es für richtiger, sich seitab zu halten. Der Anblick war auch so majestätisch genug.

Bis zum Großflaggenknopf, von dem langhin der Heimathwimpel wehte, in seine Leinwand gehüllt, eilte das Schiff dahin, eine schäumende Spur durch die See ziehend, während auf den Geschützläufen, die aus den dunklen Luken des Batterieganges hervorlugten, die Sonne glänzte. Durch das Fernglas erkannte Hilde deutlich die Offiziere auf der Kommandobrücke, die Matrosen, die in den Masten standen oder vorn auf der Back am Klarmachen des Bugankers arbeiteten. Ein schwarzes Pünktchen schwebte zu einer der Mastspitzen empor.

„Passen Sie auf, Fräulein Hilde, das ist eine zusammengerollte Flagge! Gleich wird ein Salut gefeuert!“

Da blitzte es auch schon roth in einer Stückpforte auf, ein weißes Wölkchen drängte sich kräuselnd heraus und ward immer größer und grauer. Nun ein gewaltiger Krach, vom Ufer her nachrollendes donnerndes Echo. Und jetzt stieg auch auf der dem Boote abgekehrten Breitseite Rauch auf, gefolgt von neuem, etwas gedämpfterem Getöse, und so ging es eine Weile fort, in demselben Tempo, in dem Herbert zu Hildes Belehrung nachahmend kommandierte: „Backbord ... Feuer! - - Steuerbord ... Feuer!“

Kaum hatte die „Teutoburg“ ihren ehrenden Gruß beendet, so wurde vom Hauptfort in gleicher Weise gedankt.

Obgleich dieser Ohrenschmaus für Hilde keineswegs neu war, so besaß doch das ganze Schauspiel, wie sie meinte, hier von der See aus eine ungeahnte Großartigkeit. Aber ihre Bewunderung war keine ungetrübte. Wenn ein Krieg ausbrechen würde und [66] Herbert gegen solche verderbensprühende Ungeheuer ausziehen müßte! Sie lieh diesem Gedanken besorgten Ausdruck.

„Das ist nun einmal unser Handwerk, Fräulein Hilde, oder vielmehr unsere Pflicht gegen das Vaterland. Und diesem meinem Beruf mit jedem Blutstropfen zu dienen, ist mein höchstes Glück, denn einen edleren, männlicheren kenne ich nicht. Sollte ich ihn einmal aufgeben müssen – ich glaube, nichts in der Welt könnte mich für diesen Verlust entschädigen!“ Er war einen Augenblick ernst geworden.

„Ach, dürften wir Frauen wenigstens mitkämpfen und mitsterben, wenn unsere Lieben in Krieg und Tod gehen! Was nützt es, zu Hause zu bleiben und zu jammern!“ rief Hilde blitzenden Auges.

„Aber zur See würden etwa mitziehende streitbare Damen bald genug haben, und gewiß auch Sie! Warten Sie nur, unser Wikingerschiff beginnt bereits recht tiefe Verbeugungen zu machen!“

Allein Hilde klatschte zur Antwort entzückt in die Hände, so daß Frettwurst über ihre Tapferkeit seinen Mund aufs wohlwollendste verzog. Muthwillig griff sie über Bord und ließ den Schaum einer sich brechenden glasgrünen Welle über ihren Arm laufen.

„Um Gotteswillen Sie machen sich ja ganz naß!“

„Schad’t nichts!“ Uebermüthig, wie der Ruf erklang, schwenkte sie den weißen Arm, von dem das Wasser in den Aermel rann.

„– – Hoch hinaus, mein Drache gut!
Bade dir die schwarzen Seiten lustig in der salz’gen Fluth!
Heb’ die Schwingen zu den Wolken, wie dein Schweif die Welle schlägt,
Fleug, so fern die Sterne leiten und die Welle folgsam trägt!“

Laut strömten die begeisterten Worte von ihren Lippen.

„Das haben Sie wohl aus der Frithjofssage, Fräulein Hilde?“

„Sie fragen erst – kennen Sie die herrliche Dichtung nicht?“

„O doch, vor aschgrauen Zeiten las auch ich die schöne Sage von Frithjof dem Starken und der tugendhaften holden Ingeborg. Als ich das Buch aber das letzte Mal sah auf einer Bank am hohen Meeresbord, drückte ich nur einen Kuß darauf – freilich nicht auf den Namen Ingeborg, sondern auf einen anderen – und legte eine kleine Blume hinein. Aber jetzt muß ich mir doch auch den Inhalt wieder näher anschauen. Wie wär’s, wenn ein gewisses liebes Exemplar als Ersatz für ein kleines goldenes Symbol der Treue in meinen Besitz überginge? – Nun? So nachdenklich mit einem Male? War das Verlangen anmaßend? Ist Ihnen nicht wohl? Frettwurst, präsentieren Sie dem gnädigen Fräulein einen Schiffsbranntwein und etwas Zwieback!“

Hilde lächelte. „Falscher Verdacht, mein Herr Wiking, mir könnte auf dem festesten Lande nicht wohler sein! Uebrigens wird mein ‚Fritjof‘ stolz sein auf seinen neuen Herrn.“

Sie strich sich über die Stirn. Der Sonnenschein des Augenblicks hatte den Schatten der Erinnerung wieder verscheucht. Und schon stand auch Frettwurst vor ihr, bescheiden auf das kleine „Katteker“ herunterschmunzelnd und geschickt in dem jetzt sehr unruhigen Fahrzeug das Gleichgewicht bewahrend. Auf der silbernen Tablette stand eine zierliche Flasche nebst zwei Gläschen und einem Teller mit feinem Gebäck.

Herbert schenkte ein. „Prüfen Sie erst, ab es Ihnen auch schmeckt, Fräulein Hilde!“

Hilde tat es zögernd; aber das Getränk mundete. „Das soll ,Branntwein‘ sein, Herr Wiking? Seit wann sind die Herren Seeleute denn so für das Süße?“

„Seit sie solche süße Gäste mit sich führen dürfen. Also – auf gute Kameradschaft, glückliche Heimkehr und frohe Zukunftsfahrt!“

Sie stießen an und schauten sich dabei tief in die Angen.

Frettwurst blinzelte scheinbar geradeaus, dachte jedoch das Seinige, und sein vorzügliches Mienenspiel hatte für ihn den Erfolg, daß Herbert ihm zurief: „Sie können sich auch einen genehmigen, Frettwurst! Aber von dem richtigen!“ –

In solcher Unterhaltung ging die Fahrt unaufhaltsam vorwärts. Das Meer war unruhiger geworden, die „Bachstelze“ lag gehörig schief, das Wasser schäumte über Bord und das Großsegel war bis oben hin benetzt. Jeden Augenblick bäumte das Boot hoch auf, ritt spielend über den Wogenrücken hinweg und schoß, wie um einen Anlauf für den nächsten Berg zu nehmen, mit geneigtem Kopfe thalabwärts. Hilde vermochte sich nicht satt zu sehen an dem Ansturm der grünen weißbehelmten Riesen. Jedesmal, wenn ein besonders drohender, aus der Ferne sich herwälzend, näher und näher kam, paßte sie in freudiger Erregung auf den Augenblick, bis der Gigant zur Stelle war.

„Jetzt!“ rief sie dann. „Nein noch nicht, aber gleich! So –!“

„Da haben wir ihn! Welch ein Bursche! Halten Sie sich fest!“ mahnte Herbert, und mächtig ward die „Bachstelze“ emporgeschleudert, um dann graziös weiter zu tänzeln.

„Wollen Sie einmal steuern, Fräulein Hilde?“

„Wenn ich darf!“

„Kommen Sie her! Wir müssen den Platz wechseln!“ Entzückt saß Hilde jetzt am Ruder. Ihre Händchen hielten mit äußerster Muskelanspannung den Kopf der Steuerpinne fest, während sie mit dem Fuße sich energisch gegen eine Bootsrippe stemmen mußte, um einen Halt gewinnen und dem Druck widerstehen zu können, der gegen das Steuer wirkte.

Herbert hielt sich zu augenblicklichem Eingreifen bereit und genoß in vollen Zügen den Reiz des frischen Bildes. Konnte es etwas Anmuthigeres geben als dieses vor Lust und Muth glühende Mädchen, das wie eine Rose von glänzenden Wassertropfen benetzt war, während die Haare unter dem verwegenen Mützchen wild flatterten und der geschmeidige Körper sich kraftvoll zurückbog?

„Nicht wahr, so leicht ist es gar nicht?“

„Nein, aber noch kann ich’s aushalten!“

„Ein wenig mehr an den Wind steuern – ‚anluven‘ nennt man das! Die Brise wird zu steif. So! Nun geht’s etwas ruhiger.“

In diesem Augenblick brauste eine Küstenjacht hart an der „Bachstelze“ vorüber.

Herbert, der heimlich aufgepaßt hatte, lachte laut über den plötzlichen Schrecken Hildes, welche das Schiff hinter dem Segel nicht gesehen hatte. „Sehen Sie, so entstehen die Zusammenstöße auf dem Meer! Ein richtiger Steuermann muß alles im Auge behalten!“

Rasch, wie sie gekommen war, schwand die Bestürzung des Mädchens. Die grüngestrichene Lastjacht, obgleich gar nicht zierlich, bot einen prächtigen Anblick. Auch ihre röthlichen Segel waren durchnäßt, in Strömen floß das Wasser von ihrem Deck ab, wenn sie die breite Brust hoch aus der See hob.

„Hurra!“ rief Hilde, von Begeisterung hingerissen, indem sie ihr Mützchen nach dem Kauffahrteischiff hinüber schwenkte.

Der kranzbärtige Mann, der, in Südwester und Oelrock eingemummt, am Steuer stand, nahm hiervon keine Notiz, doch aus der Luke schaute eben eine Frau mit einem Kind im Arme hervor, welche freundlich mit dem blonden, von einem zurückflatternden rothen Tuche umhüllten Kopfe nickte.

„Die sind glücklich!“ sagte das junge Mädchen, der Schifferfamilie einen langen Blick nachsendend.

„Wir nicht, Geliebte?“ fragte Herbert leise.

„Wir auch!“

Da senkten sich ihre Augen wieder ineinander.

Und weiter stürmte das Boot! Hilde lernte die Segel voll halten und nach dem schwankenden Kompaß steuern, sie erfuhr, wie man ein Schiff mit Wendung durch den Wind oder bei zu starker See durch weit abführendes „Halsen“ vor den Wind bringe; kurz alle möglichen seemännischen Künste wurden ihr enthüllt, und sie gab sich mit Leib und Seele dem neuen Vergnügen hin. Keine Spur von Seekrankheit trübte ihr die Stunde. Sie vergaß alles, was hinter ihr lag – bis an das Ende der Welt hätte sie so mit dem Geliebten segeln mögen!

Auch Herbert dachte nur an die freudige Gegenwart. Die im Westen aufziehenden, zackig dunklen Wolken und der auffällig springend gewordene Wind störten ihn nicht, da ein schwerer Bleikiel die „Bachstelze“ sehr zuverlässig machte. Nur einmal sah er flüchtig auf die Uhr. „Wann können die Eltern zurück sein?“ fragte er, sich zu Hilde herabbeugend.

„Ungefähr um Mitternacht. Doch muß ich spätestens um Neun zurück sein, Herbert!“

Er nickte. „Es wäre Zeit zum Einnehmen unseres ohnehin verspäteten Fünfuhr-Thees. Hier ist es aber zu ungemüthlich dazu. Wir wollen dort um den Küstenvorsprung gehen, wo ruhiges Wasser ist. Also aufgepaßt!“

Unter locker gegebenem Segel sauste das Boot dahin. Bald war der Vorsprung und hinter ihm eine stille Bucht erreicht. Felder, durch grüne Hecken, Waldflecke und einzelne Ortschaften unterbrochen, lagen in sanfter Steigung malerisch landeinwärts. Hier lachte noch Sonnenschein, die rothen Dächer der Gehöfte in der Nähe des Strandes in warmen Tönen vergoldend.

„So, hier soll’s uns schmecken!“ rief Herbert, und Hilde, die sich bereits eines tüchtigen Appetits erfreute, nickte ihm lachend zu.

Von Thee war nun freilich keine Rede, aber sonst hatte Frettwurst für den Nachmittagsimbiß, zu dem jetzt ein kleiner Tisch [67] gedeckt ward, die verschiedensten Dinge besorgen müssen. Da bemerkte der gute Bursche, daß er eine wichtige Zuthat zu besorgen vergessen habe. Ganz niedergeschmettert nahte er sich seinem Gebieter, die Mütze verlegen durch die Finger gleiten lassend.

„Nun, was hat Ihnen die Petersilie verhagelt, Frettwurst?“

„Ach Herr Leutenant, ich hab’ die Botter vergessen.“

„Die Butter? Das ist mir eine schöne Geschichte! Man kann doch Damen aus dem Butterland kein trockenes Brot anbieten!“

„J, das macht gar nichts!“ erklärte Hilde.

Herbert gab sich aber nicht zufrieden. „Was machen wir nur, Frettwurst?“ fragte er nachdenklich.

„Soll ich flink mit die Jolle an Land fahren und welche von die Bauern ihre holen?“ schlug der Bursche vor.

Herbert sah ihn mit einem billigenden Blicke an. Das war’s, was er gewünscht hatte, einen Anlaß, den Getreuen auf ein halbes Stündchen los zu sein! Trotzdem Hilde dabei beharrte, daß ihretwegen die umständliche Besorgung ganz unnöthig sei, stimmte er seinem Burschen zu. Die „Bachstelze“ näherte sich dem Ufer, soweit es der flache Strand erlaubte, die winzige Jolle wurde ins Wasser gelassen, und unmittelbar darauf ruderte Frettwurst mit kräftigen Riemenschlägen auf den Brandungssaum zu.

So, nun befanden sich die beiden allein. Eiu Kuß hinter dem schützenden Segel leitete diesen netten Zustand ein.

Es dauerte ziemlich lange, bis Frettwurst eine geeignete Landungsstelle gefunden hatte, und langsam begleitete die „Bachstelze“ seine Suche. Als man endlich den Gelandeten auf das nächste, immerhin in ziemlicher Entfernung liegende Gehöft zutraben sah, bemerkte Herbert: „Was meinst Du, mein süßes Herz, sollen wir mittlerweile vor Anker gehen?“

Eine eigenthümliche Scheu, so in der Ruhe mit ihm allein zu sein, überkam Hilde. Sie wünschte eine harmlos ablenkende Thätigkeit. „Darf ich mich nicht lieber hier im stilleren Wasser noch ein bißchen im Kreuzen üben, Herbert?“

„Das könntest Du ja ebensogut zu anderer Zeit. Doch wie Du willst! Nur müssen wir dann wieder eine Strecke hinausfahren. Wir wollen die Taue besser anholen. Also etwas links das Ruder! So ist’s gut! Und hier hast Du auch etwas zum Knabbern dabei, damit Du mir nicht flau wirst!“ Er schob ihr durch die blanken Zähne ein Brödchen, auf das sie zufrieden einbiß.

Sie näherten sich wieder dem Küstenvorsprung, welcher den Seegang abhielt. „Jetzt paß auf, Hilde, wir wollen wenden!“

„Ach bitte, erst noch ein kleines Stück weiter!“

„Aber nicht viel! Merkst Du, wie wir den Wind schon wieder bekommen? Halte gut fest, hörst Du! Oder wart’, ich will Dir’s leichter machen!“

Herbert befestigte eilig einen kleinen Flaschenzug auf den Steuerhandgriff, so daß Hilde mit dessen Hilfe ohne große Mühe das Ruder zu regieren vermochte.

Aber urplötzlich brauste ein tückischer Windstoß einher, erfaßte die Segel und drückte die „Bachstelze“ tief auf die Seite. Der junge Offizier, der gerade eine verdächtige Befestigung des Großsegels geprüft hatte, sprang zurück. „Luv, luv, Hilde!“ schrie er.

Allein Hilde hatte ihre Sache schon zu gut gemacht und statt nur an den Wind zu drehen, schoß das Boot in ihn hinein und verlor vollständig die Fahrt. Von den sprühenden Wellen getroffen, wurde es nun auf und nieder geworfen, während das windgepeitschte Großsegel, den Segelbaum hin und her schleudernd, gewaltig flatterte.

Und von dem Schlagen und Tosen ganz verwirrt, ließ Hilde, ihres Amtes vergessend, das Steuer im Stich.

Eilig bückte sich Herbert, um, unter dem Segelbaum wegkriechend, auf der neuen Windseite an das losgelassene Ruder zu kommen. Im nämlichen Augenblick jedoch erfolgte ein zweiter, noch stürmischerer Windstoß, der schwere Baum holte über und - man hörte es förmlich krachen – traf mit seinem Eisenring den Offizier an die Schläfe. Lautlos stürzte der Getroffene zusammen, und aufschreiend warf sich Hilde über ihn.

Eine Sekunde später krachte oben die Maststenge mit dem Gaffeltopsegel fort, unten verwirrte sich die Leine des Flaschenzuges am Steuer, so daß dieses unbeweglich stand. Und wie ein Roß mit seinem bügellosen Reiter durchgeht, so sauste die „Bachstelze“, einen wilden Schaumschwall aufwühlend und mit dem prallen Großsegel fast auf dem Wasser liegend, rasenden Laufes in das tobende Meer hinaus.

*      *      *

Frettwurst trat vergnügt aus dem Bauernhaus. Er hatte spottbillig prachtvolle Butter eingehandelt und roch wohlgefällig an dem in frische Kohlblätter eingeschlagenen Stück, das er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, indem er bei sich dachte: „Dunnerslag, dat is en annern Kram, as de Stebelsmeer an uns Back![15] Dor ward sick mien Leutenant und sien Fräuln wat över högen!“[16] Jetzt streifte sein Blick zufrieden über die Butter weg in der Richtung der aufwärts stehenden Nase gen Himmel; da – erstaunt, bedenklich blieb das Auge haften, während die Butter sich senkte.

„So wat lewt nich mehr!“ murrte er. „Petrus hett dat ja bannig hild[17] mit hatt. Nu nümm dien Been man in de Hand, mien Jung, süns kann ‚Bachstelze‘ nich mehr tiedig rinner kamen und mag sick hier buten[18] den Schaden besehn!“

Er schlug einen kleinen Galopp an. Daß dabei seine Finger immer tiefere Beulen in das Butterstück drückten, dafür konnte er nichts. Als er aber, aus den Knicks herauskommend, den Strand übersah, wurde er von einer neuen Ueberraschung ganz überwältigt. Wie vom Donner gerührt blieb er auf dem Fleck stehen.

Die „Bachstelze“ befand sich nicht mehr in der Nähe, sondern weit, weit draußen! Den scharfen Augen des Matrosen entging das mehr als sonderbare Manöver, das sie soeben machte, nicht. Statt nach der Regel flott zu wenden, verlor sie die Fahrt, als wenn sie völlig steuerlos geworden wäre. Gleich darauf wurde sie von einer Bö gepackt, die ihr das Gaffeltopsegel wegnahm, sie auf die Seite preßte und offenbar in See verschlug. Ohne ihren schweren Bleikiel hätte sie bereits kentern müssen!

Regungslos, die Augen entsetzt aufgerissen, stand Frettwurst da. Es war rein unmöglich, daß sein Lieutenant ein solches Stück machen, daß dieser selbst die Herrschaft über das Steuerruder haben konnte! Ihm mußte etwas Schlimmes begegnet sein! Wenn er über Bord gefallen wäre – wenn das junge Mädchen allein da draußen segelte – barmherziger Himmel!

Mit einem Blick umfaßte der sonst langsam denkende Mann die Gefahr, welche ihm durch die fernen Zeichen verkündigt wurde. Blitzschnell begriff er, daß sein Herr der raschesten Hilfe bedürfe und daß niemand diese bringen könne außer ihm.

Aber wie sollte er sie bringen? Mit der Spielzeugjolle in die See hinauszugehen, wäre an sich schon ein bedenkliches Unterfangen gewesen – bei dem Wetter, das eben hereinbrach, war es offenbare Tollheit.

Und doch – der treue Bursche sah im Geiste seinen Herrn mit den Wellen ringen und das Fahrzeug mit dem Mädchen umschlagen, und ohne sich eine Sekunde weiter zu besinnen, rannte er, was ihn die Beine trugen, auf seine Jolle zu.

Gleich darauf schoß der „Seelenverkäufer“ wie ein Pfeil durch die Salzfluth, erst nur wenig, dann stärker und stärker sich hebend und senkend, bis er schließlich außerhalb des Landschutzes wie ein Kork von der rauhen See auf und ab geschleudert wurde, wobei jeder Wogemamprall einem Wasserrest in ihm zurückließ.

Längst war Frettwursts Mütze davongeflogen. Die Aermel über die sehnigen Arme zurückgestreift, arbeitete er sich in waghalsiger Entschlossenheit vorwärts, und der Schweiß rann in ganzen Bächen über sein sonnenverbranntes Gesicht.

Von Zeit zu Zeit schaute er sich forschend um, damit er den Kutter im Auge behalte. Doch nur zu bald sah er nichts mehr von dem weißen Segel und gleich darauf auch nichts mehr vom Lande; nur die dunkeln, mit Regen gemischten Böen und Welle auf Welle fegten über ihn weg.

Nun begriff er, daß er nichts mehr retten könne; nichts mehr! Auch sich nicht! Und er gedachte seiner Braut, und ob er nicht ihretwegen die Umkehr versuchen sollte.

Aber was half dies noch? Gegen die höher und höher steigende Brandung anzukommen. war jedenfalls unmöglich, und zudem trieb es ihn vorwärts mit jeder Faser seines treuen Herzens, so hoffnungslos das Beginnen auch war.

Vorwärts, vorwärts in das pfadlose endlose Grauen ließ er sich verschlagen. Doch nicht lange sollte es mehr dauern. Eine mächtige Woge warf sich wie ein Raubthier von hinten auf die Jolle. Im nächsten Augenblick war das kleine Ding, als ob es ein Stier auf die Hörner genommen hätte, emporgehoben und kopfüber in die tobenden Wasser geschleudert.

[78] vorgenommenen Verhören, die zu umfangreichen Schreibereien Anlaß gaben und zwischen denen jedesmal viel Zeit verstrich. Ein Augenzeuge des an der Frau Kunhardt verübten Mordes war nicht vorhanden, der angeschuldigte Magister Tinius leugnete seine Thäterschaft mit Hartnäckigkeit und theilweise mit Geschick, und der Indizienbeweis, den man nun herzustellen suchte, war nur sehr mühsam zu führen. So hat es geschehen können, daß, wie wir hier vorweg nehmen, von der Verhaftung bis zu der entscheidenden Verurtheilung in der zweiten Instanz 10 Jahre vergingen: sie erfolgte erst im Jahre 1823.

Unzweifelhaft war die Verurtheilung des Magisters wegen des Kunhardtschen Mordes ebenso sorgsam erwogen, als sie gerecht war. Gleichwohl ist, zum Theil jedenfalls, weil eben die Verhandlungen auf die Gerichte eines anderen Staates übergingen, mancher Punkt unaufgeklärt geblieben, welchen aufzuklären die heutige Rechtspflege wohl ein Mittel finden würde. So ist z. B. das Vorleben des Magisters Tinius, namentlich im Hinblick auf die Frage, wie und wann er eigentlich zum Verbrecher wurde, nur lückenhaft und nicht in dem Maße aufgehellt worden, wie dies damals doch möglich gewesen sein muß.

Johann Georg Tinius wurde im Jahre 1764 in der Niederlausitz auf einer preußischen Domäne geboren, wo sein Vater Schäfer war. Im Religionsunterricht fiel er dem Prediger durch seine Begabung auf, und dieser verschaffte dem mittellosen Knaben die Möglichkeit, Gymnasium und Universität in Wittenberg, wenn auch unter manchen Entbehrungen, zu besuchen. Tinius war nach Beendigung seiner Studien erst Hauslehrer, erhielt dann eine Lehrerstelle am Gymnasium in Schleusingen, wurde im Jahre 1798 Pfarrer zu Heinrichs in Thüringen und 1809 Pfarrer in Poserna. Die ihm von der Schule und Universität ausgestellten Zeugnisse rühmten die Reinheit seiner Sitten und die Unbescholtenheit seines Wandels, und sein Wirken als Lehrer und Prediger wurde von seinen Vorgesetzten aufs anerkennendste beurtheilt. Sein in Weißenfels wohnhafter Superintendent bezeugte nach der Verhaftung, er habe es nie für möglich gehalten, daß Tinius das Verbrechen habe begehen können, dessen man ihn beschuldige; freilich sei der erste Eindruck, den er von Tinius empfangen, der eines „Adepten“ gewesen, also eines Menschen, der sich mit geheimen Künsten abgebe. Andere wollten eine unheimliche Miene, einen stechenden Blick an ihm wahrgenommen haben; doch kamen diese weniger günstigem Urtheile erst nach der Verhaftung zu Tage. Persönlichen Verkehr hatte Tinius fast nur mit einigen Bekannten gehabt, die in Leipzig wohnten; den Umgang mit seinen geistlichen Standesgenossen hatte er gemieden.

Tinius war zweimal verheirathet und hatte aus den beiden Ehen vier Kinder. Nach Eröffnung des Prozesses ließ die zweite Frau, mit der er nicht glücklich gelebt zu haben scheint, sich von ihm scheiden, und fast gleichzeitig wurde der Konkurs über sein Vermögen eröffnet. Tinius hatte eine große Liebhaberei für Bücher, und nach einer Aeußerung des Superintendenten Rosenmüller in jener Rede bei der Amtsentsetzung ist diese Liebhaberei der Grund dafür gewesen, daß Tinins sich zu Ausgaben hinreißen ließ, welche seine Einnahmen überstiegen und ihn endlich auf die Bahn des Verbrechens drängten. Er hatte eine Bibliothek von 30000, nach anderer Angabe von 80000 Bänden zusammengebracht. Sollte auch nur jene kleinere Zahl die richtige sein, so wäre sie für einen Landpfarrer doch immer noch eine fast ungeheuerliche. Mit Buchhändlern und Antiquaren in der Nähe und Ferne stand er in regem Verkehr. Allerdings behauptete er, daß die Zinsen des ihm von seinen beiden Frauen zugebrachten Vermögens, die reichen Einkünfte der Pfarre zu Poserna und sein sparsames Leben ihm seine Bücherankäufe ermöglicht hätten, aber die Untersuchung seines Vermögensstandes aus Anlaß des Konkurses widerlegte diese Behauptung, Einige kleine Kapitalien hatte er ausstehen, aber größere war er schuldig. Seine zweite Frau konnte von den 10000 Thalern, die sie ihm eingebracht hatte, nur einen kleinen Rest wiederbekommen, und ferner ergab es sich, daß er sich an den Kirchengeldern, welche ihm anvertraut waren, vergriffen hatte. Er wurde auch wegen dieser Unterschlagung zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt. Bei eineln Magister St. in Leipzig, einem Duzfreund von ihm, wurden mehrere von ihm herrührende Briefe aufgefunden, worin er Geldverlegenheiten eingestand und um Hilfe bat. Am 9. Februar 1813, also am Tage nach dem Kunhardtschen Morde, der ihm keinen Raub eingebracht haben konnte, schrieb er an St.: „Schaffe Rath, laß mich nicht ins Unglück stürzen.“

Dieser Magister St. stand überhaupt bei dem Leipziger Gerichte in dem dringenden Verdacht, über die Heimlichkeiten seines Amtsbruders näher unterrichtet zu sein. Man hatte sich auch vorbehalten, ein Verfahren gegen ihn einzuleiten, wenn der Magister Tinius abgeurtheilt sein würde. Aber diese Absicht ist, nachdem Tinius den preußischen Gerichten übergeben worden war, offenbar nicht zur Ausführung gekommen.

Das Verhalten des Magisters Tinius dem Gericht gegenüber zeigt, wie dies übrigens bei Verbrechern häufig der Fall zu sein pflegt, einige Unbegreiflichkeiten. Am 17. Februar 1813, 9 Tage nach dem Morde, meldete ihm sein Freund St. in einem später zu Poserna aufgefundenen Briefe von dem Verdachte, den man in Leipzig gegen Tinius hegte. Dieser hätte also Gelegenheit gehabt, Dinge zu beseitigen, in deren Besitz betroffen zu werden für in mißlich war. Aber weder der Brief noch der oben erwähnte Besuch der Kunhardtschen Dienstmagd, der 8 Tage nach Eintreffen des Briefes stattfand und ihn wohl hätte stutzig machen können, veranlaßten ihn zu Vorsichtsmaßregeln. Das Einzige, was er zu seiner Sicherung that, war, daß er vom Schlitz des blauen Reitmantels die 10 Knöpfe abtrennte, die allerdings ein auffälliges Merkmal bildeten, deren Fortnahme aber die Wiedererkennung des Mantels durch die Zeugen auch nicht hindern konnte. Das Gericht fand diesen Mantel und sogar die 10 abgetrennten Knöpfe noch im Pfarrhause vor.

Das Gericht fand daselbst ferner zwei Hämmer; einer von diesen war am Stiel so gekürzt, daß er bequem in die innere Brusttasche des Mantels gesteckt werden konnte, und die abgeschrägte Seite des Eisens paßte, wie später festgestellt wurde, in die Verletzungen, welche der Schädel der Frau Kunhardt aufwies. Beim Scheidungsprozeß der Tinius’schen Eheleute kam außerdem folgendes zur Sprache: etwa 8 Wochen vor dem Morde ließ Tinius, der eben von einer Reise nach Leipzig zurückgekehrt war, den Mantel, nachdem er ihn ausgezogen hatte, zufällig im Hausflur auf dem Treppengeländer liegen, während er ihn für gewöhnlich selbst an einem bestimmten Nagel in seinem Zimmer aufzuhängen pflegte. Frau Tinius fand den Mantel und brachte ihn an seinen Platz. Dabei entdeckte sie, daß in der Brusttasche ein Hammer steckte. Als sie bald darauf zu häuslichem Gebrauch einen Hammer haben wollte, holte sie den anderen Hammer, den man im Hause hatte und der in der Bibliothek lag; sie äußerte dabei zu ihrem Manne, er könne ihr diesen Hammer lassen, denn er habe ja noch einen anderen in der Tasche des Mantels. Diese Aeußerung hätte den Magister unmöglich aufbringen können, wenn der Hammer in der Tasche nur zu harmlosen Zwecken gedient hätte. So aber wurde er sehr ärgerlich, schalt seine Frau, daß sie alles ausspioniere, und drohte, sie zu schlagen.

[79] Aber nicht an sich dachte sie. Als ihr Taschentuch und seines von dem Blut vollständig durchtränkt war und sie nichts mehr zu einem Verband besaß, riß sie ihr Kleid auf und suchte von ihrem Hemd ein Stück Linnen abzureißen. Allein das Gespinst war zu stark. Entschlossen holte sie ihr kleines Messer hervor, ein paar Schnitte und ein Verbandstreifen war frei! Sorglich wickelte sie ihn um Herberts blutiges Haupt. Dann richtete sie den Geliebten, soweit ihre Kraft reichte, an dem geschütztesten Punkt unter der Bordwand auf und drückte ihr zusammengerolltes wollenes Tuch zur Stütze unter seinen Nacken.

Nun erst besann sie sich auf die ihr als einzigem Führer des Bootes zukommenden Pflichten und nun erst spürte sie die Nässe an den Füßen und die Kälte am offenen Hals. Sie knöpfte das Kleid zu. Das Verständniß ihrer Lage erwachte und damit die Todesangst.

An den Bordrand sich klammernd, starrte sie hinaus in die tobende Fluth. Nirgends ein Schiff, nirgends Rettung! Nur das Jagen der schwarzen Wolken und die brausenden stürzenden Wogen!

Was sollte sie thun? Sie wußte es nicht. Sie wollte das Steuer in die Hand nehmen, doch es stand wie festgenagelt, keinen Zoll brachte sie es aus seiner Lage. Und zu allem Unheil fegte nun auch noch ein Regenschauer herunter. Da glitt sie wieder an die Seite des Geliebten auf den von plätscherndem Wasser bedeckten Boden. Stumm preßte sie ihre kalte Wange an sein blutiges Gesicht. Mochte der Tod kommen, sie war bereit!

Und weiter raste das Fahrzeug mit den beiden Opfern ins Dunkel hinaus.

Doch nach einer Viertelstunde grauenvollen Harrens erwachte die Lust zum Leben aufs neue in Hildes Brust. Sie erinnerte sich des Ortes, an den Frettwurst den Branntwein gestellt hatte. Mit Mühe öffnete sie die Kajüte, in die sie den Geliebten so gern hineingeschleppt hätte, wenn er nicht zu schwer gewesen wäre, und holte die Flasche aus dem Regal.

Soweit es die heftigen Bewegungen des Kutters erlaubten, flößte sie Herbert von dem Getränke ein. Viel war es nicht, aber doch etwas. Dann rieb sie seine Stirn über der Wunde mit dem feurigen Getränk und schließlich nahm sie selber einen Schluck, der ihr in der Kehle brannte, aber ihre Kräfte wundersam belebte.

Eben hatte sie die Flasche, damit das kostbare Gut nicht fortrolle oder zerbreche, sorglich in einer Ecke festgelegt, als es plötzlich ein Krachen und einen starken Knall gab und durch den Rumpf der „Bachstelze“ ein Ruck ging, als sei sie gegen einen Fels gerannt. Hilde sah, wie vorn wüthend ein Segel hin und her schlug, dessen Losreißen die Erschütterung bewirkt haben mußte. Unmittelbar darauf erfolgte ein zweiter, noch heftigerer Knall dicht neben ihr, und dasselbe wilde Schlagen mit dem unteren Theil des Großsegels begann, während es oben straff gespannt blieb. Und sofort richtete sich die „Bachstelze“ erleichtert auf und lag nun ruhiger.

Dafür begann aber das Steuerruder unruhig zu werden, der Kutter drehte sich nach der Windseite und zurück, ein paar gewaltige Sturzseen donnerten auf das Vordeck, dieses völlig im Wasser begrabend, und ergossen sich dann in Strömen hinten in den offenen Bootsraum. Hilde vermochte nicht zu unterscheiden, ob die Gefahr geringer oder größer geworden sei. Das letztere erschien ihr wahrscheinlicher. Doch ihre Gedanken wurden schnell wieder abgelenkt, denn – Herbert regte sich!

Ein stürmisches Gefühl von Hoffnung und Glück durchströmte sie. „Herbert, wach’ auf! Ich bin bei Dir! Nur einmal schau mich an!“

Und der Lieutenant schlug wirklich die Augen auf. Es war schon stark dämmerig geworden, aber Hilde vermochte die theuren Züge noch deutlich zu erkennen. Seine Lippen bewegten sich. „Hilde, ich komme!“ stammelte er, offenbar noch ohne volles Bewußtsein.

Sie griff nach der Flasche. „Rasch, trink, das wird Dir helfen!“

„Ah!!“ Herbert dehnte sich; der Feuertrank wirkte. Dann griff er nach seinem Kopf und stöhnte. „Mein Himmel – was ist denn mit mir passiert? Steuerst Du noch? Wo ist Frettwurst?“

Wind, Wogen und Segel nebst den schlagenden Holzkloben des Tauwerkes machten einen solchen Lärm, daß sie ihr Ohr über seinen Mund neigen mußte, um ihn zu verstehen.

„Frettwurst ist am Lande zurückgeblieben, Du selbst hattest eine Ohnmacht!“

Wieder strömte eine Woge über das Fahrzeug fort; die kalte Fluth, die hereindrang, brachte ihn vollends zur Besinnung.

„Hilde, wo sind wir? Es ist ja dunkel und der Kutter voll Wasser!“

„Wir sind mitten auf dem Meere, Herbert – in Gottes Hand.“

„Auf dem Meere? Du – Du, in solcher Lage!“

„Sie ist nicht mehr schlimm, da Du lebst! Alles andere ist nichts!“

Er richtete sich mühsam auf. Ja, er lebte und sie auch, aber wie lange noch? Mit einem einzigen Blick hatte sein geübtes Auge die Gefahr in ihrer ganzen Schrecklichkeit erfaßt. Von Hilde unterstützt, raffte er sich empor, dann, auf die Steuerbank niedertaumelnd, klammerte er sich mechanisch an, um nicht fortgespült zu werden.

Jetzt erinnerte er sich seines Unfalls und warum Frettwurst fehlte; das übrige erfuhr er durch Hilde. Sie also die ganze Zeit im Angesicht des Todes allein, trotz aller eigenen Qual den Besinnungslosen verbindend, wärmend, rettend! Dieser Gedanke gab ihm seine ganze Willenskraft zurück.

Nachdem er einen Augenblick das herrenlose Fahrzeug gemustert hatte, wußte er, was thun. Mit zitternden Fingern, unter Hildes Beistand machte er das Steuerruder frei, das jetzt weniger Widerstand leistete, und bald gelang es ihm, die „Bachstelze“ vor den Wind zu bringen. Das war eine Wohlthat! Hilde schaute bewundernd auf die Hand des kundigen Meisters.

Leider fühlte sich dieser noch zu schwach, um die Schäden auszubessern; er mußte vorläufig alles hängen lassen, wie es hing. Nur immer geradeaus konnten sie jagen. – Wenn aber die freie See aufhörte, wenn man auf die brandende Küste stieß, die hier überall nahe war – was dann?

Herbert spähte ängstlich voraus in das Dunkel. Noch zeigte sich nichts von Brandung. O daß sie doch weit, weit die offene See vor sich hätten und damit die einzige Möglichkeit, sich bis Tagesanbruch zu halten!

An dem nachtschwarzen Himmel ließ sich kein Stern erblicken, die Kompaßlaterne vermochte er mit den naß gewordenen Streichhölzern nicht anzuzünden – er hatte nicht den leisesten Anhalt, welcher Himmelsrichtung der Kutter folge. Und dabei diese Kälte in den Gliedern, dieses wahnsinnige Brennen im Kopf!

Hilde war neben seinen Knieen niedergesunken und schmiegte sich an ihn; mit vollem Vertrauen suchten ihre Augen die seinigen, während ihr nasser Körper vom Frost geschüttelt wurde. Sie fürchtete sich nicht mehr, nur ihr Körper litt. Und selbst wenn einer der gespenstischen Riesen, die gierig hinter ihnen drein stürzten, sie beide verschlungen haben würde, sie hätte sich nur fester an den Geliebten geklammert, aber lautlos das Ende erlitten.

Durch Herberts glühendes Hirn jagten die Gedanken wie formlos sich zusammenballendes und wieder zerreißendes Gewölk. Was hatte er gethan! Dieses blühende unschuldige Kind dem Tode in die Arme getrieben, in Qualen gestürzt, die, selbst wenn sie gerettet wurde, die Gesundheit des zarten Körpers für immer untergraben könnten! Dann bedachte er sein eigenes Geschick.

Der Tod ist der beständige Begleiter des Seemanns, was liegt daran, ob er früher oder später zugreift! Aber wie hart, all den glänzenden Zukunftsträumen entsagen zu müssen, fast ehe sich nur einer erfüllt – klanglos, ruhmlos hier unterzugehen! Wenn es wenigstens im Krieg, in der Schlacht fürs Vaterland gewesen wäre! – Und seine Eltern! Die Armen! Welche Hoffnungen brachen ihnen nieder, welcher bleierne Schmerz lastete dann über ihrem Alter! Und Hildes Eltern? Wie jäh vernichtet das harmlose Glück, das an ihrem Herde geweilt!

So drängten sich blitzartig seine Vorstellungen, von Hilde ausgehend und bei ihr endigend. Und nun erst sah er, daß sie halb im Wasser liege, daß es unmöglich länger so fortgehen dürfe. Er faßte ihre kalte Hand.

„Hilde, hast Du Kraft genug, Wasser auszuschöpfen?“

„Ja.“

„Hier, unter meinem Sitze, befindet sich ein kleiner Eimer – dort, wo das Thürchen ist. – Ja, da!“

Tastend fand sie das Gesuchte. Sie machte sich ans Werk. Es war schwer, schwer! Zuerst schien ihre Arbeit ganz nutzlos zu sein, so wenig vermochte sie auszugießen, so viel wogte im Raum umher. Doch die Bewegung that ihr besser als das stille Liegen.

[80] Endlich zeigte sich wirklich eine Abnahme im Wasserstand, aber auch ihre Kräfte drohten zu erlahmen. Mühselig fuhr sie mit dem Eimer an den Bootsrippen hin, mühselig hob sie ihn auf den Bordrand, und kaum vermochten ihre froststarren Finger den Bügel noch zu umklammern.

Gab es denn keine Hilfe? Der Branntwein – dort in der Ecke mußte er liegen! Richtig, er war noch da!

Sie gab Herbert davon und trank selbst wieder; neue Kraft und neuer Lebensmuth ergossen sich durch ihren Körper. Herbert sagte ihr, wo sie etwas Zwieback und Fleisch finden könne – mit den kalten salzigen Fingern wurde es hastig zum Munde geführt, und auch das verfehlte seine Wirkung nicht. Sie vermochte nun das Wasser vollends über Bord zu schaffen, während Herbert sich kräftig genug fühlte, aufzustehen. Hilde hielt das Ruder, indeß er sich nach vorne begab.

Es gelang ihm mit äußerster Anstrengung, das vorn am zersplitterten Klüverbaum hängende Tau- und Segelwerk wegzuschlagen, ein Reservesegel als Nothklüver zu befestigen, sowie schließlich das Großsegel zu kürzen und leidlich steif zu setzen.

So rasch er diese Arbeiten am lichten Tage bei ungeschwächter Kraft vollzogen hätte – jetzt nahmen sie fast Stunden in Anspruch. Stumm saß Hilde während dieser Zeit am Ruder, es so drehend, wie ihr befohlen wurde.

Nach gethaner Arbeit begab sich Herbert, trotz der Kälte schweißtriefend, zu ihrer Ablösung nach hinten; sorglich hüllte er sie in Frettwursts Jakett, das er eben glücklich im Vorluk verstaut gefunden hatte.

Und nun ein wilder Augenblick, der des Beidrehens, das bei der Strandungsgefahr sich nicht länger verzögern ließ. Aber die Segelreparatur bewährte sich; wohl stürzten ein paar rauhe Brecher während des Anluvens über die „Bachstelze“ weg, dann jedoch ritt sie verhältnißmäßig ruhig auf den gewaltigen Seen.

Als die neue Lage stetig geworden war, nahm Herbert beim Steuern Hilde in seinen Arm. Er küßte ihre eisigen Lippen und sprach ihr Trost zu, und ihre Arme um ihn schlingend, schloß sie die Augen. Ihre Kraft war zu Ende, sie meinte, nun komme der Tod. Aber es war nur die erlösende Vergessenheit des Schlummers, welche sie umfing.

Der orkanartige Wind ließ noch immer nicht nach; wilder und wilder heulte er daher. Herberts gefaßtes Wesen entsprang mehr dem Bewußtsein, gethan zu haben, was er konnte, als der Hoffnung auf Rettung.

Glücklicherweise hatte er noch mehr Branntwein gefunden. Er trank viel davon, sonst wäre es ihm unmöglich gewesen, nach der heißen Arbeit, in dünnen nassen Kleidern der Kälte und dem Sturme ausgesetzt, das stundenlange Stillsitzen zu ertragen. Sein Herz hämmerte, und in der Wunde stach es schmerzhaft. Hildes Nähe war ihm köstlich, allein er fühlte, wie sie im Schlafe gleich Espenlaub bebte. Er band das Ruder einen Augenblick fest und untersuchte den kleinen Kajütenraum. Zu seiner freudigen Ueberraschung war dieser leidlich trocken geblieben. Nachdem er die Polster zu einem engen notdürftigen Lager zusammengeschoben hatte, trug er das Mädchen, das nur halb erwachte, hinein. Eilig eilig mußte er sein, da das Ruder seine Hand gebieterisch forderte.

Als er Hilde sanft niedergelegt hatte, eine Sekunde noch neben ihr knieend, schlang sie müde und halb bewußtlos ihren Arm um ihn. Sachte schob er ihn von sich ab und kroch zurück an das Steuer.

Regungslos saß er dort allein. Stunden vergingen. Ihm schien es, als sei er gestorben, als sei seine Seele dazu verdammt, durch ewige Finsterniß, durch endlose Räume so hinzujagen, vor sich den Sarg mit den Gebeinen der einst Geliebten.

Endlich, endlich verwandelte sich die Nacht in ein fahles Grau. Er erkannte die Kompaßstriche und wußte jetzt, woher der Wind kam, in welcher Richtung der Kutter trieb. Es war so, wie er es sich gedacht hatte.

Immer weiter vermochte er über die dunkelbrausende Fläche fortzublicken. An einer Stelle röthete sich der Himmel – die Sonne ging auf! Doch blieb sie durch die Wolken verdeckt, nur ein kaltes graues Zwielicht brachte sie hervor.

Dort die niedrige Nebelbank, auf die er sich zubewegte – war das Land? Und welches? O, wenn er dort in stilles Wasser gelangen, landen könnte! Oder lauerte da die Brandung?

Ueber Erwarten schnell bestätigte sich die Landnähe. Im trüben Dunst vermochte Herbert durch sein Glas ein ihm fremdes Hügelgelände mit Feldern, Wald und einzelnen Häusern zu erkennen. Nirgends ein Leuchtthurm oder sonst ein Merkzeichen, aber hier – ein endloser weißer Streifen – die Brandung!

Umsonst die Hoffnung und die höchste Gefahr im Verzuge! Nun galt es, so rasch als möglich durch den Wind zu gehen! Segel wegzunehmen war nicht mehr möglich; es kam allein darauf an, ob die „Bachstelze“ und ihr Mast das Wagniß aushalten würden.

Herbert warf einen kurzen wüthenden Blick auf die Küste, einen langen bangen auf die geschlossene Kajüte, dann begann er, die Zähne zusammenbeißend, das Manöver.

Das gab einen Tanz! Die von unsichtbarer Riesenfaust niedergedrückte Takelage krachte, das Fahrzeug bebte in allen Fugen, wenn es, im verzweifelten Ringen sich Bahn brechend, die Wogen aufs Haupt schlug, alles um sich her in Gischt verwandelnd.

Durch das plötzliche heftige Arbeiten des Bootes wurde Hilde geweckt. In ihrem Kopfe toste es; sie begriff nicht, in welcher Lage sie sich befand, nur daß diese schrecklich sein müsse, ahnte ihr. Nach und nach fand sie sich zurecht, und nun wollte sie keine Minute länger liegen bleiben – sie mußte zu ihm!

Mühsam raffte sie ihre steifen zerschlagenen, von den nassen Gewändern wie in einen Panzer geschnürten Glieder auf, stieß die Thüre zurück und kroch hinaus. Aber kaum hatte sie den Kopf über Bordhöhe erhoben – noch ehe sie Herberts dringenden Ruf, zu bleiben, verstanden hatte – war sie in einem brausenden Wasserschwall förmlich begraben. Eine mächtige, über das Kajütendeck schwemmende Woge schickte ihr diesen Morgengruß. Halb erstickt ward sie durch die nächste Bewegung zu Herberts Füßen niedergeschleudert.

Zu seiner Qual war es ihm unmöglich, ihr beizuspringen. Er hatte vollauf zu thun, mit äußerster Kraft Kurs zu halten.

„Hilde, ich beschwöre Dich, geh’ hinein!“ rief er. „Du kannst hier nichts nützen und setzest Dein Leben aufs Spiel!“

Sie schüttelte den Kopf. Erschien auch alles ringsum noch so fürchterlich, sie sah doch das Licht des Tages, sie sah ihn! Lieber hier in Nässe und Tod als einsam drinnen in dem dumpfen grabartigen Raum!

„Bitte, laß mich!“ flehte sie.

Da er ihr schon zu Willen sein mußte, begnügte er sich damit, sie sich so niederducken zu lassen, daß die wilde See sie nicht leicht über Bord spülen konnte.

„Hast Du geschlafen, Kind?“

„Ja. Aber Du nicht! – O, wie entsetzlich ist das alles! Wo sind wir denn?“

Er zuckte die Achseln. Doch um sie zu trösten, sagte er: „Nicht weit vom Land! Ich hoffe, wir finden einen Hafen.“

„Wo, wo ist Land?“ Erregt hob sie den Kopf über den Bordrand. „O, wir sind ja schon ganz nahe, Geliebter! Der Himmel sei gepriesen! Aber warum fahren wir davon weg, statt darauf zu?“

Herbert warf einen grauenerfüllten Blick zur Küste hinüber. Ganz nahe – wahrhaftig, sie hatte recht! Und das trotz der unerhörten Anstrengung, frei zu kommen! Eine starke Strömung mußte auf das Land zu setzen, sonst blieb die Verringerung der Entfernung unerklärlich. Dennoch zwang er sich, mit möglichster Ruhe zu antworten. „Weil wir hier nicht landen können, Hilde. Sieh ’mal, das Land macht dort vorn einen Bogen, um den müssen wir herum! Seitwärts und rückwärts umschließt uns überall der weiße Streifen. Nichts als Brandung, soweit man sieht!“

Hilde schaute ihn eine Sekunde starr und aufmerksam an, dann sagte sie merkwürdig gelassen: „Du glaubst also, daß wir doch sterben müssen, Herbert?“

Er schwieg.

Sie umklammerte seine Knie. „Herbert, ich sterbe gern mit Dir! Ich meine, wir haben schon zu viel gelitten. Wenn es nur aus wäre, so oder so! Mehr dürfen wir nicht wünschen.“

Er schüttelte die Weichmüthigkeit, die ihn ankam, von sich ab; fast rauh kam es ihm aus der Kehle: „In Gottes Namen ja, Hilde! Wir wollen unser gemeinschaftliches Ende mit Festigkeit ertragen, wenn es uns nicht erspart werden soll. Nur“ – seine Stimme zitterte – „daß Du – daß ich, ich, Dein Mörder –“

[82] „Herbert, sprich nicht so!“ schrie das Mädchen auf. „Ich habe gefehlt wie Du! Ich bin freiwillig gekommen und gehe ohne Deine Schuld zu Grunde!“

Stumm preßte er ihre Hand. „Nein, nein, Hilde, ich allein bin der Schuldige! Aber alle Hoffnung gebe ich noch nicht auf. Ich will jetzt das Aeußerste dransetzen, damit wir freikommen. Hilft auch das nicht mehr, so wollen wir wenigstens versuchen, uns durch die Brandung auf den Strand werfen zu lassen. Vielleicht haben wir dann noch Aussicht, uns durch Schwimmen zu retten. – Nimm die Korkboje zu Dir!“

Sturm und Strömung standen gerade in die Bucht hinein, in die man gerathen war. An das Gelingen einer Wendung durch den Wind war nicht mehr zu denken. Es blieb nur noch übrig, von einer anderen Seite an den Wind zu kommen, zu „halsen“, und dabei die Zurüstung zum letzten Kampf zu treffen. Das bißchen Seeraum, das noch verfügbar war, mußte zu diesem Zweck geopfert werden.

Herbert halste also und benutzte die kurze Zeit der ruhigen Fahrt, um sämmtliche Verkürzungen aus dem Großsegel herauszubringen und dessen volle Segelfläche tollkühn zu entfalten.

Mit beängstigender Geschwindigkeit hatte sich die „Bachstelze“ in dieser geringen Zeit der Küste genähert; deutlich erkannte man das Wüthen der weißen Brandung erst auf den äußeren, dann auf den inneren Bänken, und schon glaubte man ihr Toben durch den Sturm hindurch zu vernehmen. Und jetzt ging das Boot unter dem verwegenen Segeldruck abermals an den Wind. Alle seine früheren Kämpfe schienen gegen diesen ein Kinderspiel zu sein. Von der ungeheueren Pressung niedergestampft, wühlte es sich mit dem ganzen Vordeck in die See. Hoch über die Mastspitze schlugen die Wellenberge hinaus, um dann mit Riesenwucht über die beiden Menschenkinder wegzurollen, als ob das Fahrzeug sich nicht mehr im freien Wasser, sondern schon mitten drin in der Brandung befinde.

Jeden Augenblick konnte alles brechen, konnten Mast und Menschen über Bord gehen, jede Sekunde schien die „Bachstelze“ sich mühseliger aus der Umklammerung der Wasserkolosse emporzuarbeiten, jede Sekunde lag sie zum Kentern.

Mit eisiger Entschlossenheit, die Zähne zusammengebissen, daß die Muskeln wie Erz in dem bleichen Gesicht hervortraten, stützte Herbert, ohne einen Zoll zu weichen, mit der Kraft der Verzweiflung das Ruder. Hilde hatte er an sich festgebunden. Halb von Sinnen hing sie bis zum Hals im Wasser, krampfhaft sich an Herbert und die Boje ankrallend.

Herbert war jetzt nur Seemann, Seemann bis in die letzte Faser seines Wesens. Wie lange dieses Ringen Brust an Brust mit den Mächten der dunklen Tiefe währte, wußte er nicht, aber aus seinem Auge, das in düsterer Kampfesfreude leuchtete, schoß endlich ein Strahl des Triumphes. Die Entfernung von der Küste vergrößerte sich!

Und nun brach die Sonne strichweise aus den Wolken. Röthlich fiel ihr Glanz auf das weißfunkelnde tobende Wogenfeld, auf das schaumbegrabene, immer und immer wieder um sein Dasein ringende Fahrzeug, auf den entschlossenen Helden am Steuer und das ohnmächtige, bleiche Mädchen zu seinen Füßen.

*      *      *

Das war eine schlimme Nacht für das Schulhaus gewesen!

Herr und Frau Jaspersen waren gegen zwölf Uhr heimgekehrt, ungeachtet des Unwetters in bester Stimmung; wiederholt hatten sie bei ihrer Wagenfahrt mitleidigen Herzens den Wunsch ausgesprochen, daß ein gütiges Geschick die Schiffer, die in dieser Nacht auf offenem Meer dem Sturme trotzen mußten, gnädig schützen möge. Als ihnen aber zu Hause Trina als leibhaftiges Bild des Jammers entgegentrat und sie erfuhren, daß Hilde sich entfernt habe und noch nicht zurück sei, befiel die Eltern eine namenlose Angst.

Weinend gestand das Mädchen, was sie von der heimlichen Verlobung der beiden wußte. Frau Jaspersen, noch in Hut und Mantel, hatte sich verzweifelnd auf einen Stuhl geworfen. Ihr Gewissen war nicht frei. Größer als die Schuld des schlecht behüteten Kindes erhob sich vor ihrer Seele die eigene. Warum hatte sie Trinas Warnung nicht besser beachtet!

Und der Schulmeister stand aufrecht und bleich mitten im Zimmer und nagte wortlos an seinen Lippen. Daß Hilde sich in Gesellschaft Gebhardts entfernt habe, um eine Wasserpartie zu machen, war nicht zu bezweifeln. Im übrigen liefen seine Vermuthungen wirr durcheinander, sie gipfelten aber alle in den schlimmsten Befürchtungen wegen des wirklichen oder moralischen Schiffbruchs seiner Tochter. Eines erschien so entsetzlich, so undenkbar wie das andere. Schließlich klammerte er sich an den Gedanken, daß die beiden vor dem hereinbrechenden Sturm einen Zufluchtsort hätten aufsuchen müssen. Und doch, selbst wenn dem so war, blieb nicht die trübe unglaubliche Thatsache bestehen, daß sich Hilde heimlich mit dem Offizier entfernt hatte? Was sollte aus ihrer Zukunft werden, auch wenn ihr Leben gerettet wäre! Wenn Gebhardt wirklich daran gedacht, das Mädchen zu heirathen, wie Trina aus seinem Munde versicherte, dann hätte er doch vor einer derartigen Bloßstellung seiner künftigen Gattin zurückschrecken müssen!

Niemand konnte sich entschließen, zu Bett zu gehen. Die Lampe brannte die ganze Nacht hindurch, und trotz des Windes blieben Haus- und Stubenthüre auf, als ob die Vermißte jede Minute eintreten und ihr jedes Hinderniß aus dem Weg geräumt werden sollte. Von Zeit zu Zeit lief der Lehrer barhäuptig in die Finsterniß hinaus und lauschte angstvoll in die Nacht. Aber er hörte nur das Heulen des Sturmes.

Nichts war entsetzlicher als die Unthätigkeit, zu der man verdammt war. Denn was hätte es genutzt, Lärm zu schlagen? Wo sollte man sich erkundigen, ohne die Ehre der Tochter sogleich in schlimmes Licht zu stellen?

Ja, die Nacht war furchtbar, aber endlich, endlich graute der Morgen, und mit seinem Kommen erlahmte der Sturm. Mit dem frühesten Hafendampfer begab sich Herr Jaspersen nach der Stadt und sofort an Bord der „Preußen“, wo er erfuhr, das Lieutenant Gebhardt mit seinem Kutter in See gegangen, aber nicht zurückgekehrt sei. Auf Befehl des Stationschefs sei das Kanonenboot „Falke“ noch in der Nacht zur Hilfeleistung nachgeschickt worden und die Signalstation des Außenforts habe soeben das Insichtkommen des „Falken“ ohne die „Bachstelze“ gemeldet.

Bis ins Innerste erschüttert, kaum imstande, vor der fremden Umgebung seinen Schmerz zu verbergen, vernahm der Schulmeister diese Kunde. Er stieg in ein Segelboot, um dem „Falken“ entgegenzufahren. Welche Nachricht würde er seiner Frau zu bringen haben! Seine Augen mit der Hand bedeckend, stöhnte er tief auf und murmelte: „Mein Kind, mein Kind, warum hast Du mir das gethan!“

*      *      *

Die Sonne hatte den unglücklichen Insassen der „Bachstelze“ Licht, aber nur wenig Hoffnung gebracht. Herberts Kräfte waren erschöpft; die Befreiung aus der entsetzlichen Lage mußte bald erfolgen, sollte sie nicht zu spät kommen.

Da erkannte Herbert plötzlich über dem Horizont etwas Herrliches: eine Rauchwolke. Heiß fluthete die Hoffnung durch seine Brust. „Ach, nur so lange, bis der Retter heran ist, nur so lange halte noch aus, ‚Bachstelze‘, brave, brave ‚Bachstelze‘!“

Schlanke Masten tauchten auf und ein Schornstein. Hurra, das war ein Kriegsschiff! Jeder Blutstropfen drängte dem Manne zum Herzen. Selbst dem Fahrzeug schien der ermattende Löwentrotz neu belebt zu sein; es schüttelte die Wassermassen siegreich ab, es strebte vorwärts, vorwärts.

„Hurra, Hilde, der ‚Falke‘!“ schrie Herbert auf „Der ‚Falke‘, der ‚Falke‘!“

Aufs heftigste erregt war er vom Sitze emporgesprungen. Seine Augen leuchteten vor Entzücken, wild schwenkte er die nasse verdrückte Mütze, an welcher der zerrissene Sturmriemen wehte. Dann rüttelte er das ohnmächtige Mädchen an den Schultern, „Hilde, Süße, Liebe! Wach’ auf! Wir sind gerettet – gerettet!“ Das Mädchen öffnete matt die Lider und starrte ihn sinnverwirrt an. Nichts wurde ihr deutlich als die Unendlichkeit der gurgelnden strudelnden Wasser. Die Augen wieder schließend, murmelte sie: „Sterben!“

„Nein, nicht sterben, leben! So sieh doch nur, ein Schiff, der ‚Falke‘ ist bei uns! Dem Himmel sei Dank, in einer halben Stunde bist Du in warmem Neste!“

Nun begriff Hilde. Ein Freudenschimmer flog über ihr Antlitz; zur lauten Aeußerung ihrer Erregung war sie zu schwach geworden. „O, leben – leben mit Dir!“ flüsterte sie kaum hörbar.

[83] Wie gern hätte er ihr etwas Branntwein eingeflößt, sie an seiner Brust erwärmt! Aber er durfte seine Pflicht am Ruder keinen Augenblick versäumen, sonst waren sie noch im Angesicht ihrer Retter verloren. Nur durch ermunternde Rufe konnte er suchen, sie aufrecht zu halten. Allein es schien, als ob sie nichts mehr vernehme. Und mitten in sein Glücksgefühl hinein zuckte der fürchterliche Gedanke: „Wenn sie dennoch stürbe!“ Doch nein, nein – das durfte nicht sein! Das konnte der Himmel nicht wollen, das wäre teuflisch! Also fort mit dem lähmenden Wahnbild und nur an das Werk des Augenblicks gedacht!

Obgleich Herbert bemerkt hatte, daß sein Kutter gesehen worden sei, mußte er sich noch immer beim Winde vorwärts arbeiten, da der „Falke“ nicht näher herankam. Vermuthlich warnten ihn die Karten bei der dem Lande zugehenden Strömung vor weiterem Ansteuern.

Aber auch diese letzte Strecke des schlimmen Wegs wurde endlich zurückgelegt und Herbert vermochte aufzudrehen, während der „Falke“ neben der „Bachstelze“ stoppte.

Kaum viel weniger als der Kutter wurde das ansehnliche Kanonenboot von den Wellen umhergeworfen, Die Segel hatte es fest beschlagen, durch Fortnehmen der Stengen die Masten gekürzt. Der Rauch aus dem gewaltigen Schlot fegte schwarz über die wilde See. In Strömen troff das Wasser vom Rumpfe, wenn dieser sich hob; an den zerbrochenen Krähnen an Steuerbord sah man die Reste eines Seitenbootes hängen, das jedenfalls durch eine schwere Sturzsee zertrümmert worden war.

In Oelzeug vermummt, mit ihren Gläsern die „Bachstelze“ musternd, standen Kommandant und Offiziere oben auf der Brücke und schrieen von Zeit zu Zeit zu dem Kameraden hinüber. Herbert antwortete, allein man konnte sich vor dem Heulen des Windes nicht verstehen.

Eine noch größere Annäherung der beiden Fahrzeuge war unmöglich, da die „Bachstelze“ sonst zusammengedrückt worden wäre, weshalb auch eine Uebernahme der Schiffbrüchigen nicht stattfinden konnte.

Herbert hatte das Großsegel heruntergeworfen, er steuerte nur mit Hilfe des Hochklüvers. Man machte ihm durch Zeichen begreiflich, daß man versuchen werde, ihm eine Leine zuzuwerfen. Flugs machte er das Ruder fest und stolperte nach vorn.

Die Maschine des Kriegsschiffs schlug ein paarmal an, und nun hing der Koloß in furchtbarer Nähe hoch über der „Bachstelze“; über sich sah Herbert die Schraube im Schaum wirbeln. Dann prallte das geworfene Tau gegen seine Brust und mit Gedankenschnelle hatte er es um den Poller geringelt. Ein Ruck – die erste Gefahr war vorüber!

Aber wenn das Tau jetzt zerrisse! Es spannte sich, daß die Spiralen stellenweise sprangen und die Fasern abstanden – nur eine Sekunde noch konnte es halten, wenn es stramm blieb.

Athemlos, überströmt vom Wasser, wartete Herbert auf das Unheil. Da lockerte sich das Tau! Rechtzeitig war an Deck ein Stück nachgelassen worden, rechtzeitig hatte das Kanonenboot gestoppt.

Nun gab man Herbert ein Zeichen, daß er die Leine einziehen solle. Er tat es; bald tauchte aus der See das Ende eines viel dickeren Taues, das an der Leine befestigt war. Es wog schwer; Herberts Hände zitterten vor Ueberanstrengung, als er versuchte, das ungefüge schlüpfrige Ding an Stelle der dünnen Leine um den Poller zu legen.

Endlich war auch dies vollbracht. Er winkte, anzuziehen. Langsam schlug die Schraube vorwärts, das dicke Tau ward steif, und heftig stampfend arbeitete sich der „Falke“ seewärts mit der ins Schlepptau genommenen „Bachstelze“, die alle Verbeugungen ihres großen Gefährten aufs tollste nachahmte.

Ganz befriedigend war die Lage noch immer nicht, besonders seit das Kanonenboot quer zur Wellenrichtung dampfen mußte. Mit ungeheuerem Schwall stürzte dann und wann die See über das kleinere Fahrzeug fort.

Allein sobald der „Falke“ die Inselspitze, um die Herbert sein Fahrzeug hatte herumpressen wollen, hinter sich hatte, hörten die schlimmsten Brecher auf, und nachdem man weiter unter Land noch besseren Schutz gefunden, konnte man daran denken, die „Bachstelze“ an die Längsseite zu holen und ihre unglücklichen Insassen an Deck zu bringen.

Mit Vorsicht geschah es. Hundert hilfreiche Hände unterstützten das Manöver; mehrere Kameraden sprangen in ihrem Eifer unter Lebensgefahr auf die „Bachstelze“ hinüber.

„Herbert, alter Junge!“ – „Gott sei Dank, Gebhardt, daß wir Sie noch gefischt haben!“ – „Himmel, wie sehen Sie aus! So recht – stützen Sie sich!“ So schallte es durcheinander.

Herbert war zu sehr ergriffen, um reden zu können. Stumm erwiderte er den kräftigen Händedruck und die Umarmungen der Kameraden; dann wies er auf das wie eine Tote daliegende Mädchen. „Ums Himmels willen, rasch an Deck mit ihr! Den Doktor!“ stieß er mühsam hervor.

Auch mit seiner Kraft war es vorbei. Mehr geschleppt als gehend, wurde er hinter Hilde, welche ein stämmiger Kamerad allein auf dem Arm trug, über das Fallreep befördert und vom Kommandanten aufs herzlichste in Empfang genommen. „Rasch zu mir hinunter!“ rief dieser. „Kommen Sie, kommen Sie, Gebhardt! Ich bin unsäglich glücklich, daß ich Sie gefunden habe. Kommen Sie auch, Doktor! Die Dame soll in meine Kabine. Das arme Ding! Hoffentlich wird sie sich bald erholen!“

Herbert raffte sich einen Augenblick auf. „Dank, dank, Herr Kapitän!“ stammelte er, und dann sich an den Arzt wendend, brach er mit dem Ruf zusammen: „Retten Sie sie, retten Sie sie, Doktor! Es ist – meine Braut!“

[94]
4.

Herr Jaspersen erreichte den „Falken“, als dieser schon innerhalb des Hafens war, und ging, so rasch es sich thun ließ, an Bord. Während der Fahrt zum Landungsplatz saß er bleich und still neben dem Lager seiner Tochter, deren Ohnmacht immer noch nicht weichen wollte. Einer der Offiziere, bewegt von diesem wortlosen Schmerze, leistete ihm Gesellschaft und berichtete über die Ereignisse der letzten Stunden. Die „Bachstelze“ sei mit einer Wache unter dem Schutze der Insel zurückgeblieben und könne von dort aus bei dem guten Wetter, das sich ankündige, leicht in den Heimathhafen gelangen; Lieutenant Gebhardt liege in bleiernem Schlafe, scheine aber ernstlichen Schaden nicht genommen zu haben, was ja nach Aussage des Arztes auch von dem Fräulein zu hoffen sei. Nur über Frettwurst, den Burschen des Lieutenants, fehle jede Nachricht.

Theilnahmlos hörte der Lehrer zu; er wartete mit verzehrender Ungeduld auf den Augenblick der Landung, und kaum hatte der „Falke“ Anker geworfen, so ließ er seine Tochter ans Land schaffen, um sie unverzüglich in den Schutz des elterlichen Hauses zurückzubringen, dem sie sich zu so unglücklicher Stunde entzogen. Gebhardt hatte er auch jetzt nicht gesehen.

Einige Tage vergingen.

Herbert hatte sich leidlich erholt, und auch über Hildes Befinden hörte man befriedigende Nachrichten, Aber das Leid um das Schicksal des treuen Frettwurst, die Verwirrung, in welche er seine und Hildes Zukunft gestürzt, die Besorgniß, wie man ihn im Schulhaus empfangen werde, das alles lastete schwer auf dem Gemüth des Offiziers.

Er hatte wohl gemerkt, wie man im Kreise seiner Kameraden, trotz aller Theilnahme für das junge Mädchen, seine Verlobung nicht als ernsthaft gemeint auffaßte. Es fielen darüber keine greifbaren Aeußerungen, gegen die er hätte Verwahrung einlegen können, sondern was ihn nadelfein und nadelscharf verletzte, das war eine halb gutmüthige, halb frivole Aeußerung, die zwischen den Worten lesen ließ, ein zweifelnder Blick oder ein überlegenes Zucken um den Mund. Er gab es von Anfang an auf, dagegen anzukämpfen. Mochten sie denken und reden, was sie wollten – was er selbst zu thun hatte, stand ihm unverrückbar vor Augen!

Herbert war immer noch dienstunfähig, als ihm der Stationschef, ein aristokratischer Herr mit blank poliertem Schädel und wallendem Blondbart, einen Besuch an Bord machte, denn die Excellenz hielt ganz besondere Stücke auf den tüchtigen jungen Offizier.

Nachdem Herbert seinen innigen Dank für die Hilfe des „Falken“ abgestattet hatte, fragte ihn der Chef vertraulich nach der kühnen Sportsfreundin, die in der Schreckensnacht an seiner Seite gewesen sei, und ob das Gerücht, daß er sich mit dem Mädchen verlobt habe, auf Wahrheit beruhe; hoffentlich sei das alles leeres Geschwätz.

Erröthend, aber bestimmt gab der Lieutenant Auskunft. Lediglich durch seinen eigenen Leichtsinn sei das Fräulein bloßgestellt worden. Gerade deshalb müsse er durch seine Verlobung den Leuten das Recht nehmen, sich verletzend über die Dame zu äußern, die ihm durch die Ereignisse jener unheilvollen Fahrt nur noch theurer geworden sei. Freilich habe er noch nicht förmlich um ihre Hand angehalten, wolle sich aber unverzüglich die Zustimmung der Eltern erbitten.

Der Chef schüttelte den Kopf.

„Aber mein lieber Gebhardt, Sie müssen sich doch sagen, daß Sie als aktiver Offizier die Tochter eines Dorfschullehrers, noch dazu eines hier ansässigen, unbedingt nicht ehelichen können.“

In Herberts noch tief erregter Seele flammte es auf. „Wenn dem so ist, Excellenz,“ rief er bitter, „so glaube ich in einer Sphäre, in der so engherzige Anschauungen maßgebend sind, überhaupt keinen Raum mehr zu haben. Die Tochter eines Emporkömmlings darf ich heirathen, vorausgesetzt, daß sie reich ist und ihre Familie soviel gesellschaftlichen Schliff besitzt, um nicht gerade Anstoß zu erregen, mag die Dame im übrigen so hohl sein, wie sie will; aber die Tochter eines Lehrers, die Geist und Herz besitzt, deren Vater für die Menschheit zehnmal mehr leistet als so ein Geldmensch – die zu heirathen ist nicht standesgemäß! Eine solche Verwirrung der Begriffe ist ebenso widerspruchsvoll, wie sie meinen Anschauungen über Herzenstakt widerstreitet!“

Glücklicherweise war der Chef, trotz ansgeprägter Standesvorurtheile, ein billig denkender Mann, der, zumal unter so besonderen Umständen, diesen jugendlichen Ausbruch des Unwillens menschlich, nicht dienstlich auffaßte. Beruhigend entgegnete er: „Sie sind leidenschaftlich erregt, Gebhardt, und überdies, wie mir scheint, in einer selbstverschuldeten verwickelten Lage. Ich kann und will daher, was ich eben gehört habe, nicht als Ihr letztes Wort gelten lassen. Ueberlegen Sie sich die Sache reiflich! Unsere sogenannten Vorurtheile mögen in einzelnen Fällen verletzend, sogar ungerecht wirken, allein für das Wohl der Gesamtheit sind sie unbedingt nothwendig. Gemeinsamkeit auch der äußeren Lebensbedingungen – das schweißt ein Corps zusammen. Als Gelehrter oder Künstler mögen Sie nach Ihrer eigenen Façon selig werden, doch als Offizier müssen Sie es verstehen, sich in jeder Beziehung zu uniformieren!“

„Gerade dies widerstrebt mir aber, Excellenz!“

„Gebhardt, nehmen Sie Vernunft an! Es sollte mir um Sie und den Dienst leid thun, wenn sich ein hoffnungsvoller Offizier wegen einer Liebesangelegenheit den Hals bräche! Lassen Sie sich doch nicht fangen! Ihr feiner Ehrbegriff ist falsch dirigiert. Ihre erste Pflicht besteht darin, einen brauchbaren Offizier. wie Sie einer sind. dem Dienst des Königs zu erhalten. Dahin weist Ihr Kompaß!“

Herbert senkte einen Augenblick den Kopf, doch schon in der nächsten Sekunde richtete er ihn wieder stolz empor. „Ich danke für das Wohlwollen, Excellenz, und weiß es zu schätzen. Ich weiß auch, daß viel Wahrheit in Ihren Worten liegt. Indessen, Excellenz irren. Es handelt sich für mich nicht um eine einfache Liebesangelegenheit. Die Liebe beeinflußt wohl mein ganzes Denken – wie könnte ich das leugnen? – aber sie giebt hier [95] trotzdem nicht den Ausschlag. Es handelt sich um meine Menschenpflicht, und diese steht mir höher als jede andere. Wenn Excellenz dies als thöricht verurteilen, muß ich es mir gefallen lassen wie alle übrigen Folgen. Ich hoffe, Excellenz werden nun umsoweniger meinem Abschiedsgesuch etwas in den Weg legen.“

„Den Teufel auch – was ich nur immer kann! Dieses Gesuch wäre einfach überspannt! Bei Ihren gesunden Knochen besitzen Sie ja gar keinen Vorwand dafür.“

Herbert lächelte trübe. „Der Vorwand pflegt sich immer zu finden, Excellenz. Ich würde aber einen solchen verschmähen und unumwunden meine Gründe aussprechen; ich glaube nicht, daß man dann die Genehmigung meiner Verabschiedung irgendwie hintanhalten wird.“

„Na, ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, machen Sie keine Dummheiten, die Sie Ihr ganzes Leben hindurch nicht verdauen würden! Gerade jetzt gehen zu wollen, wo Sie vor einem so wichtigen auszeichnenden Kommando stehen! Also – überlegen Sie die Sache noch einmal!“

„Sie ist überlegt, Excellenz.“

Halb bekümmert, halb ärgerlich erhob sich der Chef und verließ mit einem „Wollen sehen!“ die Offizierskammer. – –

Obgleich Herbert sich noch an allen Gliedern wie zerschlagen fühlte, machte er sich dennoch, sobald er nur einigermaßen seine Bewegungsfähigkeit wieder erlangt hatte, auf den Weg nach dem Stranddorf.

Wohl war er sich bewußt, daß er als Schuldiger, als Bittender zu erscheinen habe, aber ihn ermuthigte auf der anderen Seite das Bewußtsein, eine Sühne mit sich zu bringen, wie sie die Eltern kaum hätten erhoffen können.

Als er in das Schulhaus trat, kam ihm Trina mit dick verschwollenen Augen entgegen.

„Was macht Hilde?“ fragte er erregt.

Trina zuckte finsteren Blickes die Achselm „Noch lebt sie, Herr Leutenant. Sie sollten ihr aberst lieber nich nahe kommen. Was haben Sie uns hier angericht’!“

Herbert antwortete nicht, denn eben erschien die Gestalt des Hausherrn dem er in der nächsten Sekunde gegenüberstand. Er stürzte ihm fassungslos um den Hals.

„Lieber, lieber Herr Jaspersen, verzeihen Sie mir! Ich bin furchtbar leichtsinnig gewesen, aber nicht schlecht! Lassen Sie mich gut machen, was ich gefehlt habe, und geben Sie Ihre väterliche Zustimmung zu dem Schritt, der uns allen wieder frohe Tage verschaffen soll!“

Herr Jaspersen wehrte der Umarmung nicht, aber er blieb ernst und sogar traurig. Er schaute in der Zukunft keine frohen Tage mehr, doch ebensowenig sah er den Hauptschuldigen in dem jungen Manne.

„Kommen Sie zu mir in meine Stube, Herr Lieutenant! Dort können wir ungestört reden. Es ist besser, Sie sehen meine Frau heute nicht; und Hilde, obgleich außer jeder Gefahr, darf noch niemand sprechen.“

Dem Offizier fiel bei dieser Auskunft über das Befinden der Geliebten eine Centnerlast vom Herzen. Drinnen ergriff er die Hand des Lehrers und drückte sie an die Lippen.

„Verehrter Herr Jaspersen, ich wollte keine Minute Zeit verlieren, um Sie über das Wichtigste zu beruhigen, was es für uns beide auf Erden giebt: über Hildes Ehre! Es ist nichts zwischen uns vorgefallen, was nur den leisesten Schatten auf sie fallen ließe!“

Der Lehrer schüttelte den grauen Kopf, als ob er dergleichen auch nicht erwartet hätte, während Herbert tief athmend, aber entschlossen fortfuhr: „Auch der böse Schein nach außen vermag ihr nichts anzuhaben, denn ich bitte Sie hiermit inständig und demüthig: geben Sie mir Ihre Tochter zur Frau!“

Eine bange Pause trat ein. Der Lehrer hielt die Augen gesenkt. Bebend vor Erregung, in qualvoller Spannung schaute Herbert ihn an. Der einfache Mann glaubte wohl noch nicht recht an seinen Antrag!

„Es ist mein heiliger Ernst, Herr Jaspersen!“ rief er dringend. „Sagen Sie nicht ‚Nein‘! O, Sie wissen nicht, wie grenzenlos ich Hilde liebe!“

Der Lehrer hob die klaren Augen und schaute prüfend auf den durch die unerwartete Zurückhaltung äußerst verwirrten jungen Mann. „Ich glaube Ihren Versicherungen, Herr Lieutenant – nur eine Frage: Werden Sie als Marineoffizier meine Tochter heirathen dürfen?“

„Soviel ich weiß, nein! Ich werde meinen Abschied nehmen.“

Herr Jaspersen trat einen Schritt zurück. „Ihren Abschied nehmen? Haben Sie bedacht, was das für Sie heißt?“

„Ich habe es bedacht.“

Schweigend wendete sich der Lehrer ab, und als er sich wieder umkehrte, schimmerte es feucht in seinen blauen Augen. Gleichzeitig aber zeigte sich um seinen Mund ein Zug, der ebensosehr von einem festen Willen wie von innerem Schmerz Kunde gab.

Langsam reichte er Herbert die Hand, indem er sagte: „So sehr ich die Gesinnung ehre, die aus Ihren Worten spricht, Herr Lieutenant, so muß ich doch das große Opfer, das Sie uns, das Sie meinem Kinde bringen wollen, ein für allemal ablehnen.“

Unwillkürlich die Hand zurückziehend, tief betroffen, starrte Herbert auf den Redenden. „Warum, warum?“ stammelte er.

„Warum? Weil auf diesem Wege das nicht erreicht wird, was Sie doch gerade anstreben – das Glück meiner Tochter!“

„Nicht auf diesem Wege? O, Herr Jaspersen, Sie irren sich! Hilde sieht ihr Glück nur bei mir und kann es also nur auf diesem Wege finden. Ganz abgesehen davon, daß ihr guter Ruf. einzig und allein durch unsere Verlobung vor Schaden behütet wird.“

Der Lehrer zog die Augenbrauen zusammen „Auf Hildes guten Ruf hätten Sie früher bedacht sein sollen. Aber lieber diesen Schaden hinnehmen, als ihn durch einen schlimmeren heilen wollen!“

„Ich verstehe Sie nicht, Herr Jaspersen! Hilde wird nicht so denken wie Sie, und Sie haben nicht das Recht, ihren Ruf gegen ihren Willen preiszugeben. Für ihre Ehre, die auch die meinige ist, werde ich in die Schranken treten, selbst wenn der eigene Vater –“

„Gemach, gemach, junger Freund!“ mahnte der Lehrer, seine Hand ausstreckend. Doch Herberts Rede brauste fort:

„Nun ja, selbst Ihnen gegenüber, wenn es sein muß! Warum weisen Sie mich zurück? Glauben Sie vielleicht, daß ich meine Vergangenheit im Leichtsinn abbreche? O, ich versichere Sie, es hat mich einen schweren, sehr schweren Entschluß gekostet, diesem Beruf, an dem mein Herz hängt, zu entsagen! Oder fürchten Sie, daß ich als Verabschiedeter nicht genügend für Hildes Existenz sorgen könnte? Ich bin nicht reich, Herr Jaspersen, allein ein brauchbarer Seemann findet auch auf der Kauffahrteiflotte sein sicheres Auskommen!“

Herbert hatte die letzten Worte mit einer ausdrucksvollen Handbewegung begleitet, jetzt schwieg er in tiefer Spannung.

„So,“ sagte der Lehrer, „ich habe Sie angehört, nun lassen Sie auch mich ausreden! Ich will Ihnen meine Gründe nicht vorenthalten. Den Ernst Ihres Anerbietens unterschätze ich keineswegs. Von den materiellen Verhältnissen will ich gar nicht sprechen, ich halte Sie für einen tüchtigen Mann, bei dem dergleichen keine Sorge zu machen braucht. Was mir aber die Einwilligung unmöglich macht, das sind drei Dinge: mein Stolz, mein Gewissen, die Liebe zu meiner Tochter. – Was Sie aus Leidenschaft und lebhaftem Gerechtigkeitssinn aufgeben wollen, besitzt in Ihren Augen, wie ich aus Ihrer eigenen Aeußerung vorhin schließen darf, eine allzuhohe Bedeutung. Ihr jetziger Beruf mit seinen Aussichten, Ihre Standesbeziehungen sind Ihnen zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen, als daß Sie nicht das Gefühl hätten, mit dem Aufgeben alles dessen ein unverhältnißmäßig großes Opfer zu bringen. Und Ihre Familie, Ihre Kameraden und Vorgesetzten würden wohl dieses Gefühl in erheblich verstärktem Maße theilen und uns einfache Schulmeistersleute in dem Verdacht haben, in niedriger Berechnung das Verhältniß begünstigt zu haben. Dagegen sträubt sich mein Stolz, Herr Lieutenant!“

Der Lehrer hielt einen Augenblick inne. Herbert schaute stumm zu Boden und nagte an seiner Unterlippe.

„Was mein Gewissen einwenden muß und die Liebe zu meiner Tochter,“ fuhr Herr Jaspersen fort, „das werden Sie sich jetzt selber sagen können. Sie sowohl wie Hilde müßten unglücklich werden, wenn Sie ihr die Hand nur unter solchen [98] Opfern reichen dürfen. Sobald der Rausch verflogen wäre, träte die Sehnsucht nach der glänzenderen Vergangenheit, die Enttäuschung an die Stelle. Ich will gerne glauben, mein lieber Herr Gebhardt, daß Sie selbst viel zu edel denken würden, um Hilde dann absichtlich fühlen zu lassen, was Sie alles für sie hingegeben haben, aber Ihr offenes leicht erregbares Wesen könnte seine innersten Gedanken gar nicht verstecken, und Hilde ist viel zu klug, um diese Wandlung nicht sehr bald zu merken, sie ist eine viel zu innerliche Natur, als daß sie nicht in bitterstem Maße darunter leiden würde. Was jetzt an böser Nachrede entsteht, wird wieder verschwinden und bedeutet nur wenig gegenüber jener ganzen unglücklichen Zukunft, die höchst wahrscheinlich kommen müßte, Und darum übernehme ich ruhig die Verantwortung, die aus der Abweisung Ihrer Werbung entsteht.“

„Wahrscheinlich, höchst wahrscheinlich – sagen Sie!“ rief Herbert leidenschaftlich. „Und dieser Wahrscheinlichkeit wegen wollen Sie Hilde und mich mit Gewißheit unglücklich machen? Ich weiß, ich habe Ihnen Anlaß zum Mißtrauen gegeben, und doch täuschen Sie sich in mir, in dem Maß meiner Liebe zu Hilde! Wie wenig bedeutet alles, was ich aufgebe, gegen das herrliche Gut, das ich dafür eintausche!“ Und die Hand des Lehrers ergreifend, bat er innig: „Lieber, lieber Herr Jaspersen! Sie sind doch auch jung gewesen und haben die Macht der Liebe gespürt! Sie müssen Hilde und mir nachempfinden, daß wir nach solchen Ereignissen zusammengehören für alle Zeit. Und lassen Sie auch Ihre Frau reden, hören Sie vor allem Hilde selbst! Ihr steht das Recht der Entscheidung zu!“

Der Lehrer befreite sanft seine Hand. „Wozu erst Hildes Entscheidung anrufen, Herr Lieutenant? Sie ist noch ein Kind und schaut nicht so weit in die Zukunft. Zudem erträgt ihr Befinden keine Aufregung. Stören Sie den Frieden meines Hauses, den Seelenfrieden meiner Tochter nicht mehr – suchen Sie zu vergesse, wie wir vergessen müssen!“

„Niemals!“ rief Herbert, indem er sich hoch aufrichtete; seine Augen blitzten. „Ich fordere die Entscheidung durch Hilde selbst als mein gutes Recht, das ich mir im Angesicht des Todes erkämpft habe!“ So stand er da, eben noch bittend wie ein Kind, jetzt ein stolzer gebietender Mann. Hildes Vater begriff die Leidenschaft seiner Tochter mehr als je, und doch durfte er sich durch das Feuer der Jugend nicht hinreißen lassen, noch weniger freilich ihr gutes Recht mißachten!

„Gut denn, Hilde mag entscheiden,“ sagte er endlich.

„Wann?“

„Sobald sie imstande sein wird, soll Hilde Ihnen schreiben! Bis dahin müssen Sie sich gedulden. Dabei darf ich erwarten, daß Sie in keiner Weise versuchen werden, sich uns vorher wieder zu nähern.“

Jaspersen schwieg, und Herbert sann einige Sekunden nach. „Es sei!“ rief er dann zuversichtlich. „Ueber diese bittere Ungewißheit wird ja auch noch hinwegzukommen sein!“

Bewegt streckte der Lehrer ihm die Hand entgegen. „Dann gehen Sie mit Gott, Herr Gebhardt!“

„Haben Sie Dank, Herr Jaspersen, für das warme Gefühl, das Sie mir zeigten! Zwar hoffte ich diese Schwelle heute anders verlassen zu dürfen, allein ich gebe das Ziel nicht verloren. Grüßen Sie Hilde tausendmal! Und nun – auf frohes Wiedersehen!“

Der Lehrer erwiderte nichts mehr, sondern entließ seinen Besucher mit einem stummen Händedruck.

Vor dem Hause blieb Herbert einen Augenblick stehen; er schaute voll heißer Sehnsucht nach dem Fenster, hinter dem er das Zimmer der Geliebten wußte. Eine ruhige Zuversicht überkam ihn, daß sich alles zum Guten wenden werde. Und dazwischen hinein war es ihm doch wieder, als hätte er sich auf einen herrlichen Sommertag gefreut, und nun sei der Nebel, statt sich zu zertheilen, nur noch dichter vor die Sonne getreten.

*      *      *

Früh schon raffte sich der junge Offizier am nächsten Morgen von seinem Lager auf, während die Kameraden alle noch tief im Schlummer lagen.

Nachdem die erste dringendste Sorge um Hilde beschwichtigt war, ließ ihm das Schicksal seines treuen Burschen keine Ruhe mehr. Er wollte sobald als möglich ans Land gehen und selbst die genauesten Nachforschungen anstellen.

Noch befand er sich beim Ankleiden und ärgerte sich trotz seiner weit abirrenden Gedanken über den Ersatzburschen, der in natürlicher Unbefangenheit die Zahnbürste zwischen die Haarbürsten gelegt hatte, als es plötzlich auf merkwürdig bekannte Art an die Zimmerthür klopfte. Herbert horchte hoch auf.

„Werda?“

„Ich!“

Diese höchst allgemeine Antwort schien im vorliegenden Falle vollständig ausreichend, denn Herbert riß hastig die seitlich verschiebbare Thür nebst der Portiere zurück. „Frettwurst! Mann, wo kommen Sie her?“

Frettwurst bemühte sich, die Arme in steifer dienstlicher Haltung am Leibe festzuhalten, während ihm die dicken Freudenthränen in den Augen standen. „Ich melde mir ganz gehorsamst zurück, Herr Leutenant.“

Den Vorgesetzten vergessend, zog Herbert den Burschen zur Kammer herein, wo er ihm auf die unbeschädigt gebliebenen, breiten Schultern und die wohlerhaltenen Backen klopfte und wieder und wieder seine braunen Fäuste drückte.

„Frettwurst! Alter, lieber Kerl! Wie freue ich mich, daß ich Sie wieder habe! Es hätte mich mein Leben lang gekränkt, wenn Sie treue Seele hätten dran glauben müssen! Aber nun erzählen Sie doch bloß ’mal, was Sie für Fahrten gemacht haben!“

„Blots eine, Herr Leutenant, und die war man kurz, indem ich bald mit die Jolle gekentert bin. Sie ist futsch, Herr Leutenant, und auch die Botter.“

„Also wirklich gekentert!“ rief Herbert, der sich den doppelten Verlust nicht sonderlich zu Herzen zu nehmen schien. „Dachte ich mir’s doch fast, daß Sie tollkühn versucht hätten, die ‚Bachstelze‘ zu erwischen. Aber wie wurden Sie gerettet und wo sind Sie so lange geblieben?“


Frettwurst berichtete. Der arme Bursche hatte namenlos gelitten, schlimmer noch als sein Herr, doch dank seinem eisenfesten Körper mit so gut wie gar keinen Folgen. Stundenlang auf dem Kiel der Jolle reitend, war er zu seinem Heile von der Strömung auf eine Insel in der Nähe des Festlandes zugetrieben worden. Gerade als er, um seinen Qualen ein Ende zu machen; freiwillig in die Tiefe hatte hinabgleiten wollen, war er auf Grund gestoßen und hatte sich mit Verlust der Jolle ans Ufer retten können. Landeinwärts irrend, dem Zusammenbrechen nahe, erreichte er eine Bauernkathe, in der er liebreiche Aufnahme fand. Aber seine völlige Erschöpfung und die ungünstige Verbindung der Insel mit dem Festland hatten es zunächst unmöglich gemacht, der Garnison seine Rettung zu melden.

Als Frettwurst sein Garn fertig gesponnen hatte, erzählte ihm Herbert kurz auch sein und Hildes Abenteuer. Der Bursche wurde sehr gerührt. „Uns Fräuln, uns lütt gnädiges Fräuln,“ rief er, „das wär’ auch Sünd’ und Schad’ um gewesen, wenn sie schon so jung verdrunken wär’! O, Herr Lentenant, ich freu’ mir meist ebenso, ihr wieder zu sehen, als meinen gnädigsten Herrn Leutenant!“

Herbert strich sich erröthend über die Stirn. „Sie werden sie bald sehen, hoffe ich. Uebrigens – haben Sie schon gefrühstückt, Frettwurst?“

„Zu Befehl, Herr Leutenant; an Land!“

„Na, dann können Sie gleich hier den Rock ausbürsten. Ein Glück, daß ich Sie wieder habe! Der Mensch, der Hansen IV, hat schon den größten Unfug unter meinen Sachen angerichtet.“

Mißbilligend glitt der Blick des Matrosen durch die Kammer. In der That, da stand zum Beispiel gleich das Bild von des Herrn Lieutenants Vater links und das von des Herrn Lieutenants Mutter rechts, statt umgekehrt!

Es war entschieden die höchste Zeit gewesen, der Wirthschaft von Hansen IV ein Ziel zu setzen!

In dem Schwunge, mit dem Frettwurst nun den Rock reinigte, spiegelte sich vollendete Wonne. Den „Lieben Augustin“ pfiff er dabei nur innerlich, sonst würde ihn wohl der Stabswachtmeister beim Kragen genommen haben.

[110] Im Zimmer ihres Vaters stand Hilde mit bleichen Wangen. „Und jetzt, mein Kind, darf nicht mehr gezögert werden! Geh’ hinauf in Deine Stube und schreibe, was Du mußt! Die Ansichten Deiner Eltern kennst Du, hast auch Zeit gehabt, sie zu überlegen. Du bist vollständig frei in Deinem Entschluß!“

Minutenlange Stille folgte den Worten des Lehrers. Bekümmert schaute dieser auf die im heftigsten Seelenkampf Ringende. Nichts hätte ihn tiefer ergreifen können, als Zeuge ihrer Qual zu sein und dabei fest bleiben zu müssen.

Die Tochter sah seinen Kummer und stürzte an seine Brust. „Vater, ich will ja verzichten!“ rief sie bebend.

„Nein, nein, nicht so! Thue, was Pflicht und Gewissen Dir sagen!“

„Und meine Liebe,“ ergänzte sie tonlos. „Mich würde ja alle Unsicherheit der Zukunft nicht schrecken, aber ich darf sein Opfer nicht annehmen um seinetwillen!“

Heftig drückte der Lehrer sie an sich. „Zu Deinem Glücke, mein Kind!“

Schmerzlich schüttelte sie den Kopf. „Zur Strafe für meinen Leichtsinn, Papa, zu Euerem Frieden und – zu seinem Heile!“

Dann ging sie und machte sich ans Werk.

Sie stützte das schmerzende Haupt in ihre Hand und starrte auf das weißglänzende Papier, auf die Feder, die schreiben mußte und nicht wollte. Was sollte sie durch diesen Abschiedsbrief alles verlieren! Nie würde sie den Geliebten wiedersehen, nie mehr ihm ins Auge schauen, nie mehr seine Lippen küssen. Einer anderen würde er einst gehören, während sie selbst abseits stehen mußte, dürstend nach dem versagten Glück, fremd und einsam im Leben. Großer Gott, das war unerträglich! Wer durfte verlangen, daß sie solche Qual sich selber auflud! O, warum waren sie nicht in jener grauenvollen Nacht zusammen gestorben!

Doch nein, dieser Wunsch war Sünde! Wie klein, nur an sich zu denken, nicht an ihn! Mußte sie dem Himmel nicht ewig dankbar sein, der dem Geliebten das Leben bewahrt hatte? – Und auch seinem Beruf sollte er erhalten bleiben! O, wie genau erinnerte sie sich noch der ernsten Miene, mit der er damals im Boot von diesem Beruf gesprochen hatte: „Sollte ich ihn einmal aufgeben müssen – ich glaube, nichts in der Welt könnte mich für diesen Verlust entschädigen!“

Entschlossen, aber mit zitternder Hand setzte sie die Feder an und begann zu schreiben:

 „Geliebter!

Zum ersten und zum letzten Mal schreibe ich heute an Dich. Zum letzten Mal, Herbert! Das vermag ich nicht zu fassen, und doch muß es so sein. Ich darf, ich will Dich nicht mehr sehen. Du bist frei, Herbert, hast keine Verpflichtungen gegen mich. Es ist der größte Schmerz meines Lebens, Dir das sagen zu müssen, aber ich handle vollständig freiwillig, dies versichere ich Dir bei allem, was uns theuer ist. Ich weiß jetzt, daß Du als Offizier mich nicht heirathen darfst. Warum? begreife ich zwar nicht, allein es ist einmal so. Daß Du aber um meinetwillen Deinen Beruf aufgiebst und Dein Leben dadurch unglücklich machst, das nehme ich nie und nimmer an, selbst wenn Deine Liebe leugnen möchte, daß darin ein schmerzliches Opfer liege. So lebe denn wohl, Geliebter! Es war ein kurzer, schöner schöner Traum. Wie glücklich hat mich Deine Liebe gemacht, die in jener Schreckensnacht stärker gewesen ist denn der Tod, und wie sehr danke ich Dir für alles!

Noch eine Bitte, Herbert! Erschwere uns die Entscheidung nicht noch mehr! Komm’ nicht wieder hierher, antworte nicht! Es hilft doch nichts – mein Entschluß ist unabänderlich. Und nun leb’ wohl! Wenn es Dir einst gut geht im Leben, dann denke zuweilen, daß mein tägliches Flehen Deinem Glücke gilt und gelten wird bis zu meinem letzten Athemzug.

Deine Hilde.“ 

Tief aufathmend siegelte sie den Brief, sorglich darauf achtend, daß keine der hervorquellenden Thränen auf das Papier falle und [111] das Uebermaß ihres Leidens verrathe. Dann überbrachte sie das Schreiben ihrem Vater, der, selbst aufs tiefste erschüttert, das wankende Mädchen in seine Arme schloß. – – – – – –

Inzwischen hatte Herbert in Begleitung von Frettwurst sein Kommando auf dem „Falken“ antreten müssen. Der Tag der Abreise nach Radegast stand vor der Thür, und noch immer ließ Hildes Antwort auf sich warten. Herbert war außer sich, zumal ihm sein Versprechen dem Vater gegenüber die Hände band.

In dringenden beschwörenden Worten setzte Herbert endlich dem Lehrer seine Lage schriftlich auseinander, und nachdem der Brief abgesandt war, stürzte er sich mit leidenschaftlichem Eifer in seine dienstlichen Obliegenheiten, um die Qual seiner Seele zu übertäuben. So verstrich unter hastiger Arbeit der nächste Tag. Die Stunde des Ankerlichtens näherte sich, und noch stand jede Antwort aus.

Endlich, endlich brachte die letzte Briefordonnanz, die vom Lande kam, auch ein Schreiben an Herbert mit. Seine Hand zitterte, als er es in Empfang nahm und in der Brusttasche barg. Dann gab er mit klarer Stimme beim Ankerlichten, bei dem er Dienst thun mußte, die Kommandos.

Dem Ankermanöver folgte die erste, ihm zufallende Abendwache in See. Auch während dieser Zeit richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die verantwortliche Aufgabe, die er zu erfüllen hatte, aber er glaubte den Brief an seinem Herzen körperlich zu fühlen.

Erst um Mitternacht wurde er abgelöst. Er eilte in seine Kammer, wo er im Schein der in ihren Ringen schwankenden Lampe mit zitternder Hast das Schreiben erbrach, das ihm sein Glück verkündigen sollte. –

„Unmöglich!“

Er las und las, als ob er nicht fassen könne, was er lese. Plötzlich warf er den Brief auf den Tisch, setzte sich auf den Bettrand und starrte finster vor sich hin.

Was war geschehen, was hatte Hilde so verwandelt? Wo blieb ihre leidenschaftliche Hingabe, wo die überwältigende Kraft der Erinnerung an jene Todesfahrt, die ihr Geschick auf ewig an das seine band! Wie konnte sie sich so von ihrem Vater beeinflußen lassen, so geringes Vertrauen zu der Opferfreudigkeit seiner Liebe haben! O, jetzt mochte der König immer seinen Offizier behalten, jetzt würde das Abschiedsgesuch eine Posse sein!

Er sann und sann.

Die Lampe schwankte und das Holz knarrte. Durch den ganzen Rumpf zitterte der gleichmäßige dumpfe Schlag der Schraubenwelle; wenn das Schiff sich neigte, gurgelte das Wasser vor dem runden Kammerfensterchen. Hier und da drang auch das Heulen des Windes in der Takelage herunter, oder ein Kommandoruf, schwerer Laufschritt, das Dröhnen niedergeworfener Taue.

Herbert hörte von alledem nichts, aber der Sturm in seinem Innern begann sich zu legen. Die reine Gestalt Hildes trat vor seine Augen. War das Kleinlichkeit und Selbstsucht, was aus diesen Zügen sprach? Zeigte nicht auch ihr Brief ein Herz voll Demuth, voll Selbstlosigkeit, voll Liebe, voll unbeschreiblich reicher Liebe – ein Herz, das still verbluten wollte für den Freund? Allein das sollte, das durfte nicht sein! Unter keinen Umständen durfte er sich ihrer Bitte fügen!

Er sprang empor und stemmte sich gegen den Tisch. O, wenn er jetzt zu ihr eilen, sich ihr zu Füßen werfen könnte, um ihren Entschluß zu erschüttern! Aber ließ dieser Brief überhaupt noch eine Sinnesänderung erhoffen? War nicht ein Umschwung bloß dann möglich, wenn er selbst Thatsache gegen Thatsache stellte, ohne Rücksicht darauf, daß er dadurch seinen Freunden, seiner Familie doppelt unbegreiflich erscheinen mußte?

Bisher hatte er nur mit Hildes Zusage gerechnet, der Gedanke, daß er auch seinen Abschied nehmen könne und müsse auf ein Nein hin, war ihm überhaupt nicht gekommen. Der Brief öffnete ihm die Augen. Die scheinbare Thorheit, ein Opfer zu bringen, das zurückgewiesen wurde, bildete in Wahrheit die einzige Möglichkeit, die Geliebte doch noch zu erlangen und seine Schuldigkeit ihr gegenüber zu thun. Hatte er sich eine bürgerliche Stellung verschafft, so konnte er, dessen Entschlüsse dann von keiner fremden Rücksicht mehr abhängig waren, vor Hildes Vater treten, ein freier Mann!

Entschlossen setzte er sich an den kleinen Tisch, holte seine Schreibmappe hervor und begann auf wiegender Unterlage sein Abschiedsgesuch zu entwerfen. Wie er seinem Chef vorausgesagt hatte, verschmähte er dabei jeden Vorwand, sondern gab in kurzen Worten als Grund an, er beabsichtige eine Verbindung einzugehen, die als unstandesgemäß gelte.




5.

Der „Falke“ hatte die prächtige Waldecke gefunden, wo die Prinzessin August heute ein Picknick abzuhalten gedachte. Die einsame Stelle war ziemlich weit entfernt von Radegast, und gewöhnliche Sterbliche, denen kein Kriegsdampfer zur Verfügung stand, vermochteu sich den kostspieligen Ausflug selten zu gestatten. Wegen Störungen durch allzu loyale Badegäste konnte man also hier unbesorgt sein.

Die Spätsommersonne meinte es gut; allein die Prinzessin nebst ihren Töchtern und die beiden Damen, die noch von der Partie waren, die Erzieherin und ein Hoffräulein, hatten sich darauf eingerichtet. Alles war in Weiß oder doch in sehr helle Farben gekleidet und schützte sich durch Sonnenschirme und breite Hüte vor den sengenden Strahlen. Nur die zwei jüngsten Prinzessinnen ließen sich ruhig Hals und Aermchen noch brauner brennen, als es in dem bisherigen Strandleben ohnehin schon geschehen war, während die dritte, die älteste, sich diese Naturwüchsigkeit nicht mehr gestatten durfte.

Nachdem der Anker des „Falken“ in der klaren Waldbucht gefallen war, ging die Ausschiffung vor sich, an der sich von Herren die beiden Hofkavaliere sowie der Kommandant des Schiffes und die von Bord abkömmlichen Offiziere betheiligten.

Die für das Lager bestimmten Geräthe und Lebensmittel wurden unter Obhut des Kammerdieners und einiger Matrosen in der Jolle verstaut, die Herrschaften nahmen im Kutter Platz, der unter den kräftigen Ruderschlägen rasch dem Ufer zueilte.

Unter den Offizieren im Kutter befand sich auch Herbert, an dem die Frau Prinzessin ein besonderes Wohlgefallen gefunden zu haben schien, denn sie behandelte ihn bei jeder Gelegenheit als ihren bevorzugten Kavalier. An dieser Gunst nahm in seiner Art der gute Frettwurst theil, der drüben in der Jolle hockte. Seine Riesengestalt, seine Biederkeit, seine komische Sprache erweckten ihm namentlich die Freundschaft der beiden kleinsten Hoheiten, die gar nicht von ihm wegzubringen waren.

Der junge Offizier und sein Bursche durften daher nur in den dringendsten Fällen an Bord zurückgehalten werden, schienen aber trotz dieser Bevorzugung nichts weniger als in gehobener Stimmung zu sein. Herberts Züge vor allem lagen fast immer im Bann eines tiefen Ernstes. Wenn er auch mit Festigkeit in die Zukunft sah, so quälte ihn doch der Schmerz über Hildes Ablehnung und die Aussicht auf eine lange Trennung von ihr. Frettwurst aber konnte nicht recht froh werden angesichts der Trauer, die seinen Herrn erfüllte.

Gerade heute stand Herberts Sinn am wenigsten nach Lustbarkeiten, denn auf sein Gesuch war Antwort eingetroffen und zwar – eine abschlägige! Seine Majestät, hieß es darin, habe sich ausnahmsweise in der Lage gesehen, die Bewilligung hinauszuschieben. Gebhardt möge seinen Entschluß doch noch einmal prüfen; wenn er dann zu keinem anderen Ergebniß komme und sicher sei, den Konsens zur Heirath nicht erbitten zu dürfen, da dieser allerdings nur für eine standesgemäße Ehe in Aussicht gestellt werden könnte, so werde es ihm anheimgegeben, das Gesuch zu wiederholen.

Sonst pflegte man mit jungen Offizieren, die des Dienstes überdrüssig waren, nicht viel Federlesens zu machen. Das Entgegenkommen, das in jener Antwort lag, bewegte Herbert tief, und doch vermochte er seinem Chef, der zweifellos diese Entscheidung bewirkt hatte, nicht dankbar zu sein. Nun war er erst recht in eine schiefe Lage gerathen! Ganz abgesehen davon, daß wohl an die Ertheilung des Konsenses nach wie vor nicht zu denken war, wie ja das Schreiben selbst andeutete – Hildes Brief hatte ihm gar kein Recht gelassen, um den Konsens nachzusuchen! Und so bedeutete die scheinbare Wohlthat für ihn nur eine grausame Verzögerung. Es blieb nichts anderes übrig, als einfach die Bitte um Entlassung zu wiederholen.

Unter solchen peinlichen Erwägungen hatte Herbert sich dem Ausflug anschließen müssen. Er litt unter diesem Zwang, obgleich in der frohen Gesellschaft von der Steifheit des Hoflebens wenig [112] zu merken war. Die Prinzessin neigte ohnehin schon zu bürgerlicher Einfachheit, und dieser Zug machte sich hier auf dem Lande doppelt geltend. Nur die Anreden und die Ehrerbietung von seiten der Begleitung zeugte von dem Rangunterschied innerhalb der munteren Gesellschaft.

Die allgemeine Lustigkeit steigerte sich noch hei der Landung. Denn zwischen Boot und Ufer blieb ein Raum, der durch keine Laufplanke zu überbrücken war. Man mußte also wohl oder übel die Arme der Matrosen oder in weniger ceremoniellen Fällen deren Rücken in Anspruch nehmen. Die Leute vollzogen willig den ebenso leichten als heiteren Dienst, nachdem sie, die Beinkleider hoch hinaufgestreift, in die durchsichtige Fluth gesprungen waren.

„Mama, Mama, dürfen wir auch so ins Wasser gehen?“ flehten die beiden Nesthäkchen von Prinzessinnen und wollten sich schon daran machen, Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Zu ihrer Betrübniß ward ihnen diese Anpassung an die Marine nicht gestattet, und so mußte Frettwurst den Christophorus für sie spielen. Das war auch nicht übel. Auf seinen Schultern saß man unermeßlich hoch, und außerdem ließ er sich’s gerne gefallen, wenn man dabei kräftig sein kurzes Haar zerzauste.

Einen der Hofkavaliere, der wegen seiner Eitelkeit und storchartigen Grandezza überhaupt oft Gegenstand harmloser Scherze war, ließen die heimtückischen Träger vorzeitig niedergleiten. Plötzlich sah sich der Arme mit seinen unzeitgemäßen Lackstiefeln und weißen Steghosen mitten in einet zurückrollenden Welle stehen, aus der er sich durch einen verzweifelten Sprung in den tiefen Sand retten mußte. Allgemeines Gelächter erscholl, und die scheinbar betrübten Matrosen entschuldigten sich aufs eifrigste damit, daß die allzulangen Beine des Herrn Grafen vorzeitig auf den Grund gestoßen seien.

Nach vollzogener Ausschiffung begab sich die Karawane ins Innere des unbekannten Landes, um Brombeeren und Haselnüsse einzusammeln. Die Dienerschaft aber machte sich daran, den Proviant auf einen idyllisch zwischen hochragenden Buchen gelegenen grasbewachsenen Lagerplatz zu schaffen. Frettwurst durfte, als besonders verwendbar für hochragende Haselnußbüsche und müdgewordene Kinderbeinchen, die Herrschaften begleiten.

Lachend und scherzend zogen diese durch das Grün. Die Frau Prinzessin, eine hochgewachsene Blondine mit schönen klugen Augen, schritt voran, begleitet von dem Grafen mit den nassen Lackstiefeln und von Herbert, die sie beide an ihre Seite gerufen hatte. Die fürstliche Frau besaß eine große Gewandtheit, in solchen Fällen eine angeregte Unterhaltung mit dem einen Begleiter zu führen, ohne im anderen das Gefühl der Ueberflüssigkeit wachzurufen. So bekam der Graf fortwährend Gelegenheit, auf huldvolle Bemerkungen zu antworten, während sie sich aufs freundlichste mit Herbert über seine Familie, seine Reisen, seine Vorliebe für den Segelsport unterhielt.

Von Zeit zu Zeit schaute die Prinzessin den jungen Offizier prüfend von der Seite an. Das Einzige, was sie an ihm auszusetzen fand, war sein steter Ernst. Nicht, daß ihr dieser an sich mißfallen hätte, durchaus nicht. Nur das Uebermaß davon an dem jugendlichen Mann, der oft so traurige Blick seiner braunen Augen, in dem sie Weltschmerz sah, das wollte ihr nicht am Platze scheinen. Dazu trat bei ihm gelegentlich eine auffällige, im Hofleben sehr wenig beliebte Zerstreutheit. Als Menschenkennerin hatte die Prinzessin die Ursache für das gedrückte Wesen Herberts ziemlich richtig errathen, und ihre Absicht war, bei der ersten Gelegenheit der Sache auf den Grund zu gehen, um dem jungen Manne womöglich aus seinem thörichten Schmerze herauszuhelfen.

„Sind Sie auch der Ansicht, Herr Lieutenant,“ fragte sie nach einer Pause in dem Gespräch, „daß das Leben auf dem Meere melancholisch macht?“

„Nein, Königliche Hoheit! Das Seeleben für sich macht bestimmt nicht melancholisch. Das verschulden nur zuweilen Verhältnisse, die bei der völligen Abgeschiedenheit an Bord schärfer als sonst fühlbar werden.“

„Aber ich denke, einem Mann, einem Offizier vollends, bliebe immer noch der Ehrgeiz, rastlos vorwärts zu streben, und damit ein ausreichendes Gegengewicht gegen ein weltschmerzliches Ueberwuchern des Gefühlslebens.“

„Gewiß, Königliche Hoheit! Allein auch die Männer sind nun einmal verschieden beanlagt, und was bei dem einen der Ehrgeiz thut, muß bei dem andern die Zufriedenheit mit stillem Wirken vollbringen.“

„Aber solche Zufriedenheit schädigt, weil sie der Kraft ein allzuenges Ziel setzt. Der Ehrgeizige dagegen, mag er auch aus Eigennutz handeln, wirft die Menschen durcheinander, regt anderer Thätigkeit durch die seinige an. Er betheiligt sich an dem vollen Umsatz der Kräfte; also an dem, was überhaupt den Inhalt des Daseins bildet.“

„Es liegt viel Wahrheit in den Worten Eurer Königlichen Hoheit; mir aber bleibt jener andere doch die Erscheinung, mit der ich mich besser befreunden könnte.“

„Weil Sie selber ein Träumer sind.“

„Ich glaube, das ist keine besondere Schmeichelei für einen Soldaten, Königliche Hoheit.“

„Nein,“ erwiderte die Prinzessin ehrlich. „Ich halte Sie aber trotzdem für einen tüchtigen Offizier; Ihre Art im Dienste hat mir das gezeigt – unsereins lernt ja, dergleichen zu beobachten. Sie sind nur zu Zeiten ein Träumer und stehen dann wohl unter romantischen Einflüssen, unter tiefgreifenden gemüthlichen Erregungen. Oder sollte ich mich darin täuschen?“

Herberts Herz schwoll bei dem theilnehmenden Klang dieser Frage. In etwas aufgeregtem Ton entgegnete er: „Königliche Hoheit haben sich nicht getäuscht. Gerade jetzt – – “

„Sind Ihre Füße, wieder trocken, lieber Graf?“ wandte sich die Prinzessin, die Rede ihres jungen Begleiters abschneidend, an den Kavalier zur Linken.

Herbert biß sich auf die Lippen.

Der Graf erklärte, wieder ganz angenehm einherzuwandeln, und wehrte sich mit feierlicher Ehrfurcht gegen die Neckereien der Prinzessin, über die geschädigten Lackstiefel und den sicher bevorstehenden Schnupfen.

So plaudernd, langte man bei einem Gebüsch an, wo die Nüsse in dichten Trauben aus dem Laube sahen. Eifrig betheiligten sich die Herren am Pflücken, sogar der Graf ließ sich durch die freundlichen Warnungen, bei seinen dünnen Stiefeln vor dem Angriff von Igeln, Schlangen und ähnlichem schlimmen Gethier auf der Hut zu sein, nicht abschrecken, in die knackenden rauschendes Büsche einzudringen.

Als die mitgebrachten Säckchen genügend vollgestopft waren, begab man sich auf den Rückweg. Das jüngste Prinzeßlein hatte auf Frettwursts Arm Platz genommen, weniger aus Müdigkeit als in dem Wunsch, auf diese Weise besser mit ihm spaßen zu können. Der lange Bursche fühlte sich ganz wohl unter dem wilden, aber gutmüthigen Regiment des kleinen Volkes, nachdem er biedersten Schwierigkeiten der Anredeform durch kühne Selbsthilfe überwunden hatte. „Kleine Prinsessin, Sie müssen nich so mit die Beine strampeln,“ mahnte er gelegentlich, oder: „Hoheit Prinsessin dürfen mich die Brummelbeeren aberst nich aufs Hemd smeißen, das giebt Placken, die nich auszukriegen sünd.“ Das übermüthige Ding steckte ihm nämlich jubelnd eine Brombeere nach der andern in den Mund, der ebenso wie der ihrige schon eine gehörige Einfassung zeigte.

Als man wieder auf dem Lagerplatz eintraf, waren die über ein Reisigfeuer gesetzten Kartoffeln noch nicht weich. Man setzte sich daher im Kreise ins Gras und hielt den Hunger einstweilen mit Nüssen hin.

„O, ich hab’ ein Vielliebchen!“ rief das jüngste Prinzeßchen, das eine Doppelnuß geknackt hatte, freudig aus. „Das muß Frettwurst mit mir essen!“ Und schnell enteilte sie zu dem jetzt am Herde beschäftigten Kameraden.

Völlig im Unklaren über den Brauch des Vielliebchens, ließ sich Frettwurst willig den Kern zwischen die Zähne schieben; im nächsten Augenblick drückte ihm die Kleine einen Löffel in die Hand und schrie triumphierend: „Guten Morgen, Vielliebchen! Gewonnen, gewonnen! Nun müssen Sie mir etwas schenken! Wissen Sie was? Sie müssen mir ein Schiff mit drei Masten machen, das ordentlich segeln kann! Wollen Sie das? Bitte, bitte!“

Frettwurst versprach, sein Bestes zu thun, obgleich er von dem Rechtsgrund seiner Verpflichtung sehr wenig überzeugt schien.

Herbert war wieder an die Seite der Frau Prinzessin gerufen worden. Er handhabte zwei Feldsteine, zwischen denen er die Nüsse seiner Gönnerin zertrümmerte. Und auch hier wurde ein Doppelkern gefunden.

In der Zwanglosigkeit des Augenblicks, angeregt durch das [114] Beispiel ihrer Jüngsten, bot die in fröhlichster Laune befindliche Fürstin dem Offizier ein Vielliebchen an. Mit tiefer Verbeugung nahm dieser den Kern entgegen.

„Also wie soll’s gelten, Herr Lieutenant? Machen wir’s bei der ersten Begrüßung morgen aus ober sofort aus die hinterlistige Art des Gebens und Nehmens?“

„Wie Königliche Hoheit befehlen.“

„Natürlich auf Geben und Nehmen, Mama, das ist viel lustiger!“ entschieden die Prinzessinnen.

„Fügen wir uns denn dem Verlangen der Kinder, Herr Lieutenant. Auf Geben und Nehmen! Doch eines mache ich zur Bedingung: der gewinnende Theil bestimmt das Geschenk, das er zu haben wünscht! Und nun – ehrlich Spiel!“

Herbert verbeugte sich zustimmend. Er durchschaute seine hohe Partnerin. In der Annahme, er werde sie gewinnen lassen, wollte sie ihn von vornherein an der Thorheit einer kostbaren Gabe hindern. Allein er gedachte keineswegs, diese Entwicklung zu unterstützen. Ein Gedanke, ein unverschämt kühner Gedanke hatte ihn durchzuckt.

Das Spiel begann, und offenbar trachtete die Prinzessin thatsächlich nach dem kleinen Triumph, ihn zu überrumpeln, denn als er zu ihrem Erstaunen stets ein pünktliches „Ich denke dran“ in Bereitschaft hatte, wurde sie förmlich eifrig in ihren Versuchungen und rief schließlich halb scherzhaft, halb ärgerlich: „Ach gehen Sie, Sie sind langweilig aufmerksam!“

„Ich bin eben kein Träumer, Königliche Hoheit,“ erlaubte sich Herbert zu bemerken.

Inzwischen war das einfache Mahl fertig geworden und wurde in der bequemsten Lage verzehrt. Für die Prinzessin war ein Tischchen aus Steinen hergestellt worden, die übrigen setzten den Teller in den Schoß oder speisten liegend unmittelbar vom grünen Rasen aus. Dabei ertönte das Lachen und Scherzen weithin durch den Wald.

Die Kartoffeln in der Schale mit frischer Butter und Schinken mundeten herrlich und wurden noch gewürzt durch das groteske Bild, das der Graf der Gesellschaft bot. Mit seinen langen Beinen etwas unglücklich, sonst freilich in freundlicher Gemüthsverfassung, im Grase sitzend, betrieb er mit Würde die ungewohnte Arbeit des Kartoffelschälens; sein Monocle, das er dazu nicht entbehren konnte, stand ihm in diesem Augenblick ganz prachtvoll.

Auf den ersten Gang sollten noch Eierkuchen folgen, allein ihre Herstellung hatte sich bei den äußerst mangelhaften Hilfsmitteln verzögert, und so wurde zur Ausfüllung der Kunstpause ein Pfänderspiel eingeschoben, dem sich die Auslösung der Pfänder sofort anschloß.

Als die Reihe, die Art der Einlösung eines Pfandes zu bestimmen, an Herbert kam, bemerkte er ein besonders schlaues Lächeln in den Mienen der Prinzessin, die den Rest der Pfänder unter einem Tuche aufbewahrte. Rasch erklärte er: „Der, dem das Pfand gehört, soll für Euere Königliche Hoheit eigenhändig einen Eierkuchen backen.“

„Also bitte – Sie selbst, Herr Lieutenant!“

Allgemeiner Jubel folgte.

Mit einem leichten „Ich denke dran“ nahm er das ausgelöste Federmesser entgegen und begab sich dann zur Ausführung seiner Aufgabe wohlgemuth an die Pfanne, denn seiner auf Expeditionen im Ausland öfter geübten Kunst im Backen von Eierkuchen durfte er vertrauen. Ob freilich auch das andere gelingen würde, das er im Sinne hatte, mußte er vorläufig mit einigem Herzklopfen dahingestellt sein lassen. Kunstgerecht bereitete er das Gebäck, legte es auf einen Teller und reichte es Frettwurst, indem er dem Vertrauten dabei zuflüsterte: „Frettwurst, Sie tragen jetzt den Eierkuchen zu Ihrer Königlichen Hoheit hinüber und überreichen ihn! Sobald aber die Prinzessin zugreift, halten Sie den Teller plötzlich wie aus Ungeschicklichkeit so schief, daß es aussieht, als ob der Eierkuchen herunterfallen wolle, Für das übrige lassen Sie mich sorgen. Verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Leutenant.“

Der junge Offizier klemmte sich nun nach Kellnerart eine Serviette unter den Arm und schritt, von den lachenden Prinzessinnen umdrängt, neben Frettwurst zum Lagerplatz. Vor der Fürstin, die nachlässig im Grase ruhte, machte er Halt.

„Nun, ist das Werk gerathen, Herr Oberkoch?“ fragte sie heiter.

„Königliche Hoheit wollen selbst urtheilen – Frettwurst!“

Frettwurst trat heran und kippte den Teller so vorzüglich, daß der Eierkuchen um ein Haar auf die weiße Robe der Prinzessin geglitten wäre. Noch eben rechtzeitig griff Herbert, einen Laut des Schreckens ausstoßend, zu, um mit verblüffender Geschwindigkeit selbst den Teller zu übergeben. Und überrascht durch die kaum abgewendete Katastrophe vergaß die Prinzessin bei der Annahme die rettenden Worte „Ich denke dran.“

„Guten Morgen, Vielliebchen, Königliche Hoheit!“

„Ah, Verräther!“

Betroffen hielt sie den Eierkuchen in den Händen, während ihre Töchter händeklatschend vor Vergnügen umhersprangen und Frettwurst sich wohlweislich aus dem Staube machte.

Ernst schaute Herbert auf die überlistete Gegnerin herab. „Verzeihung, Königliche Hoheit, Verzeihung!“

Der leichte Aerger der Prinzessin hatte schon einer verständigeren Regung Platz gemacht. Mit dem Finger drohend rief sie: „Warten Sie, mein Herr! Das hätt’ ich Ihnen wahrhaftig gar nicht zugetraut.“

„Ich mir auch nicht, aber –“

„Sie wollten um jeden Preis gewinnen?“

„So ist es!“

„Und selbst den Lohn bestimmen?“

„Nach Eurer Königlichen Hoheit eigenen Anordnung!“

„Ja, wenn ich das gewußt hätte! Und das schuldige Geschenk ist?“

„Eine Gnade, eine große Gnade –“

„Ich dachte es schon. Nun wir wollen später darüber reden!“ Sie warf einen Streifblick auf ihre Töchter, die den plötzlichen Umschlag des komischen Vorganges in einen beinahe feierlichen mit neugierigen Gesichtern verfolgten.

Herbert zog sich mit tiefer Verbeugung zurück.

„Er schmeckt übrigens prachtvoll – schade, daß ich Sie nicht für die Hofküche gewinnen kann!“ rief ihm seine hohe Gönnerin noch nach, indem sie das knusperige Ding wacker in Angriff nahm. –

[126] Als man abends bei herrlichem Mondschein über das stille Meer nach Radegast zurückdampfte, befahl die Prinzessin den jungen Offizier an ihre Seite. Und während sie nun beide außer Hörweite des Gefolges auf dem Verdeck hin und her schritten, legte Herbert eine rückhaltlose Beichte ab.

Aufmerksam hörte die Prinzessin zu. Als ihr Begleiter zum Schlusse ihre einflußreiche Hilfe zur Erlangung des Konsenses erbat, um den er nach Hildes Absage ohne fest verbürgten Erfolg offiziell gar nicht mehr nachsuchen könne, schaute sie einen Augenblick sinnend vor sich hin.

„Offen gestanden, mein junger Freund,“ sagte sie dann freundlich, „ich persönlich hänge nicht an Vorurtheilen. Aber Sie wissen selbst, daß die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft nicht ungestraft verletzt werden dürfen, Darin sind wir auf der Höhe ebensogut abhängig wie Sie. Auch ist Ihnen ja bekannt, wie peinlich Seine Majestät in solchen Dingen denkt.“

„Ehen deshalb sehe ich ohne die erbetene Hilfe keinen anderen Weg als den des Abschieds.“

„O, das würde mir doch aufrichtig leid thun. Daher also Ihre Schwärmerei für bescheidene Existenzen! Und das junge Mädchen würde des gebrachten Opfers werth sein?“

„Werth? Königliche Hoheit, für mich giebt es nur die Frage, ob ich ihrer werth bin!“

Eine Pause trat ein. Finster schaute Herbert auf die im Mondlicht zauberhaft glitzernde Fluth.

„Herr Lieutenant,“ begann die Prinzessin darauf in ihrer einfachen Art, „warten Sie noch mit der Wiederholung des Abschiedsgesuchs! Nächstens kommt mein Mann, um uns abzuholen. Ich will dann mit ihm darüber reden, ob er glaubt, bei dem König die Bewilligung des Konsenses für Sie erlangen zu können.“

„O, wenn Königliche Hoheit diese Gnade haben wollten, dann wird sich alles noch zum besten wenden!“

„Vielleicht ja, sicher ist es nicht. Die Genehmigung wird wohl sehr wesentlich davon abhängen, ob man annehmen darf, daß dem Fräulein später in der Gesellschaft keine Schwierigkeiten bereitet werden, und das hängt wieder von persönlichen Eigenschaften der Dame ab.“

„Wenn Königliche Hoheit Fräulein Jaspersen sehen würden, könnte in dieser Beziehung kein Zweifel mehr sein.“

„Ich glaube Ihnen, und was an mir liegt, soll geschehen, um meine Vielliebchen-Verpflichtung voll einzulösen – trotz Ihrer Hinterlist! Lassen Sie also die Geschichte ein paar Wochen ruhen und seien Sie inzwischen nicht zu sanguinisch, aber auch nicht zu niedergeschlagen!“

Damit war die vertrauliche Unterredung beendigt, die in Herberts Brust begrabene Hoffnungen neu erweckte. Mit frischem Lebensmuth that er von jetzt an seinen Dienst, zur heimlichen Freude der Prinzessin.




6.

Der „Falke“ kehrte mit der prinzlichen Familie an Bord von Radegast nach dem Kriegshafen zurück; die schönen Tage der Freiheit waren vorüber und die jungen Prinzessinnen zeigten betrübte Gesichter. Namentlich der Abschied von Frettwurst fiel ihnen schwer. Der Brave hatte sein Vielliebchengeschenk, das dreimastige Schiff, noch nicht fertig machen können und mußte versprechen, es später in der Residenz selbst abliefern zu wollen. Davor graute ihm; er wäre den Ehren, die seiner warteten, gern aus dem Wege gegangen. Im übrigen aber lag auf seinem Gesicht wieder der frühere Glanz innerster Befriedigung, seit er den frohen Umschwung in der Stimmung seines Herrn bemerkt und obendrein mit seiner Lena ein glückliches Wiedersehen gefeiert hatte. Sie war einen Nachmittag lang in Radegast gewesen; er hatte sie vollständig ausgesöhnt mit seiner Saumseligkeit in brieflichen Angelegenheiten, auch über Hochzeit und Heimstätte alles Nöthige mit ihr beredet, denn nach seiner bevorstehenden Entlassung aus der Marine sollte sofort der neue Hausstand gegründet werden.

Im Kriegshafen traf Prinz August mit den Seinigen zusammen. Den Herren, welche seiner Familie während der letzten Wochen so vertraut geworden waren, kam er nach seiner heiteren Art offen und frisch entgegen, und nicht zuletzt erfreute sich Herbert seines Wohlwollens. Dabei fragte sich der junge Offizier mit einer gewissen Ungeduld, ob die Prinzessin wohl mit ihrem Gatten von seiner Angelegenheit und dem kühnen Vielliebchen gesprochen habe – aber nichts deutete darauf hin.

Doch als die Abschiedsstunde kam und die fürstlichen Gäste bereits im Boote saßen, während die Offiziere, sich tief verneigend, im Fallreep standen, wandte sich der Prinz noch einmal an Herbert, und ihn mit einem vielsagenden Blick aus seinen freundlichen blauen Augen anschauend, rief er lächelnd: „Ich denke dran!“

Nun wußte Herbert, daß seine Sache in guten Händen sei. – 0000000000

Schade, daß der Lieutenant Gebhardt nicht ein klein wenig Allwissenheit besaß, sonst würde ihm am nächsten Morgen noch weit froher als ohnehin schon ums Herz gewesen sein.

Zu dieser Zeit nämlich rollte eine offene Hofequipage in flottem Trab aus der Stadt um das Horn des Binnenhafens herum, immer weiter und weiter die Landstraße hinaus, welche an dem Stranddorf vorüberführte. In dem Wagen saß die Prinzessin mit ihrer ältesten Tochter.

Im Wirthshaus des Stranddorfes, dem auch Herbert einst seinen Besuch abgestattet hatte, wurde Halt gemacht, und nach kurzer Rast unternahmen Mutter und Tochter einen Spaziergang durch das Dorf, um sich dann, genau wie jener, von einem hoffnungsvollen kleinen Kerl den Weg nach dem Schulhaus zeigen zu lassen.

Durch die geöffneten Fenster des Schulzimmers schallten den Ankömmlingen aus fast hundert Kinderkehlen in dröhnendem Zusammenklang die Sätze eines Bibelspruchs entgegen, der auf diese Weise dem jugendlichen Gedächtniß eingeprägt werden sollte. Die Prinzessin konnte es sich nicht versagen, durch die niedrigen Fenster einen Blick über die blond- und braunköpfige Schar und zu dem sympathischen alten Herrn auf dem Katheder zu werfen, um jedoch keine Störung zu erregen, zog sie sich rasch zurück, als sich einer der kleinen Burschen, der sich ins Freie sehnen mochte, umdrehte und mit maßlosem Erstaunen die ungewohnte Erscheinung musterte. Sie begab sich in den Garten, wo Trina eben mit dem Pflücken von Aepfeln beschäftigt war.

Frau Jaspersen gerieth in die höchste Aufregung, als die Magd athemlos meldete, eine ganz feine Dame nebst einem ebenso feinen Fräulein sei drunten und lasse fragen, ob man vielleicht von den Gravensteiner Aepfeln kaufen könne.

Da die Hausfrau sich nicht in geeigneter Toilette glaubte, um vom Herde weg solchem Besuch entgegenzutreten, so wurde Hilde hinuntergeschickt, die mit ernster, in sich gekehrter Miene im Wohnzimmer an einer Handarbeit gesessen hatte.

Als das Mädchen, etwas verlegen, im Garten erschien, wiederholte die Prinzessin mit einer Entschuldigung ihre Frage. „Sie haben hier so wunderschönes Obst, daß ich und meine Tochter der Versuchung nicht widerstehen können, wenn irgend möglich ein Pröbchen davon zu erwerben. Doch Sie verkaufen wohl nichts?“

„Nein,“ entgegnete Hilde, „aber Sie machen uns eine Freude, wenn Sie trotzdem einige Aepfel annehmen wollen) Bitte, treten Sie doch näher!“

Im Bewußtsein ihrer Stellung und ihrer Absichten machte die hohe Frau ohne weitere Umstände von dem liebenswürdig vorgetragenen Anerbieten Gebrauch, so daß Hilde einen Augenblick dachte: „Nun, viel Komplimente scheint die nicht gewohnt zu sein. Und wie sie mich anguckt, freundlich und doch schrecklich vornehm!“

Sie bat die Fremden, sich unter der schon falb und durchsichtig werdenden Linde niederzulassen, woraus bereitwillig Platz genommen wurde.

„Sind Sie die Tochter des Herrn Lehrers?“

„Jawohl, gnädige Frau.“

„Also Fräulein Hilde Jaspersen?“

Hilde bejahte, betrachtete aber die Fragende sehr erstaunt. Woher wußte diese denn schon ihren Namen?

[127] „Sie sehen für ein Landkind recht blaß aus, liebes Fräulein; sind Sie kürzlich krank gewesen?“

Die Wirkung dieser Frage beseitigte freilich für den Augenblick jede Spur von Blässe im Gesicht des Mädchens. In ihre Verlegenheit mischte sich ein klein wenig Zorn über die rückhaltlose Art der Dame. Indessen, bloße Neugier oder Hochmuth lagen hier nicht vor, das hatte sie schon gemerkt, und so antwortete sie bescheiden: „Allerdings bin ich krank gewesen und noch immer ein wenig angegriffen. – Aber bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ Sie eilte fort, um eine kleine Leiter zu holen, und begann dann selbst die besten Aepfel von den erreichbaren Zweigen zu pflücken.

„Hilf ihr!“ gebot die Prinzessin ihrer Tochter, und diese gehorchte mit fröhlichem Lachen.

Mit ihrem Sonnenschirm spielend, beobachtete die Fürstin das Thun der jungen Mädchen. Ihre noch unentwickelte Tochter, im eleganten hellen Gewand, stand mit dem Körbchen unter dem Baum; Hilde, im dunklen Hauskleid, reichte die Früchte von oben herunter. Sie verlor durchaus nicht neben dem freundlichen Königskind, sondern gewährte, wenn sie sich anmuthig zwischen den Blättern zurückbog, während verlorene Sonnenstrahlen ihr über Antlitz und Gestalt huschten, ein ungemein anziehendes Bild.

Das Wohlgefallen, das die Prinzessin an dem Lehrerstöchterlein fand, mußte ein großes sein, denn auch als die Aepfel gepflückt und gekostet waren, unterhielt sie sich noch lange und eingehend mit dem jungen Mädchen. Sie wich sogar nicht eher, als bis sie auch noch Herrn und Frau Jaspersen zu Gesicht bekam, denen sie sich als eine zum Hofe gehörige Gräfin So und So vorstellte.

Der Lehrer machte eine förmlich bestürzte Miene, als die Gräfin ihm beim Scheiden ein Goldstück überreichte.

„Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Jaspersen! Trotzdem Ihre Aepfel Goldes werth sind, sollen Sie es gar nicht haben. Aber für arme Kinder Ihrer Schule werden Sie es wohl verwenden können. Es wird auch hier deren geben!“

„Nicht viele, gottlob, aber einige doch, und für diese will ich es mit wärmstem Dank behalten.“

„Recht so! Und nun nochmals Dank für die köstliche Bewirthung! Es hat uns sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche, daß Ihre Tochter recht bald ihre rothen Backen wieder bekomme. Wenn man Krankheit oder Kummer gehabt hat, kehrt das Glück oft über Nacht zurück, man weiß nicht wie. Also adieu! Ich werde Ihre Gastfreundlichkeit nicht vergessen, Fräulein Jaspersen, und wenn der Tag erscheint, an dem ich Ihnen dafür erkenntlich sein darf, so werden Sie wissen, daß Sie das lediglich Ihren eigenen Vorzügen zu verdanken haben!“

Als die vornehmen Gäste sich mit herzlichem Händedruck verabschiedet hatten, blieb die Familie Jaspersen in gehobener, aber ein wenig sonderbarer Stimmung zurück. Was sollte denn dieses geheimnißvolle Schlußwort, diese im Verhältniß zu dem geringfügigen Anlaß fast überwichtige Zukunftsverheißung besagen?

Im Dorfe hatte die Hofequipage natürlich Aufsehen erregt. Die „Hofdamen“ waren zu Jaspersens gegangen - das mußte unbedingt mit Hildes leichtsinnigem Seeabenteuer in Verbindung stehen, und bald lief die geheimnißvolle, gierig geglaubte Kunde um, der Marinelieutenant, der früher so oft sich gezeigt habe, sei ein heimlicher Graf. Er habe mit Schulmeisters Hilde, der man so etwas auch nicht zugetraut hätte, heimlich ins Ausland fliehen wollen, sei jedoch von einem Kriegsschiff eingefangen worden. Da er aber dem Mädchen die Ehe versprochen habe, so sei jetzt die Gräfin, seine Mutter, hergereist und habe Jaspersens viel Geld gegeben, damit sie zufrieden seien und keine Ansprüche mehr an den jungen Grafen stellten.

*      *      *

An Bord der „Preußen“ zurückkommandiert, erwartete Herbert in fieberhafter Spannung von seiner Gönnerin eine Nachricht aus der Hauptstadt, wohin sie inzwischen zurückgekehrt war. Tadellos versah er seinen Dienst, doch war er froh, wenn er wieder allein seinen Gedanken nachhängen konnte. Die Kameraden benahmen sich rücksichtsvoll gegen ihn. Sie glaubten, er habe seine übereilte Verlobung bereits wieder gelöst, und vermieden jede Anspielung auf das Geschehene. Trotzdem fühlte sich Herbert nicht wohl in ihrer Gesellschaft, das Herz wurde ihm erst leichter, wenn er mit Frettwurst die „Bachstelze“ tummeln konnte. Je stärker es wehte, desto lieber war es ihm. Der Kampf mit der See befriedigte und stählte ihn, ja gab ihm neue Hoffnung.

So oft bei diesen Fahrten der Steg an der Strandhöhe in Sicht kam, hoffte Frettwurst, die „Bachstelze“ werde sich ihm zuwenden – immer vergebens, und rathlos zerbrach er sich den Kopf darüber, warum sich sein Herr gar nicht mehr um das Fräulein kümmere. Das arme kleine „Katteker“ weinte sich jetzt wohl die Augen roth nach dem Schatz, der nicht mehr kam! Was mochte es da gegeben haben? Das kleine „Katteker“ war doch gewiß nicht schlecht und noch weniger war sein guter Herr treulos gewesen, das wußte er bestimmt!

Und eines Tages erhielt diese biedere Zuversicht eine glänzende Bestätigung, unmittelbar nachdem an Bord der „Preußen“ für den Lieutenant Gebhardt ein Telegramm folgenden Inhalts abgegeben worden war:

„Alles in Ordnung! Kommen Sie ruhig um den Konsens ein! Herzlichen Glückwunsch dem Brautpaar von meinem Mann und mir. Prinzeß August“. 
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„Frettwurst, Du schast mal gau[19] to Gebhardt kamen!“

In dieser wenig respektvollen Weise rief die Ordonnanz der Offiziersmesse, der „Läufer“, den nachdenklichen Frettwurst an, der im Zwischendeck damit beschäftigt war, in einem Strumpfe seines Lieutenants ein Loch zuzustopfen, das die Waschfrau übersehen hatte. Der Gerufene warf augenblicklich Nadel und Strumpf in seinen Flickkasten und eilte nach der Messe, wo ihm sein Herr strahlenden Auges, mit einem Papier in der Hand, entgegentrat. Frettwurst wußte im Nu, was die Glocke geschlagen hatte. Es ging wieder zu ihr!

„Frettwurst, fix die erste Garnitur heraus! Aber Ueberrock! Das neue Portepee, frische Wäsche und so weiter!“

„Nanu,“ dachte Frettwurst, irre werdend, „so fien? Denn geiht dat doch wull ni na’t Dörp.“

Doch er fühlte sich wieder beruhigt, als Herbert fortfuhr: „Und dann ziehen Sie ebenfalls schleunigst gute Uniform an, geben an Land diese Depesche an die Prinzeß August auf und machen die ‚Bachstelze‘ klar! Ich bin in einer Stunde an der Brücke!“

„Zu Befehl, Herr Leutenant!“

Während der Bursche flink die Sachen hervorholte, murmelte er: „Awerst so fien, so fien? Dat het wat to bedüden![20] Dat sücht meist ut[21], as wenn he friegen gahn[22] wull? Hurra, lütt Katteker, wo warst du dann lachen!“ – –

Mit zwei freudig erregten Menschen an Bord, das hohe feine Linnen geschwellt vom kräftigen Herbstwind, durchschnitt die „Bachstelze“ die blauen Fluthen des Hafens. Uebermüthig tänzelnd, mit unaufhaltsamer Eile jagte sie dahin, als wüßte auch sie, zu wem es gehe. Mochten die weißen Wolken oben in die Ferne ziehen, wohin immer es sie trieb – ihr Ziel lag am grünen traulichen Ufer der Heimath!

Als sich die „Bachstelze“ eben in schlankem Bogen der Landungsstelle zuwandte, kehrte das Panzergeschwader von einer Uebung aus See zurück. In langgestreckter Kiellinie dampften die mächtigen schwarzen Ungeheuer hintereinander her – eine drohende majestätische Prozession. Die selbstbewußte Ruhe, die sie umgab, wurde dann und wann durch die Signale unterbrochen, welche die Dampfsirenen der Schiffe einander zuheulten.

Herbert nickte den stolzen Schiffen fröhlich zu. „Ich bleibe bei euch für immer, ein glücklicher Mann!“ Dann schaute er wieder selig gerade aus. Dort über dem Wasser kam der in rothbraunen goldigen Farben leuchtende Wald näher und näher, dort winkte der Steg! Was er in Sommertagen erst sehnsuchtsvoll geträumt, was ihm dann in halb frevelhaftem Spiele unverdient in den Schoß gefallen, was in Noth und Gefahr ganz sein eigen geworden war, um dann wieder fast unwiederbringlich zu entschwinden – jetzt war es neu emporgetaucht, gereifter, leuchtender in der klaren Herbstsonne: die blaue Blume des Glücks! –

Die Lehrersfamilie saß still und ernst im Wohnzimmer beisammen. Der köstlichen Luft wegen hatte man die Fenster geöffnet, um welche die Trauben zwischen den verfärbten Weinblättern hingen. Die Hände in den Schoß gelegt, blickte Hilde zu den Wolken empor, und in trüber Sehnsucht zog ihr das Dichterwort durch den Sinn:

„Eilende Wolken, Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“

[128] Fort in die Ferne fühlte sie sich getrieben, durch Wandern und Kämpfen den Schmerz zu betäuben, Vergessen und Frieden zu finden! –

„He kümmt!“

Dieser Ausruf, den Trina hochrothen Gesichtes in die Stube hereinbrüllte, um dann sofort wieder zu verschwinden, platzte wie eine Bombe in die stille Gesellschaft.

„He kümmt!“ – Wer kommt? Verblüfft schauten sich die drei Menschen an. Herr Jaspersen wollte gerade ärgerlich aufspringen und die Enteilende festhalten, als eine Erscheinung in den Rahmen der Thür trat, welche genügende Aufklärung brachte, aber gleichzeitig die Ueberraschung verstärkte. Da stand der, an den die Drei jeden Tag gedacht, in blitzender Uniform, in feierlicher Haltung und streckte Hilde wortlos die ausgebreiteten Arme entgegen. Und von einer Ahnung ihres Glückes durchzuckt, vermochte sie sich nicht zu halten – mit einem Ausruf der Erlösung, der Seligkeit flog sie ihm entgegen und hing an seinem Halse.

So hielten sie einander fest umschlungen, während die Eltern, noch immer wortlos, aber offenbar ohne die geringste Absicht, Einsprache zu thun, daneben standen.

„Vater! Liebe Mutter!“

Herbert umarmte das Paar, als ob in denkbar klarster Weise alles zwischen ihnen geordnet wäre. Und doch war noch kein Wort der Erklärung gegeben! Nun, das fliegende Berichten des Geschehenen kam rasch genug hinterher und riß im Nu die Schranken nieder, die sich seither jeder guten Wendung entgegengethürmt hatten.

An diesem Abend erhob sich in dem von tödlichem Banne befreiten Schulhaus ein Gläserklingen ohn’ Ende, an dem auch Frettwurst, durch Trina kurzer Hand für einige Zeit als Schiffswache abgelöst, reichlichen Antheil nahm. Trinkspruch folgte auf Trinkspruch, und mit besonderer Begeisterung ward der des Lehrers auf den Prinzen August und seine Gemahlin angenommen, die eine so liebenswürdige Vermittlerin und Spionin gewesen.

„Und Papa,“ rief Hilde fröhlich, „das Vielliebchen wollen wir auch nicht vergessen. Hoch lebe der alte Brauch, der Prinzessinnen bezwingt und Glückliche schafft!“

„Ja, Kinder, der hübsche Brauch soll leben! Doch wißt Ihr, was Euer Glück vor allem geschaffen hat?“

„Unsere Liebe, Papa!“

„Gewiß, auch sie. Aber die tiefere Ursache liegt in Euerem Charakter. Ihr gehört beide zu den Menschen, die ihren Stolz darein setzen, dem Schicksal nichts schuldig zu bleiben, die, wo sie nehmen dürfen, auch vollwichtig geben wollen, Darum ist mir auch um Euere Zukunft nicht bange, Noch finden würdige Menschen überall ihren Platz. Selbst wenn Ihr zunächst nicht die Verschickung in eine andere Garnison zu erwarten hättet – durch eigene Kraft, nicht durch die Sonne fürstlicher Huld, würdet Ihr Euch Euere Stellung im fest geschlossenen Kreise auch hier sichern, in der Nähe Euerer Eltern, der einfachen Schulmeistersleute!“

*      *      *

Längst ist der Konsens in Gnaden bewilligt worden, längst hat die Hochzeit stattgefunden.

Und der Schulmeister hat recht behalten. Frau Hilde erfreut sich heute einer Stellung in den Marinekreisn, die nichts zu wünschen übrig läßt, trotzdem ihr Mann längst wieder nach der alten Station zurückversetzt ist und mit den anspruchslosen Eltern ein eifriger Verkehr gepflegt wird. Am glücklichsten sind über diesen die Kinder. Wenn Papa die „Bachstelze“ klar machen läßt, um mit ihnen zu den Großeltern hinüberzusegeln, ist es jedesmal ein Festtag für sie. Unter der Linde, zwischen den Obstbäumen und Stachelbeerbüschen, bei den Bienenkörben – überall sind sie zu Hause, Der Großvater hat seine helle Freude daran, welche wißbegierige kleinen Imker seine Enkel sind. Sehr zärtlich hängt die muntere Schar auch an der alten Trina, die bis an ihr seliges Ende felsenfest von ihren großen Verdiensten um das Zustandekommen der Ehe von Herrn und Frau Kapitän Gebhardt überzeugt bleiben wird.

Vom gleichen Verdienst nicht minder durchdrungen ist in der Ferne ein anderer braver Mensch: der Fischer Frettwurst. Die Liebe zu seinem ehemaligen Herrn und dem „lütten Katteker“ füllt neben der zärtlichen Neigung zu Weib und Kind noch immer sein treues Herz. Von der großen Welt will er nichts wissen, trotz der beklemmend ehrenvollen Aufnahme, die ihm bei der Ablieferung seines Vielliebchengeschenkes an die kleine Prinzessin widerfuhr.

Zum Geburtstage seines früheren Herrn rafft sich Frettwurst mit einer aus Mangel an Uebung alljährlich unbotmäßiger werdenden Hand zu einem schriftlichen Glückwunsch auf. Sein jüngstes derartiges Werk schließt mit den Zeilen:

„Meine Lena hat mir, ebenso wie bei Ihnen und die gnädige Frau Kaptän, wieder mit ein kleines Mädchen beschert. Ich konnte nun heil zufrieden sein, aberst, Herr Kaptän, so, wie in die Zeit, als wir zu die gnädige Frau Kaptän mit die ‚Bachstelze‘ als Braut fuhren und ich mit die Jolle und die Botter umslug, wird es doch allmeintag nich wieder! Das haben Herr Kaptän mich auch dunnemals schon über das menschliche Leben im voraus gesagt. Womit ich mit meine und meine Frau ihre Grüße an den gnädigen Herrn Kaptän und die gnädige Frau Kaptän und die lieben kleinen Kinder und nochmalichen Glückwunsch bis zu nächstes Jahr bin

Ihr immer verbleibender
August Frettwurst.“ 



  1. Eichkätzchen.
  2. nicht sofort.
  3. wie.
  4. freien.
  5. pflücken.
  6. warten.
  7. Bucchweizenpfannkuchen.
  8. Topf, hier im Sinne von Partie.
  9. fertig.
  10. Zeuge.
  11. spät.
  12. Korinthenbrod.
  13. sollst.
  14. in Ordnung (Reihe).
  15. Stiefelschmiere an unserem Schiffstisch.
  16. freuen.
  17. schrecklich eilig.
  18. außen.
  19. rasch.
  20. bedeuten.
  21. sieht fast aus.
  22. freien gehen.