Abendandacht bei Chioggia
[688] Abendandacht bei Chioggia. (Zu dem Bilde S. 677.) Wie in den Kanälen Venedigs, wenn uns die Gondel über sie hinfährt, so empfinden wir auch draußen im offenen Wasser der Lagune die Lautlosigkeit der uns umgleitenden Flut als einen eigentümlich ergreifenden Zauber. Der natürliche Wall des langgestreckten Lido und der künstliche Damm der Murazzi läßt die Wellenbewegung des Meers nur ganz abgeschwächt hereindringen. Und obgleich dicht vor der Insel Chioggia dieser Damm auf eine kurze Strecke durchbrochen ist, durch welche das Meer mit frischem Wogenschwall flutet, so macht sich doch auf der Lagunenseite der starkbewohnten Fischerinsel jener Zauber ganz besonders geltend. Wenn dann nach heißem Tag des Abends sanfte Kühlung sich auf Insel und Flut senkt und das geräuschvolle Treiben der Fischer und Schiffer an den Landungsplätzen der Ruhe weicht, dann herrscht eine Stille hier, die das Herz im Innersten ergreift. Und dringt durch dieses träumerische Schweigen vom Lande her der feierliche Klang der Abendglocken an unser Ohr, während die untergehende Sonne tiefe Gluten über das Wasser breitet, so öffnet sich die Seele weit der Andacht, von welcher rings die große Natur erfüllt ist. Das schöne Bild von Hermann Corrodi vergegenwärtigt die Poesie dieser Stimmung ganz meisterhaft. Auch die schlichte Andacht der Fischer, welche von ihrem Boot aus dem nahen Madonnenbild am Ufer ihr „Ave Maria“ darbringen, ist von ihrem Schimmer verklärt.