Ein schwäbischer Volksdichter
[688] Ein schwäbischer Volksdichter. Im Jahr 1885 kam zu Stuttgart unter dem Titel „Märchenerzähler, Brahmine und Seher“ eine Gedichtsammlung heraus, die in weiten Kreisen Schwabens Aufsehen erregte, als man erfuhr, der Verfasser, Christian Wagner, sei ein einfacher Bauer und lebe einige Stunden von der württembergischen Hauptstadt entfernt in dem Dorfe Warmbronn. Bald ließ der aus seiner Stille hervorgetretene Volksdichter „Sonntagsgänge“, dann „Balladen und Blumenlieder“ erscheinen, denen 1893 eine neue Sammlung, „Weihegeschenke“ und im vorigen Jahr der „Neue Glaube“ folgte. Einen immer weiteren Kreis von Freunden gewann sich Christian Wagner durch diese mannigfaltigen poetischen Gaben, zu denen er bald mehr in epischem Ton anmutige Blumenmärchen erzählte, bald als Gedankendichter im Gewande des Brahminen für die Schonung alles Lebendigen eintrat, bald Lieder von einfacher echter Lyrik bot. Jene schlichte Beschaulichkeit, jenes intime Leben mit der Natur, jene Fülle in der Beschränkung, die den schwäbischen Dichtern überhaupt eigentümlich sind – das alles findet sich mehr oder weniger auch bei Christian Wagner. Er ist nie über sein engeres Heimatland hinausgekommen, ja sein Dorf ist eigentlich seine ganze Welt, aber er weiß aus dieser Enge das weiteste Feld für seine Muse zu gewinnen, indem er auch das Kleine und Unscheinbare erweckt zu poetischem Leben.
Christian Wagner, dessen Bildnis wir nebenstehend bringen, hat vor kurzem seinen 60. Geburtstag gefeiert. Er wurde am 6. August 1835 zu Warmbronn geboren und erhielt zunächst seinen Unterricht in der Volksschule seines Heimatdorfes. Später bestimmten ihn seine Eltern zum Lehrer und brachten ihn in die Vorbereitungsschule des Lehrerseminars zu Eßlingen; Wagner gab jedoch diesen Plan infolge von Kränklichkeit wieder auf und kehrte nach Warmbronn zurück. Er wurde nun Bauer und ist es geblieben bis heute. An mancherlei Anerkennung hat es ihm nicht gefehlt, am meisten aber hat ihn wohl die Ehrung durch die Deutsche Schillerstiftung gefreut, die ihn vor drei Jahren mit einer Ehrengabe bedachte. Von seiner poetischen Art möge den Lesern der „Gartenlaube“ das folgende Gedicht eine Probe geben.
Blumenwache.
Gartenwinden, strahlig und geflammt,
Eingefaßt von blauem Seidesamt
Braune Nelken, brechend aus der Hülle
Ihrer Kelche in der Düfte Fülle:
Ringelblumen, so wie Flittergold,
Das die Julisonne aufgerollt;
Bohnenblüten, an des Zweigs Geschwinge
Scharlachrote kleine Schmetterlinge;
Gartenwicken, himmelblau beschwingt
Wie ein Falter, der zum Aether dringt,
Hehr und glanzvoll seine Flügel spaltet,
Wieder sie zur Ruh’ zusammenfaltet –
Standen da vor mir in einem Glas,
Da ich krank in meinem Bette saß:
Mußt’ nicht frisches Leben sich entfachen
Unterm Segen dieser Blumenwachen?