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Artikel „Unger, Ephraim Salomon“ von Albert Pick in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 282–285, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Unger,_Ephraim_Salomon&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 20:00 Uhr UTC)
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Unger: Ephraim Salomon U., bedeutender Mathematiker und Pädagog, geistiger Begründer des Erfurter Realgymnasiums. Er wurde am 9. März 1789 in Coswig a. E. geboren und besuchte daselbst die öffentliche Schule. Zugleich erhielt er Privatunterricht, theils durch den Rector dieser Anstalt, theils durch seinen Vater, einen aus Preßburg stammenden würdigen Mann jüdischen Glaubens, unter dessen Leitung er die historischen Bücher der Bibel, die Psalmen und die Proverbien in der Ursprache las. Nach zurückgelegtem dreizehnten Lebensjahre entschloß er sich, zum Zweck weiterer Ausbildung nach Berlin zu gehen. Hier nahm ihn eine unter Leitung des verdienten I. D. Itzig[WS 1], später unter Bendavid stehende Schulanstalt auf, der er vorzugsweise die Vermittelung derjenigen Kenntnisse verdankte, die ihn später in den Stand setzten, mit Erfolg Universitätsvorlesungen zu hören. Da seine Eltern während seines Aufenthaltes in Berlin für ihn nichts thun konnten, so war sein Einkommen auf den Erwerb durch Privatunterricht im Hebräischen und in den Anfangsgründen des Französischen und Lateinischen beschränkt. Von der Mathematik hatte er zu jener Zeit nur einen sehr dürftigen Begriff; doch war er ziemlich gewandt im Rechnen. Erst durch Bekanntschaft mit einigen mathematischen Stellen im Talmud, und zwar in der Mischnah, wurde in ihm der Wunsch rege, die Mathematik näher kennen zu lernen.

Die Ereignisse des Jahres 1806 wirkten nachtheilig auf Unger’s Verhältnisse, und er sah sich im Frühjahr 1807 gezwungen von Berlin fortzugehen. Er begab sich nach Erfurt, wohin sein Vater im Vorjahre übergesiedelt war, und wurde nach einer vom Rector der Universität, dem Abte Placidus Muth, abgehaltenen Prüfung am 29. August 1807 als Dessavio-Cosvicensis, Philosphiae Candidatus, immatriculirt. Er hörte vornehmlich die philosophischen Vorlesungen des D. Joh. Christian Lossius, und zwar drei Jahre lang ununterbrochen, die historischen von Jakob Dominikus, die naturwissenschaftlichen von Bernhardi, Trommsdorff, Bucholz und Joseph Hamilton und die mathematischen von A. F. C. Reichard und Johann Blasius Siegling. Die Zeugnisse über Fleiß und Fortschritte, die er bereits im J. 1808 vorzulegen vermochte, veranlaßten den regierenden Herzog von Bernburg, Alexius Friedrich Christian, ihn aus seiner Privatcasse zu unterstützen und später die Promotionskosten für ihn zu bezahlen. Unger’s Privatfleiß war fast ausschließlich der Philosophie und Mathematik zugewendet. In der ersteren hat er sich namentlich mit Kant beschäftigt, und diesem Studium verdankt er die ihm nachgerühmte Fähigkeit „den Resultaten des reinen Denkens durch ihre Verwendung zum Lösen von tief eingreifenden Fragen des Lebens Durchsichtigkeit des Ausdrucks ebenso wie Reichthum des Inhalts zu geben.“ Mit der Mathematik machten ihn die Philosophiae naturalis principia mathematica Newton’s zuerst näher bekannt. Später lernte er die Introductio [283] in analysim infinitorum von Euler kennen, und seitdem bildete das Studium der Schriften dieses berühmten Mathematikers Jahre lang seine Lieblingsbeschäftigung. In der angewandten Mathematik lernte er die Mechanik durch Lagrange kennen, die Optik durch Robert Smith und die Astronomie durch Bode. Die theoretischen Schriften der französischen Mathematiker, namentlich die von La Place, die théorie des nombres von Legendre und die analytischen Functionen von Lagrange hat er erst später kennen zu lernen Gelegenheit gehabt; ebenso die disqu. arithm. von Gauß. – Am 20. Sept. 1810 promovirte er bei der philosoph. Facultät auf Grund einer Dissertation über die Entstehung der trigonometrischen Functionen und wurde zugleich magister legens. Im Winterhalbjahr 1810/11 hielt er seine erste mathematische Vorlesung bei der Universität, und seitdem sind von ihm ununterbrochen bis zu der am 14. November 1816 erfolgten Aufhebung der Erfurter Universität in jedem Semester mathematische Vorlesungen gehalten worden. Außerdem hat er zu verschiedenen Zeiten auch Philosophie vorgetragen; so wurde er nach Lossius’ Ableben damit betraut, die von demselben begonnenen Vorträge über Logik zu vollenden. Mathematische Vorträge sind von ihm, auch unabhängig von der Universität, bis zum Jahre 1826 in der Regel jeden Winter gehalten worden. Seine Zuhörer waren anfangs die Officiere der französischen Garnison, später die Mitglieder des topographischen Büreaus. Die Officiere der Erfurter Regimenter sind auf Veranlassung des Generallieutenants v. Jagow durch U. zum Besuche der Kriegsschule vorbereitet worden. Seine Ausbildung als Lehrer begann mit dem Jahre 1811, zu welcher Zeit ihm die Stelle eines Lehrers der Mathematik bei der unter Leitung des Directors Weingärtner zu Erfurt bestehenden Erziehungs- und Unterrichtsanstalt übertragen wurde. In dieser Stellung, der U. besonders die Ausbildung seiner Methode des Unterrichts verdankt, verblieb er bis zu der 1821 erfolgten Auflösung der Anstalt. Im März 1820 eröffnete er in Gemeinschaft mit seinem Bruder, dem kgl. Bauconducteur und späteren Hofagenten David Unger, eine „mathematische Privatlehranstalt“, die bald zahlreiche Schüler hatte und selbst von Ausländern gern besucht wurde. Diese Anstalt wandelte er im J. 1834 in eine förmliche Realschule um, „um dem lange gefühlten Mangel einer wissenschaftlichen Bildungsanstalt für alle diejenigen, welche keine Universität besuchen wollen oder können, entgegenzukommen. Sie sollte allen, die Fabrikanten, Kaufleute, Künstler werden, oder sich dem Bau-, Berg-, Forst-, Steuer-, Postfach oder der Landwirthschaft widmen, genug, einen technisch praktischen Beruf ergreifen wollten, die nöthige wissenschaftliche Unterlage geben.“ (Vgl. Prof. Dr. Friedrich Zange, Realgymnasialdirector, Geschichte des Erfurter Realgymnasiums, in der Festschrift zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des kgl. Realgymnasiums zu Erfurt 1894. S. 1–3 und 37.) Wenn auch die Idee der Realschulen, d. h. von Anstalten, welche eine hauptsächlich auf den sogenannten Realien (wie Geschichte und Geographie) beruhende höhere Bildung zu vermitteln geeignet sind, schon von August Hermann Francke ausgesprochen und verwirklicht und von einzelnen anderen Männern, wie Hecker in Berlin, weiter ausgebildet war, so ist doch die Einführung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Faches als didaktischen Centrums Unger’s Verdienst. – Der ursprüngliche Aufschwung, den die Unger’sche Anstalt genommen hatte, erreichte bald infolge des Entstehens öffentlicher Realschulen in den thüringischen Nachbarstädten (Nordhausen, Gotha, Saalfeld, Meiningen, Eisenach) sein Ende, und da die Schule von keiner Seite pecuniäre Unterstützung erhielt, so mußte ihr Leiter infolge pecuniärer Schwierigkeiten seine Realschule nach zehnjährigem Bestehen Ostern 1844 auflösen. So wurde die Stadt Erfurt genöthigt, durch Begründung einer öffentlichen Realschule dem einmal anerkannten Bedürfnisse entgegenzukommen. Lehrer und Schüler der Unger’schen Privatanstalt gingen in [284] die provisorisch eingerichtete städtische Anstalt, deren Ziele höher gesteckt waren, als sie bei jener vorgeschwebt hatten, über. Der ursprüngliche Begründer der Schule mußte dabei wegen seiner jüdischen Confession auf die Leitung dieser öffentlichen Anstalt verzichten. Seitdem war er im Wege des Contractes als Lehrer der Mathematik in den obersten Classen beschäftigt, bis am 6. September 1848 seine definitive Anstellung erfolgte. Am 23. October desselben Jahres erhielt er seine Berufung als Oberlehrer; am 24. Mai 1849 wurde er zum Professor ernannt. Trotz der stets zunehmenden praktischen Thätigkeit hörte U. indessen nicht auf, in seiner Wissenschaft rüstig weiter zu forschen. Er machte die Litteratur der mathematischen Lehrbücher, ein Feld, das noch wenig angebaut war, zum Gegenstande seiner Arbeit und erweiterte dieselbe durch eine Menge werthvoller und praktischer Schriften über den Rechenunterricht (vgl. Eduard Jänicke, Der Rechenunterricht in der deutschen Volksschule I, S. 40, und über die anderen Zweige der niederen und höheren Mathematik. Sein erstes selbständiges Werk ist betitelt: „Vollständiges Handbuch der Arithmetik“. 2 Bde. 1816. 2. Aufl. 1834. Kurze Zeit danach gab er ein Werkchen „Das Wesen der Arithmetik“ heraus, welches das Ziel hatte, die wissenschaftliche Bedeutung der Arithmetik nachzuweisen. Dieses Buch hat die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gezogen. Zu einer weiteren Ausbildung der Arithmetik in Beziehung auf Methode trugen noch bei Unger’s „Arithmetische Unterhaltungen, bestehend in einer systematisch geordneten Sammlung von 800 algebraischen Aufgaben“ u. s. w. (1812, 2. Aufl. 1832), sowie sein „Leitfaden für den Unterricht im Kopfrechnen als Grundlage eines zweckmäßigen Unterrichts im Rechnen überhaupt“. (1842, 2. Aufl. 1851.) Einzelne Gegenstände der Arithmetik, die in dem System nur kurz erwähnt werden konnten, sind von U. ausführlicher behandelt worden in den beiden Werken: „Abhandlungen über die wichtigsten Gegenstände der Arithmetik, besonders für Kaufleute und Rechnungsbeamte“, (1829) und „Neue Sammlung von Abhandlungen über die wichtigsten Gegenstände der Arithmetik“ (1832). Zu seinen arithmetischen Schriften gehört endlich noch „Algebra für Geschäftsleute“ (1828). – Die Ueberzeugung, daß die mathematische Analysis einer vollständig neuen Bearbeitung bedürfe, veranlaßte ihn zur Herausgabe seines „Handbuchs der mathematischen Analysis“ in 4 Bänden 1824–27. Durch dieses Werk wurde zuerst die Aufmerksamkeit der Behörden, namentlich der kgl. Artillerie-Prüfungscommission auf Unger’s Arbeiten gelenkt. Auch auf einigen russischen Universitäten ist es als Lehrbuch benutzt worden. – Die Geometrie ist von U. in gleicher Weise, wie die Arithmetik, in verschiedenen einander ergänzenden Werken bearbeitet worden. Von diesen fand die weiteste Verbreitung: „Die Geometrie des Euklid und das Wesen derselben, erläutert durch eine damit verbundene systematisch geordnete Sammlung von mehr als 1000 geometrischen Aufgaben u. s. w. Ein Handbuch der Geometrie für Alle, die eine gründliche Kenntniß dieser Wissenschaft in kurzer Zeit erwerben wollen“. 1. Aufl. 1833; 2. Aufl. mit 550 Holzschnitten 1852. – Während das preußische Unterrichtsministerium sich veranlaßt sah, dieses Werk an Lehrer zur Benutzung zu empfehlen, und dasselbe auch im Auslande vielen Beifall fand, erfuhr es in den Heidelberger Jahrbüchern eine herbe Kritik. An Unger’s geometrische Lehrbücher schließen sich: „Praktische Uebungen für angehende Mathematiker“. 2 Bde. 1828/29. Die Artillerie-Prüfungscommission sprach den Wunsch aus, der Verfasser möge in gleicher Weise Gegenstände der angewandten Mathematik bearbeiten. So entstanden die von ihm herausgegebenen Uebungen aus der angewandten Mathematik, und zwar die „Uebungen aus der reinen und der angewandten Stereometrie“ (1830) und „Uebungen aus der Statik und Mechanik der festen Körper für Techniker“ u. s. w. 3 Bde. 1. Aufl. 1829–30, 2. Aufl. 1851–54. [285] Als zur Geometrie gehörend sind hier noch anzuführen: „Handbuch der ebenen und sphärischen Trigonometrie“ (1821), ferner: „Anfangsgründe der praktischen Geometrie nach dem Französischen des Lacroix“, welches einen Theil des großen kriegswissenschaftlichen Werkes von Bechstein bildet. – Es bleibt noch übrig zu nennen das „Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach dem Französischen des Lacroix“. – Didaktischer Natur ist Unger’s Programmabhandlung von 1836: „Ueber den mathematischen Unterricht auf Realschulen“; rein wissenschaftlich sind die folgenden: „Das Wesen des geometrischen Satzes“ (1837); „Kurzer Abriß der Geschichte der Zahlenlehre von Pythagoras bis auf Diophant“ (1843); „Die Bedeutung der zwei Bücher des Apollonius von den Berührungen für die geometrische Analysis“ (1855.) Mit seiner pädagogischen und wissenschaftlichen Thätigkeit ist jedoch Unger’s Wirksamkeit noch nicht abgeschlossen. Er hat auch im weiteren Sinne eine gemeinnützige Thätigkeit ausgeübt, indem er den Plan für die „Gothaer Lebens- und Feuerversicherung“ entwarf; der in diesem Institute herrschende Grundsatz der „Gegenseitigkeit“ war seine Lieblingsidee. Er gab ferner ein „Handbuch der Staatslotterieanleihen“ (1841) heraus und beschäftigte sich mit der Einrichtung von Sterbekassen („Belehrungen über Begräbnißcassenvereine“ 1854), indem er die Principien vorschrieb, nach welchen jene vielfach in ihrem Fortbestande bedrohten Einrichtungen zweckmäßig umgestaltet werden könnten. – Schließlich hat er für den „Ehrentempel“ die Biographieen von Leibniz und Kant bearbeitet. – Am 20. September 1860 feierte er das Jubiläum seines Eintritts in die Reihe der Docenten der Universität Erfurt (vgl. Programm der Realschule zu Erfurt 1862), und erhielt bei dieser Gelegenheit von den städt. Behörden das Ehrenbürgerrecht verliehen. (Vgl. A. Pick: „Ein Erfurter Ehrenbürger-Brief“. Ausstellungszeitung Erfurt 1894, 30. Juni. Nr. 51, S. 5.) – Am 30. October 1861 kam U. um seine Pensionirung ein; dieselbe wurde ihm in ehrenvoller Weise unter Verleihung des Rothen Adlerordens IV. Classe gewährt. Er starb am 1. November 1870. Die Züge seines Antlitzes sind durch ein von E. v. Hagen’s Meisterhand für die Aula des Erfurter Realgymnasiums geschaffenes Oelgemälde verewigt.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Isaak Daniel Itzig (1750–1806); preußischer Oberhofbankier, Hofbaurat und Wegebauinspektor sowie Mitbegründer der jüdischen Freischule Berlin, die er bis zu seinem Tod leitete