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Artikel „Thurn, Fidel von“ von Johannes Dierauer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 223–224, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thurn,_Fidel_von&oldid=- (Version vom 15. November 2024, 10:18 Uhr UTC)
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Thurn: Fidel v. Th., St. Gallischer Staatsmann, geboren am 26. Juli 1629, † am 10. März 1719. Er stammte aus einer wahrscheinlich italienischen Familie, die sich zu Anfang des 17. Jahrhunderts im fürstlich St. Gallischen Städtchen Wil niedergelassen hatte. Sein Vater Ludwig († 1654), ursprünglich Apotheker, kam durch Handelsgeschäfte empor, kaufte unter anderm die toggenburgische Herrschaft Eppenberg und erlangte von Abt Bernard Müller für sich und seine Nachkommen das Adelsprädicat. Fidel v. Thurn erhielt seine Bildung an der Klosterschule in Rorschach und auf Universitäten, war zuerst in Wil als Kanzleibeamter thätig, bis er 1658 als „Landshofmeister“ an die Spitze der fürstlichen Landesverwaltung trat, um dann mehr als 50 Jahre lang unter einer Reihe von Aebten die St. Gallische Politik zu leiten. In den Jahren 1659–1707 war er ununterbrochen entweder der einzige oder doch der erste Vertreter der Abtei auf den eidgenössischen Tagsatzungen und den Sonderconferenzen der katholischen Kantone. Gewandt in Wort und Schrift, scharfsinnig und rechtskundig, aber auch ränkesüchtig und herrisch, gelangte der „Baron“ v. Thurn in jenen Zeiten politischer und confessioneller Zerfahrenheit zu einem tiefgreifenden Einfluß in eidgenössischen Angelegenheiten. Er betheiligte sich an den Unterhandlungen zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich und gehörte der großen, aus den Abgeordneten aller Kantone und zugewandten Orte bestehenden Botschaft an, die sich im Spätjahr 1663 zur Erneuerung des französischen Bündnisses nach Paris begab. Mit größtem Eifer beförderte er eine Zeit lang den französischen Solddienst, der ihm reichliche Pensionen und Geschenke eintrug, und er scheute sich nicht, zuweilen hinter dem Rücken der Tagsatzung, ja auch der französischen Residenten, durch directe Correspondenzen mit dem Hofe zu Gunsten Frankreichs zu operiren. Reibungen mit Frankreich, Unregelmäßigkeiten in den Soldzahlungen und namentlich die Plünderung der St. Gallischen Herrschaft Ebringen im Breisgau durch französische Truppen veranlaßten ihn aber im J. 1677, eine völlige politische Schwenkung vorzunehmen und sich aufs engste an den deutschen Kaiser anzuschließen, von welchem er für sich, für seine Familie und für das Stift noch größere Vortheile erhoffen konnte. Leopold I. erhob ihn in den Freiherrenstand und Karl VI. ernannte ihn 1714 zum oberösterreichischen geheimen Rath. Bei all seinem ehrgeizigen Streben behielt er indessen unablässig die Erweiterung der fürstlichen Macht des Klosters im Auge. Doch kann man nicht sagen, daß seine rastlose, offene und geheime Thätigkeit dem Stifte wirkliche Erfolge gesichert hätte. Er wußte unbedeutende Dinge durch diplomatische Intriguen zu großen Staatsactionen aufzubauschen, die dann häufig einen mißlichen Ausgang nahmen, weil er sich, nach einer Bemerkung von Ildefons v. Arx, zur Lenkung des St. Gallischen Staatsschiffleins „eines großen Steuerruders und Segels, wie sie mächtige Staaten führten, bediente“. Es gelang ihm nicht, die sogenannte „Communell“ im Rheinthal durchzuführen, d. h. die Ausübung der politischen Rechte, die zwischen der Abtei St. Gallen und den regierenden Kantonen in dieser Landvogtei getheilt waren, einer gemeinsamen Behörde zu übertragen. Zürich, Glarus und Appenzell wollten ihre alten Rechte nicht dem Ehrgeiz des fürstlichen Ministers und den Interessen der betheiligten katholischen Orte opfern und machten den ganzen Plan rückgängig (1676–1697). Im J. 1694 trat Th. von dem Amte eines Landshofmeisters zurück, blieb aber als des Stiftes „Erbmarschall“ Mitglied der Regierung und wußte nach dem Tode des gelehrten Abtes Cölestin Sfondrati (s. A. D. B. XXXIV, 120) auch das Vertrauen seines gestrengen und leidenschaftlichen Nachfolgers Leodegar Bürgisser (1697–1717, s. A. D. B. III, 606) zu gewinnen. Im Einverständniß mit diesem Abte arbeitete er gegen das Ende des 17. Jahrhunderts an der Verschärfung der confessionellen Spannung in der [224] Eidgenossenschaft; er besuchte geheime Conferenzen der katholischen Orte, auf welchen die Rüstungen zu einem neuen Religionskriege berathen wurden. Nach seinem Plane sollte im J. 1700 eine Straße vom Toggenburg nach Utznach über den Hummelwald gebaut werden, um dem Stifte St. Gallen eine directe Verbindung mit den katholischen Kantonen der innern Schweiz zu sichern. Und als die Toggenburger sich gegen die neue Belastung auflehnten, geschah es auf seinen Antrieb, daß der Abt, ohne Rücksicht auf die Verträge des Stiftes mit der Eidgenossenschaft, ein Bündniß mit dem Kaiser schloß (28. Juli 1702). Aber der innere Krieg, der schließlich, 1712, aus den so eingeleiteten religiösen und politischen Verwicklungen hervorging, endete für die Abtei nicht glücklich. Gleich den katholischen Kantonen unterlag sie den Streitkräften Zürichs und Berns; sie mußte froh sein, daß ihre Territorialmacht dem äußern Umfang nach erhalten blieb und daß ihre Regierungsgewalt in der Grafschaft Toggenburg nicht völlig aufgehoben, sondern nur – zu Gunsten einer freieren Bewegung des Volkes – beschränkt wurde. Th. nahm in den Friedensverhandlungen, entgegen dem starrsinnigen Abte Leodegar, eine versöhnliche Haltung an und ebnete so dem folgenden Abte Joseph den Weg zum Ausgleich mit den reformirten Kantonen, wie mit dem Toggenburg. Er starb in Lindau, 90 Jahre alt, und wurde in der Pfarrkirche zu Rorschach, wo er sich bei Lebzeiten eine noch erhaltene Grabstätte hatte errichten lassen, beigesetzt. – Th. gehörte zu der nicht geringen Zahl talentvoller schweizerischer Staatsmänner des 17. und 18. Jahrhunderts, die eine umfassende politische Betriebsamkeit entfalteten und zeitweise wohl zu bedeutendem Ansehen gelangten, die aber kein reines Andenken hinterließen, weil sie sich über jedes moralische Bedenken hinwegsetzten und nur allzu oft die eidgenössischen Interessen ihren localen und persönlichen Zielen opferten.

Ein biographisches Werk über Th. fehlt bis jetzt. Zu vergleichen sind: Ildefons v. Arx, Geschichten des Kantons St. Gallen, 3. Bd. St. Gallen 1813. – Vulliemin, Geschichte der Eidgenossen während des 17. u. 18. Jahrhunderts, 3. Bd. Zürich 1845. – Eidgenössische Abschiede VI, 1 u. VI, 2. – Correspondenz der französischen Gesandtschaft in der Schweiz 1664–1671, herausg. von Paul Schweizer (Quellen zur Schweizer Geschichte IV, Basel 1880). – Schriften v. Thurn’s, so seine (von Ild. v. Arx so genannten) „Politischen Betrachtungen und Aufsätze“ liegen auf dem Stiftsarchiv St. Gallen.