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Artikel „Thietmar“ von Wilhelm Wattenbach in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 26–28, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thietmar&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 04:56 Uhr UTC)
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Thietmar, von 1009–1018 Bischof von Merseburg, hat uns eine sehr werthvolle Chronik hinterlassen. Geboren am 25. Juli 975 stammte er aus sehr vornehmer Familie der Grafen von Walbeck und von mütterlicher Seite der Grafen von Stade, verwandt mit den angesehensten Fürstenhäusern und selbst mit den Ottonen. Er war aber unansehnlich von Gestalt und wurde als Kind durch einen Bruch des Nasenknorpels entstellt. Eine weitere Entstellung durch eine auf der linken Seite des Gesichts ausgebrochene Fistel mag erst später eingetreten sein, aber schon als Kind scheint er als ungeeignet zum Kriegsmann betrachtet zu sein und wurde zum geistlichen Stande bestimmt. Den ersten Unterricht genoß er von seiner Muhme Emnilde im Stift Quedlinburg, dann wurde er 988 Ricdag, dem Abt des Johannesstifts in Magdeburg anvertraut. Ihm hier eine Stelle zu verschaffen gelang aber nicht, doch wurde er am 1. November [27] 991 in die Brüderschaft des Domcapitels zu Magdeburg aufgenommen. Endlich gelang es ihm 1002 durch Abtretung eines Landgutes an seinen Oheim die Propstei des von seinem Großvater gestifteten Klosters Walbeck an der Aller zu erhalten. Dagegen lehnte er die Zusage, aus seinem Vermögen das Stiftsgut von Merseburg zu vermehren, ab, und erhielt 1009 die bischöfliche Würde ohne Bedingung. Sich selbst und seinem Charakter gibt er in seiner Chronik ein sehr schlechtes Zeugniß, aber eben die Demuth dieses Bekenntnisses läßt vermuthen, daß er, wenn auch nicht frei von Schwächen, doch von redlichem Streben beseelt war, und zu diesem Schlusse führt auch die in seiner Chronik überall hervortretende Gesinnung. Leider fehlt es ganz an Aeußerungen von Zeitgenossen über ihn. Er starb am 1. December 1018.

Von den politischen Begebenheiten wurde er vielfach unmittelbar berührt; schon 994 sollte er den noch einmal wieder siegreich vordringenden Normannen als Geisel übergeben werden, und später waren es die Verhältnisse zu den wendischen und polnischen Nachbarn, welche ihn und seine Verwandten oft gefährdeten; er selbst mußte mit seinen Lehnsmannen den Kaiser in den Krieg begleiten. Schon 1004 ist er von Heinrich II. bei seiner Priesterweihe beschenkt worden, und seitdem war er häufig am Hofe und empfing auch den Kaiser als Wirth in Merseburg, so daß es ihm nicht an Gelegenheit fehlte, auch von entfernteren Vorgängen Kunde zu erhalten.

Das Bisthum Merseburg war durch Giseler’s Ehrgeiz zerstört und erst 1004 wieder hergestellt worden; diese Vorgänge waren es zunächst, welche Th. veranlaßten, im J. 1012 sein Geschichtswerk zu beginnen. Allein bald erweiterte sich sein Gesichtskreis, er schrieb eine Reichsgeschichte von Heinrich I. an, und verwandte dazu als der erste gelehrte Geschichtschreiber das Werk Widukind’s, dann auch die später ihm bekannt gewordenen Quedlinburger und wohl auch Halberstädter Jahrbücher, auch nekrologische und andere Nachrichten nebst mündlichen Berichten. Zugleich verzeichnete er bis nahe an seinen Tod die Begebenheiten seiner Zeit, wie sie ihm zu Ohren kamen oder er sie selbst mit durchlebte. Für Otto III. und Heinrich II., den er sehr verehrte, ist er unsere wichtigste Quelle. Im Vordergrunde steht natürlich, was ihn und sein Bisthum am nächsten berührte, vorzüglich die Kriege mit Wenden und Polen, aber ausgeschlossen ist nichts. Er berichtet von sich selbst und seiner Sippschaft, von Träumen und Wundern, von dem erbaulichen Ende frommer Personen. Die Darstellung einheitlich zu gestalten vermochte er nicht, nur im allgemeinen tritt die wehmüthige Erinnerung an die Glanzzeit Heinrich’s I. und Otto’s I. lebhaft hervor, und der Kummer über die arge Verschlechterung der Zeiten, den Verfall des Reichs und die Verwilderung der Sitten. Seine Wahrheitsliebe ist unbezweifelt, und gerade durch die Fülle einzelner, an sich unbedeutender Mittheilungen gewährt er, wie früher Gregor von Tours, einen unschätzbaren Spiegel seiner Zeit. Lebhafte Vaterlandsliebe und uneigennützige redliche Gesinnung sind unverkennbare Vorzüge seines Werkes; die Ausdrucksweise ist ziemlich unbeholfen.

Sein uns, wenn auch nicht vollständig, erhaltenes Autograph zeigt noch deutlich die Art, wie er gearbeitet hat, mit der Zeitgeschichte beginnend, dann rückgreifend auf die Anfänge, und unaufhörlich bessernd und nachtragend; in sorgfältigster Weise hat auf Durchforschung derselben Fr. Kurze[WS 1] seine Ausgabe begründet, neben welcher die früher beste von Lappenberg veraltet ist.

Thietmari Chronicon ed. Fr. Kurze. Hann. 1889. – Uebers. Geschichtschr. d. deut. Vorzeit XI, 1, 2. A. 1879 von Strebitzki; mit Verbesserungen und neuem Vorwort von Wattenbach 1892. – Wattenbach, D. Geschichtsqu. (6. A.) [28] I, 355–360. – W. Gundlach, Heldenlieder der deutschen Kaiserzeit I (1894), 114–156, mit versch. Einwendungen gegen Annahmen von Kurze.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Friedrich Kurze (1863–1915), Gymnasialoberlehrer