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Artikel „Tanchelm“ von Jacob Cornelis van Slee in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 364–365, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tanchelm&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 14:06 Uhr UTC)
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Tanchelm: Tanchelinus oder Tankelyn, seltener Tandemus, ein eigenthümlicher Häresiarch, welcher im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts in Seeland und Brabant besonderes Aufsehen beim Volke machte. Wiewohl nur einfacher Laie, wußte er durch hinreißende Beredtsamkeit besonders die Frauen für seine Ansichten von Kirche und Religion zu gewinnen. Bald trat er nicht nur in den Häusern, sondern auch öffentlich auf freiem Felde als Volksprediger in fast königlicher Haltung auf; Trabanten, welche ihn begleiteten, trugen ihm Schwert und Banner voraus. Den Geistlichen der Utrechter Diöcese machten seine der Hierarchie feindlichen Lehrsätze keine geringe Sorge. Ihm zur Seite standen ein Priester Everwacher, welcher sich durch sein Auftreten gegen einige, dem Utrechter Capitel zustehende Zehnten berüchtigt gemacht hatte, und ein Schmied, Manasse, welcher zwölf Männer und eine Frau als Vertreter der Apostel und der Maria in seinem Gefolge hatte. Um 1112 zogen diese drei Männer nach Rom, um, wie es scheint, nicht ganz ohne politisches Interesse, die Loslösung der „am Meere liegenden Länder“, d. h. Seelands, vom Utrechter Bisthume vom Papste zu erlangen, um sie dem reformatorisch gesinnten Bischofe von Terouane, Johann de Commins, unterzuordnen. Genau aber kennen wir den Zweck dieser Reise nicht, und noch weniger ihren Erfolg. Ende 1112 oder Anfang 1113 treffen wir T. und seine Freunde zu Köln an, wo sie als Häresiarchen ins Gefängniß geriethen, T. aber zu entkommen wußte. Jetzt zog er – Everwacher’s und Manasse’s Loos ist ferner völlig unbekannt – nach Brügge, fand [365] dort aber eine wachsame Geistlichkeit, welche ihn mit dem Bann belegte und zur Abreise zwang. Nach Antwerpen ausgewandert, wo nur ein einziger und dazu noch leichtsinniger Parochiepriester war und die weltlichen Geistlichen sich wenig um die religiösen Interessen der Gemeinde kümmerten, fand er einen fruchtbaren Boden für seine antikirchlichen Lehren und gewann bald einen großen Anhang. Man ehrte ihn dort fast wie einen Heiligen; es wird erzählt, daß man sein Badewasser trank. Das Mönchskleid, dessen er sich auf der Reise nach Rom bedient hatte, legte er jetzt ab, kleidete sich fürstlich mit goldenem Hauptschmucke und zog, von dreitausend Gewaffneten umgeben, wie ein König durch Stadt und Land, von der Geistlichkeit und dem Adel gefürchtet, bis er 1115 auf einer Wasserfahrt von einem Priester erschlagen wurde. Allmählich verlor sich nun auch sein Anhang; aber noch 1124 riefen die Kanoniker zu Antwerpen den Prämonstratenser-Abt Norbert wider den Tanchelmisten zu Hülfe.

Es fragt sich nun, welcher Art Tanchelm’s Heterodoxie gewesen sein mag. Von kirchlicher und daher feindseliger Seite ist ihm der Vorwurf gemacht, seine Lehre sei eine Blasphemie der Kirche Christi, indem er behauptete, Papst, Bischöfe und Priester seien Nichts; die wahre Kirche aber sei bei ihm und den Seinigen. Die Wirkung der Sacramente hing, wie er sagte, durchaus von der Frömmigkeit der Priester ab, deren Unheiligkeit sie zu nichte mache. Dabei sollte er das Volk ermahnt haben, den Priestern keine Zehnten zu zahlen. Auch sein Leben und Charakter wurden von seinen Feinden als durchaus tadelnswerth und sittenlos geschildert. Die meisten dieser Beschuldigungen, besonders der Vorwurf einer schändlichen Unsittlichkeit, sind nicht genügend erwiesen; aber läugnen läßt sich nicht, daß T. einen anstößigen Stolz und große Eitelkeit zeigte, indem er behauptete, daß, wenn Christus Gott war, weil der heil. Geist in ihm wohnte, mit gleichem Rechte auch er als Gott zu betrachten sei, weil auch in ihm die ganze Fülle des heil. Geistes wohne. Es ist in der That schwer, sich ein bestimmtes Bild seiner Lehren zu machen. Es scheint sich bei ihm weniger um Bestreitung der Kirchenlehre gehandelt zu haben, als um die Stellung, welche sich die Geistlichen der Laienwelt gegenüber angemaßt hatten, und um ihr gottloses Leben. T. mag daher unter jene Geister gezählt werden, welche zu seiner Zeit, wie die Petrobrusianer und Henricianer, die Bedeutung der menschlichen Freiheit und Persönlichkeit auf religiösem Gebiete geltend machten und die Superiorität des Priesterstandes über die Laienwelt leugneten. Verfolgte er also anfangs vielleicht löbliche Zwecke als Bekämpfer einer herrschsüchtigen Hierarchie, so ließ er sich doch bald durch den Beifall, den sein Auftreten fand, weit über das Maaß hinausreißen zu einem Demagogenthum, welches dem späteren eines Johann von Leiden gleicht. – Die Nachrichten über diesen räthselhaften Mann entlehnen wir hauptsächlich der „Epistola Trajectensis ecclesiae ad Fridericum archiepiscopum Coloniensem“, welche 1112 geschrieben und von Hartzheim III, p. 763 s.s. und Mertens en Torfs, Geschiedenis van Antwerpen I, bl. 527 v.v. herausgegeben ist.

Vgl. ferner die Abhandlung von Joh. de Vries im Kalender voor de Protestanten in Nederland, 1862, bl. 60 v.v. Besonders aber Moll, Kerkgesch. v. Nederl. II, 3. st. bl. 42 v.v. und die Preisschrift von H. G. Janssen in den Annales de l’Acad. d’Archéol. de Belgique, 2. Serie III, wo auch die weiteren Quellen erwähnt sind.