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Artikel „Sidler, Georg Joseph“ von Gerold Meyer von Knonau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 162–164, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sidler,_Georg_Joseph&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 19:47 Uhr UTC)
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Sidler: Georg Joseph S., schweizerischer Staatsmann, geboren zu Zug am 25. Juni 1782, † in Unterstraß bei Zürich am 27. Mai 1861. Der Sohn eines gewesenen französischen Officiers und nachherigen in verschiedenen höheren Beamtungen seiner engeren Heimath stehenden angesehenen Bürgers von Zug, erlebte S. in den ersten Jünglingsjahren die helvetische Revolution von 1798, in deren Folge er schon mit sechszehn Jahren als Secretär der Verwaltungskammer des neuen Kantons Waldstätten diente. Dann aber studirte er von 1801 bis 1808, mit knappen Mitteln, in Freiburg, Salzburg und zuletzt längere Zeit in Wien die Rechtswissenschaft. Zurückgekehrt, wurde er 1809 Mitglied des Stadt- und Amtsraths in dem durch die Mediationsacte hergestellten kleinen Staatswesen von Zug, und von 1810 an vertrat er lange Zeit hindurch seinen Kanton, bald als erster, bald als zweiter Gesandter, auf den Tagsatzungen. In dieser Eigenschaft wurde er – wie mit Recht angenommen wird, gewiß zu seiner eigenen Ueberraschung – durch sein Auftreten auf der in Solothurn abgehaltenen Tagsatzung von 1811 eine auf einmal vielgenannte Persönlichkeit. Der französische Selbstherrscher, der in ungewöhnlicher Weise tiefe Einsicht in Dinge, welchen er seine Sachkunde zugewendet hatte, mit billiger Rücksicht und verständnißvoller Mäßigung bei Aufstellung der „Vermittlung“ der Schweiz 1803 verbunden hatte, war infolge der Continentalsperre seiner milderen Handlungsweise abtrünnig und auch gegen die Schweiz gewaltsam, keine Schranken achtend, geworden. Das Einrücken von Truppen des Königreichs Italien in den Kanton Tessin und das graubündnerische Thal Misocco, eine rohe Verletzung der eigenen früher ertheilten Ordnung, schien eine Andeutung in sich zu enthalten, daß der St. Gotthard als Südgrenze der Schweiz zu gelten habe. Allein die Tagsatzung, wenn sie sich auch zu schwach fühlte, um gegen den Gebieter Europas etwas thun zu können, ließ wenigstens in Bitten um Zurückziehung der willkürlich schaltenden fremden Soldaten ihre Nichteinwilligung in das Geschehene erkennen. Da wagte es S., eben in Solothurn, in dem gewohnheitsgemäß [163] dargebrachten eidgenössischen Gruß, in Worten, welche zwar so wenig provocirend als möglich, ja fast schüchtern lauten, doch wenigstens von der Existenz dieser Angelegenheit zu sprechen. Er erinnerte an das kaiserliche Wort des „erhabenen Vermittlers“, daß die Schweiz bei ihrer Independenz und Integrität unangetastet bleiben solle, äußerte sich aber daneben, Ruhe und Festigkeit seien dem schweizerischen Geschäftsmann nöthig. Vielleicht infolge der lebhaften Art und Weise der Vorbringung dieser Worte durch den Redner, der „wegen seiner Jugend ein Phänomen in der schweizerischen Diplomatie“ war, dann durch ein Mißverständniß des französischen Gesandten, wurde die Sache Napoleon in einem unrichtigen Lichte dargestellt, was denselben bewog, am 27. Juni die Gesandtschaft der Schweiz, welche theils zur Geburt des Königs von Rom den Glückwunsch äußerte, theils Vorstellungen machen sollte (s. A. D. B. XXVIII, 40 u. 41), in auffällig bitterer hochfahrender Weise anzufahren, daß mauvaises têtes leicht die Schweiz in das Verderben hineinziehen könnten, wie es möglich gewesen sei, daß der Landammann und die anwesenden alten Magistrate den „jungen Brausekopf, kaum erst von einer deutschen Hochschule entlassen“, nicht Stillschweigen geboten hätten, und andere polternde Drohungen mehr. Erst die Mittheilung des authentischen Wortlautes der Rede Sidler’s brachte Beschwichtigung. – In der Zeit der Restauration zählte S., der 1818 zum ersten Male die Würde eines Landammanns von Zug bekleidete, zu den der Zeit am lebhaftesten vorauseilenden schweizerischen Politikern. 1828 scheute er sich nicht, in den eidgenössischen Gruß vor der Tagsatzung Worte der Ermahnung einzuflechten, daß die Tagsatzung dem Volke näher trete, ihre Verhandlungen nicht mehr hinter verschlossenen Thüren halte, worauf freilich der solothurnische Gesandte ihn scharf zurecht wies. Umsomehr stieg die Popularität des Vertreters von Zug, und die helvetische Gesellschaft ehrte ihn geflissentlich durch die Wahl zum Präsidenten. Auch 1830 wieder sprach S. öffentlich in Bern aus Anlaß des der Tagsatzung gleichzeitig stattfindenden Schützenfestes. Allein während jetzt seit der Julibewegung in der Schweiz die von S. gehegten Ideale ihrer Verwirklichung näher gerückt zu sein schienen, verlor derselbe in seiner engeren Heimath allmählich den sicheren Boden unter den Füßen. Eine an die angrenzenden Urkantone sich anlehnende demokratisch-katholische Opposition erhob sich gegen seinen Liberalismus in schweizerischen Fragen; dazu kam, daß er bei aller Beredsamkeit kein organisatorisches Talent war. Während S. Ende 1832 als Mitglied der Tagsatzungscommission für den Entwurf einer Bundesrevision (s. A. D. B. XII, 495) mit eintrat, zählte 1833 Zug zu den das Project verwerfenden Kantonen. Ebenso wurde er 1838 zum ersten Male als Tagsatzungsgesandter nicht wieder gewählt, und 1834 erhob die Zuger Landgemeinde Sidler’s politischen Gegner zum Landammann. Immer mehr schmolz von da an auch im Landrathe seine Partei zusammen, und so entschloß sich S., seine Heimath ganz zu verlassen. Er verlegte seinen Wohnsitz nach der Vorstadt Unterstraß bei Zürich, die ihn 1845 mit dem Bürgerrecht beschenkte. Seit 1837 als eidgenössischer Zollrevisor, als welcher er sich eifrig auf nationalökonomische Studien warf, Beamter der Tagsatzung, trat er jetzt seit der Bürgerrechtsschenkung als Mitglied in den Großen Rath, die gesetzgebende Behörde, des Kantons Zürich. 1848 aber wählte ihn sein zürcherischer Wahlkreis auch als Mitglied des neuen Nationalraths, den er als Alterspräsident jetzt und noch vier Mal eröffnete, an dessen Berathungen er den thätigsten Antheil nahm. Auch in eidgenössischen wichtigen politischen Missionen diente er noch mehrmals. In der Familie des Zürcher Philologen, Professor Heinrich Schweizer, der mit Sidler’s geistesstarker Tochter, einer selten begabten Frau († 1871), verheirathet war, verlebte der jugendfrisch gebliebene Greis seine Jahre, bis ihn eine Entzündungskrankheit nach kurzer Frist dahinraffte. [164] S. war eine originelle Erscheinung. Schon durch seine Erziehung abgehärtet, ein unermüdlicher Fußgänger, der es verstand, in den Tagsatzungswochen, wenn die Session von Zug nicht allzu entfernt war, den Sonntag im Schoß der Familie zuzubringen und doch schon Montags der Frühsitzung beizuwohnen, ein Schwimmer, der noch in späteren Lebensjahren sein gewohntes Seebad bis in die winterliche Jahreszeit ausdehnte, einfach in seinem Haushalte, ein Freund des Landbaues, der seinen Wein selbst zog und auf die schönen Insassen des Stalles sich etwas zu gute that, war er zugleich allen geistigen und litterarischen Interessen zugeneigt. Ein glühender Idealist, ein Redner, der hinzureißen verstand, - „Nicht in geschlossenen Sälen, an freier Landsgemeinde muß man ihn sehen, wie das Feuer der Begeisterung ihn ergreift, wie sein Auge flammt, seine Adern anschwellen, seine Muskeln in zitternde Bewegung gerathen, muß die Donnerstimme hören, mit der seine Rede ununterbrochen, kühn, glänzend, bilderreich dahinströmt“ –, war er doch ein sorgsamer Arbeiter, auch als Orator nicht improvisirend, so daß die in seinem Nachlasse vorgefundenen schriftlichen Ausarbeitungen als Quellenstücke für seine rhetorischen Leistungen noch vorhanden sind. Die Inschrift des Grabmals wendet auf S. die horazischen Verse vom justus ac tenax propositi vir mit Recht an.

Vgl. den kurzen anschaulichen Lebensabriß in Hartmann’s Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit, Bd. I, 1868.