ADB:Schweizer-Sidler, Heinrich

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Artikel „Schweizer-Sidler, Heinrich“ von Adolf Kaegi in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 282–285, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schweizer-Sidler,_Heinrich&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 18:42 Uhr UTC)
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Schweizer-Sidler: Heinrich Sch.-S., von Zürich, Philolog und Sprachvergleicher, wurde am 12. September 1815 in Elgg, Kanton Zürich, wo sein aus Zürich stammender Vater das Pfarramt bekleidete, geboren. Ursprünglich zum Theologen bestimmt, wurde er durch den Unterricht von J. U. Fäsi und J. C. v. Orelli (s. A. D. B. VI, 579 und XXIV, 411–416) schon auf dem Gymnasium für die alten Sprachen begeistert; ihrem Studium widmete er sich dann von 1835–1838 auf der Universität seiner Vaterstadt unter Orelli, Baiter und Sauppe, von denen der erste ihn am meisten beeinflußte. Daneben lernte er Sanskrit bei Bernhard Hirzel (s. A. D. B. XII, 483 u. 484) und studirte die eben damals erschienenen ersten Hefte von Bopp’s vergleichender Grammatik. Vom Frühjahr 1838 an hörte er während vier Semestern in Berlin bei Lachmann germanistische, bei Böckh und Bekker altphilologische Vorlesungen, bei Höfer Sanskrit, und vor allem genoß er die Unterweisung Franz Bopp’s, dem er auch persönlich näher zu treten das Glück hatte. Nach Zürich zurückgekehrt, habilitirte er sich mit der Schrift: „Die zwei Hauptclassen der unregelmäßigen Verba im Deutschen“ und begann im Herbst 1841 seine akademische Lehrthätigkeit, die er mit kurzer Unterbrechung – er war 1844/45 Gymnasiallehrer in Aarau – über fünfzig Jahre lang ausgeübt hat, seit 1849 als außerordentlicher, seit 1864 als ordentlicher Professor und Mitleiter des philologischen Seminars. Und neben ihr her ging ein mehr als vierzigjähriges umfangreiches Wirken auf der Mittelschule: von 1845–71 war Sch. (als Sauppe’s Nachfolger) Lateinlehrer am Gymnasium, und als im Frühjahr 1875 eine höhere Töchterschule eröffnet wurde, regte er die Errichtung eines facultativen Lateinunterrichts an der neuen Anstalt an und erklärte sich selbst zu dessen Uebernahme bereit. Wohl wesentlich durch den Einfluß seiner hochbegabten und hochgebildeten Gattin Elisabetha, geb. Sidler († 1871) (s. A. D. B. XXXIV, 163) seit langem ein überzeugter Verfechter der Gleichberechtigung der Frauen und ein warmer Förderer des Frauenstudiums, suchte Sch. auf diese Weise strebsamen Töchtern den Weg zum Studium zu erleichtern. Noch vierzehn Jahre lang hat er mit jugendlichem Eifer und warmer Begeisterung einen vorzüglich anregenden Unterricht ertheilt, bis das Alter und ein zunehmendes Augenleiden ihn 1889 zum Rücktritt nöthigte. Noch setzte Sch., von Vorlesern und Vorleserinnen darin unterstützt, den Fortschritten der Wissenschaft zu folgen, einzelne Vorlesungen zu Hause fort bis zum Ende des Wintersemesters 1893/4, wenige Wochen vor seinem am 30. März 1894 erfolgten Tode.

Sch.-S. war einer der ersten Docenten für Sanskrit und vergleichende Sprachforschung, und sein Verdienst ist es, daß Zürich für diese Disciplinen früher als manche größere Universität einen Lehrstuhl besaß und daß hier durchschnittlich wesentlich mehr Sanskrit getrieben wurde und wird als anderwärts. [283] Im Mittelpunkt von Schweizer’s akademischer Thätigkeit standen alle Zeit Altindisch, Lateinisch und Germanisch; das Griechische trat von jeher mehr zurück und wurde wie der Veda auf Schweizer’s Wunsch 1876 von A. Kaegi übernommen. Im Sanskrit verband er gewöhnlich mit der Darstellung der Elemente die Interpretation leichterer Texte; daneben behandelte er auch Bhagavadgita, Meghaduta, einzelne Dramen und Vedahymnen. Fürs Lateinische waren neben der Erklärung von Plautus, Lukrez, Horaz u. A. seit 1851 seine Hauptvorlesungen die „Grammatik der indogermanischen Dialekte des alten Italiens“ und die Interpretation von Tacitus’ Germania, zu der ihn umfassendste Sach- und Sprachkenntnisse auf italischem, germanischem und indogermanischem Gebiet in seltenem Maße befähigten. An Germanistika las er gothische, alt- und mittelhochdeutsche Grammatik und erklärte gothische, alt- und mittelhochdeutsche Texte. In allem Unterricht Schweizer’s überwog stets die formale, grammatisch-etymologische Behandlung; doch war er immer, auf der Universität wie auf der Mittelschule, überaus anregend, packend und vielseitig belehrend. Sein erstaunliches Wissen, das ihm ein bewundernswerth treues Gedächtniß bis in die letzten Tage immer präsent hielt, seine Begeisterung für den Stoff, den er vermöge einer glücklichen Redegabe äußerst lebendig zur Darstellung brachte, der von der innern Freude am Gegenstand durchwärmte Ton seiner kräftigen Stimme, die treuherzigen blauen Augen in dem edeln, freundlichen, von hellblonden (vom Alter kaum berührten) Locken umrahmten Angesicht konnten ihren Eindruck nie verfehlen. Seine begeisterte Freude an allem Wahren, Guten und Schönen theilte sich den Hörern mit; sein unermüdlicher Arbeitseifer spornte auch die Schüler zu regem Fleiße an. Mit jugendlicher Frische folgte Sch. noch bis in die letzten Zeiten dem Fortgange der Wissenschaft und war immer bereit, seine Ansichten nach den neuesten Forschungen zu modificiren, ja Manche fanden, er gehe darin zu weit – ein Vorwurf, den man dem Alter sonst selten machen wird.

Schon im Anfang seiner Wirksamkeit als Gymnasiallehrer als der Ersten einer und Zeit seines Lebens immer wieder, auf dem Katheder, vor Behörden, in Vorträgen, in zahlreichen Aufsätzen verfocht Sch. gegenüber den Verfechtern hergebrachter Routine wie gegenüber ausschließlich classischen Philologen die Ansicht, daß die sichern Resultate der vergleichenden resp. historischen Sprachforschung auch im Gymnasialunterricht, zumal im Lateinischen und Griechischen Verwendung finden sollten. „Schon der Anfangsunterricht“ – verlangte er – „muß brechen mit der Tradition, mit dem bloß gedächtnismäßigen Einprägen der sprachlichen Thatsachen; auch in ihm schon müssen die in größeren Zusammenhängen gefundenen Errungenschaften zur Geltung kommen, zum allerwenigsten in der Anordnung und Trennung der sprachlichen Formen, in der Gruppirung des Stoffes, der dem Lernenden, statt in empirischem Durcheinander, in klarer Gliederung, nach den verschiedenen Arten der Entstehung vorgeführt werden soll. Ein Elementarunterricht, der so die sichern Wahrheiten mit Takt und Geschick verwendet, wird nicht nur zu richtigern, sondern auch zu raschern und fester haftenden Ergebnissen führen, weil er anschaulicher ist und die verwirrende Willkür beschränkt, weil er nicht nur das Gedächtnis, sondern in hervorragendem Maße auch das Denkvermögen bethätigt und bildet; er gibt die Sprache nicht fertig, sondern als gewordene und werdende und vermittelt so dem Schüler, wenn nicht die Anschauung selbst, so doch die Grundlage für die richtige Anschauung von Wesen und Charakter der Sprache.“ Dabei ist er in seinem Unterricht und seinen Forderungen manchmal über das hinaus gegangen, was im allgemeinen der Schule nützlich oder zu leisten möglich ist (vgl. unten über seine lateinische Elementar- und [284] Formenlehre), und er ist darum gelegentlich auf lebhaften Widerspruch gestoßen (vgl. z. B. die Verhandlungen des schweizer. Gymnasiallehrervereins von 1882 in dessen 15. Jahresheft). Aber sein Unterricht hat doch auf dem Gymnasium schon Manchen mächtig angeregt, seine zahlreichen Schüler haben als Lehrer seine Anregungen weithin reichlich verwerthet, und die lateinischen Lehrbücher seines Freundes Joh. Frei, die griechischen seines Schülers Kaegi haben die Resultate der historischen Sprachforschung herangezogen, soweit sie den Schülern das Begreifen und Lernen erleichtern. Sch. hat darum ihr Erscheinen in der Fachpresse wiederholt freudig begrüßt, und seine Anschauungen und Anregungen haben so weit über den Kreis seiner unmittelbaren Schüler hinaus gewirkt.

Daß Sch. bei einer intensiv und extensiv so bedeutenden Lehrthätigkeit – bis auf 30 belief sich oft die Zahl seiner Unterrichtsstunden an Schule und Universität – erst spät und nur selten mit größern selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten hervortrat, ist leicht zu begreifen; dagegen publicirte er seit den vierziger Jahren eine überaus große Anzahl von Aufsätzen, besonders Anzeigen und Recensionen sprachwissenschaftlicher Litteratur, deren manche sich zu Abhandlungen von bedeutendem Umfang und selbständigem Werth auswuchsen. Sie geben immer ein gutes Bild vom Inhalt der betreffenden Werke, anerkennen mit Freude den gewonnenen Fortschritt und wissen auch den Tadel in bestimmte, niemals verletzende Form zu kleiden; sie suchen aber auch das Gedeihen der Wissenschaft dadurch zu fördern, daß Sch. Forscher auf verwandten Gebieten, die in verschiedener Richtung arbeiteten und auf die gegenseitigen Leistungen allzuwenig oder gar keine Rücksicht nahmen, öfter auf einander hinwies. So machte er z. B. Pott und Leo Meyer auf F. Ritschl’s wichtige Bonner Programme aufmerksam und empfahl andrerseits F. Bücheler, W. Wackernagel u. A. die Berücksichtigung der Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung. Und in ähnlich vermittelnder Weise bemühte er sich, den Arbeiten. romanischer Forscher wie Breal und Ascoli in Deutschland die gebührende Beachtung zu verschaffen, wie er denn auch die von ihm und J. Bazzigher (nachmals Rector in Chur) publicirte Uebersetzung von Ascoli’s Vorlesungen über vergleichende Lautlehre (Halle 1872) angeregt hat.

Von eigenen wissenschaftlichen Arbeiten sind drei zu nennen: 1. die Beiträge zur vergleichenden Syntax (über den Ablativ und Instrumentalis im Rigveda. Höfer’s Zeitschrift Bd. 2 u. 3, 1850/1851; und zum Komparativ, Pädagog. Revue Bd. 24, 1854), ein vielversprechender Anfang, der von Sch. leider nicht fortgesetzt und erst mit B. Delbrück’s Ablativ, Lokalis und Instrumentalis, Berlin 1867, wieder aufgenommen wurde. 2. die „Elementar- und Formenlehre der lateinischen Sprache für Schulen“, Halle 1869 – ein Buch, das allgemein als eine verdienstliche Sammlung und Darstellung der damals gewonnenen Ergebnisse der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft anerkannt, aber vom pädagogischen Standpunkt aus von der Schule durchaus abgelehnt wurde. Als nach langer Zeit eine neue Auflage nöthig wurde, entschloß sich Sch. zur völligen Umarbeitung, die wegen seines Augenleidens ihm allerdings nur durch die sehr weitgehende Mitarbeit seines Schülers A. Surber auszuführen möglich war. Das Buch erschien 1888 als „Grammatik der lateinischen Sprache. I. Theil“ mit völlig neuer Zweckbestimmung: als Grundriß für Universitätsvorlesungen. Ein zweiter Theil ist nicht erschienen. 3. „Cornelii Taciti Germania“, erläutert von H. Sch.-S., Halle 1871, ein vorzüglicher Commentar, der sich rasch weite Verbreitung gewann (5. Aufl. 1890; sechste Aufl., vollständig neu bearbeitet von Dr. Ed. Schwyzer, 1902). – Daneben die Ausgabe mit lateinischem Commentar (P. Cornelii Taciti [285] Germania. Denuo edidit atque interpretatus est H. S.-S.) als vol. II, fasc. 1 der zweiten Orelli’schen Tacitusausgabe, Berlin 1877.

Endlich muß noch der hervorragende Antheil erwähnt werden, der Sch. an der Entstehung des Schweizerischen Idiotikons zukommt. Er war es, der 1862 die Antiquarische Gesellschaft in Zürich dazu veranlaßte, die Sammlung der Schätze unserer Dialekte an die Hand zu nehmen, und er hat als Mitglied der leitenden Commission und als treuer Freund des ersten Hauptredactors F. Staub durch sachkundigen Rath und allezeit bereitwillige Unterstützung gerade in den schwierigen Zeiten der Anfänge (die erste Lieferung erschien 1882) sich bleibende Verdienste um dieses große vaterländische Werk erworben.

Am politischen Leben hat sich Sch. nicht betheiligt; er lebte ganz nur seiner Lehrthätigkeit und der Beschäftigung mit seiner Wissenschaft. Aber seine schlichte, sympathische Persönlichkeit genoß auch über die Schul- und Universitätskreise hinaus größte Hochachtung, zumal er es wohl verstand und gelegentlich übte, aus dem reichen Schatze seines Wissens auch einem größern Publicum eindrucksvolle Bilder aus dem Leben und Denken der arischen Völker vor Augen zu stellen. Jene allgemeine Hochachtung würde wohl bei Anlaß seines fünfzigjährigen Docentenjubiläums beredten Ausdruck gefunden haben; aber Schweizer’s Gesundheitszustand nöthigte, von jeder größeren Feier abzusehen. Die philosophische Facultät wollte jedoch den so Wenigen beschiedenen Ehrentag ihres Seniors nicht unbemerkt vorübergehen lassen. Sie veranlaßte darum sechs ehemalige Schüler Schweizer’s (A. Tobler in Berlin, W. Meyer-Lübke in Wien, F. Misteli in Basel, A. Surber, A. Kaegi und H. Morf in Zürich) zur Abfassung einer Festschrift („Philologische Abhandlungen Heinrich Schweizer-Sidler … gewidmet …, Zürich 1891“) und überreichte sie ihm als Zeichen ihrer Verehrung, ihm, „dem leuchtenden Vorbild des gewissenhaften Lehrers, des unermüdlichen Forschers, des festen Biedermanns“.

Vgl. C. Th(omann). in der Neuen Zürcher Zeitung 1894, Nr. 93. – Leichenrede von Pfarrer J. Wißmann und Rede von stud. phil. E. Ermatinger beim Begräbnisse von H. Schw.-S., Zürich 1894. – J. Brunner und A. Geßner im 25. Jahresheft des Vereins schweiz. Gymnasiallehrer, Aarau 1895. – Rob. v. Planta im Anzeiger für indogerm. Sprach- und Alterthumskunde von W. Streitberg, 5. Bd., S. 97–100. – A. Surber in Bursian’s Biograph. Jahrbuch für Alterthumskunde. 21. Jahrgang, Berlin 1898 (= Jahresberichte Bd. 99), S. 97–122 (die drei letzten mit ausführlichen Litteraturangaben).