ADB:Schmitthenner, Friedrich Jakob
Schelling’schen Philosophie geworden, wandte er sich der philosophischen [49] Facultät zu, um schließlich im Studium der Geschichte die größere Befriedigung zu finden. In wiedrunkelischen und, nach kurzer Soldatenzeit, in nassauischen Diensten war er seit 1815 Rector, Pfarrer, Prorector (erst in Dillenburg, dann in Wiesbaden), Seminardirector (in Idstein), behielt aber immer als höheres Ziel die akademische Laufbahn vor Augen, in die er schließlich 1828 als Professor der Geschichte in Gießen eintreten durfte. Der Ludoviciana hat er dann auch mit einer Unterbrechung von drei Jahren, die er als Oberstudien- und Oberschulrath in Darmstadt zubrachte (1832–1835), als einer ihrer meistgehörten und einflußreichsten Lehrer angehört bis zu seinem Tode: am 19. Juni 1850. Schon seit 1830 behandelte er in seinen Vorlesungen neben der Geschichte auch die Staatswissenschaften und nach der Rückkehr aus Darmstadt vertauschte er die historische Professur mit einer solchen des Staatsrechts und der Nationalökonomie. Die letzten 15 Jahre seines Lebens waren litterarischer wie praktischer Arbeit auf diesem Gebiete gewidmet; die öffentlichen Angelegenheiten des engern und weitern Vaterlandes fanden an ihm einen sachkundigen Beurtheiler und energischen Vertreter, der in wirthschaftlichen und Verwaltungsfragen von entscheidender Bedeutung durch Rede und Schrift wirkte und sich in mehrfachen Vertrauensstellungen die Dankbarkeit vor allem auch der Stadt Gießen erworben hat.
Schmitthenner: Friedrich Jacob S., Grammatiker und Lexikograph, Nationalökonom und Staatsrechtslehrer. Er wurde als der Sohn eines Pfarrers zu Oberdreis im Fürstenthum Wied am 17. März 1796 geboren und erhielt seine Jugendbildung im Vaterhause und auf dem Idsteiner Gymnasium. Im Frühjahr 1813 bezog er die Universität Marburg, die er nur vorübergehend – im Sommer 1815 – mit Gießen vertauschte. Er begann mit dem Besuche medicinischer Vorlesungen, aber, durch Privatstudium zu einem eifrigen Anhänger derSchmitthenner’s litterarische Thätigkeit ist eine ungemein rege und vielseitige gewesen. Poetische Jugendversuche werden abgelöst durch Lehr- und Handbücher der deutschen Sprache und Geschichte, dann folgen Werke von wissenschaftlicher Haltung und wissenschaftlichen Ansprüchen über deutsche und vergleichende Grammatik, deutsche Lexikographie und Etymologie, die etwa das Jahrzehnt von 1825 bis 1835 beherrschen und schließlich größeren systematischen wie kleineren praktischen Arbeiten staatsrechtlicher und volkswirthschaftlicher Richtung den Platz räumen. Im ganzen vollzieht sich in ihm ein Uebergang von naturphilosophischer zu historischer und weiterhin zu praktisch-empirischer Auffassung, ohne daß jedoch die philosophische Speculation und historische Construction je vollständig überwunden werden.
Unter seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten verdienen drei besonders genannt zu werden: „Ursprachlehre. Entwurf zu einem System der Grammatik mit besonderer Rücksicht auf die Sprachen des indisch-teutschen Stammes“ (Frankfurt 1826); „Teutonia. Ausführliche Teutsche Sprachlehre, nach neuer wissenschaftlicher Begründung“ (Frankfurt 1828), und sein „Kurzes deutsches Wörterbuch für Etymologie, Synonymik und Orthographie“ (Darmstadt 1834), das in der zweiten Auflage (1837) von 360 auf 573 Seiten anwuchs und später von Schmitthenner’s Schüler Weigand umgearbeitet, zuletzt in dessen eigenem Werke ganz aufgegangen, den Namen des Verfassers in den Kreisen der Germanisten fast allein lebendig erhalten hat. Schmitthenner’s linguistische Leistungen fallen zeitlich dicht vor die großen Hauptwerke Bopp’s und Pott’s, welche sein System der vergleichenden Grammatik wie seine etymologischen Grundsätze überholt und bei Seite geschoben haben. Immerhin verdiente seine „Ursprachlehre“ eine historische Würdigung, die vielleicht doch mehr bleibendes Verdienst aufdecken würde, als nur das in Pott’s Umformung („indogermanisch“) fortlebende Wörtchen „indisch-teutsch“. S. steht mit seiner Sprachbetrachtung etwa in der Mitte zwischen dem philosophischen Standpunkt K. F. Becker’s und dem historisch-empirischen Jacob Grimm’s. Oder richtiger: er will einen solchen Mittelweg einschlagen, bleibt aber thatsächlich trotz allem sprachhistorischen Aufputz der philosophischen Grammatik eng zur Seite. Der Grammatiker braucht nach ihm eine gründliche philosophische Bildung, er darf freilich auf kein philosophisches System schwören; die Grammatik muß ein auf philosophischen Principien entwickeltes [50] System bieten, aber sie muß ihre Sätze „mit dem Zeugniß der Geschichte ausstatten“; sie soll auf die Grundsätze der Logik gebaut, aber zugleich historisch und vergleichend gestützt sein. Die Psychologie kommt bei ihm nicht zu ihrem Rechte, und die Sprachgeschichte wird auch nur willkürlich und nach Opportunität herangezogen. Ueberdies fehlt es S. für die „Altsprache“ zwar nicht an Belesenheit, wohl aber an gründlichem Studium. In der Etymologie ist er zuweilen glücklich, oft geistreich, aber fast immer willkürlich.
Aehnliche Mängel wie seine grammatischen zeigen nach dem Urtheile Berufener, denen ich hier folge (Bluntschli, Roscher), auch seine staatsrechtlichen und volkswirthschaftlichen Arbeiten und Erörterungen, in denen sich übrigens der Etymologe von Passion oft genug verräth. Sein Hauptwerk auf diesem Gebiete, die „Zwölf Bücher vom Staate oder systematische Encyclopädie der Staatswissenschaften“, ist unvollendet geblieben (erschienen ist Bd. 1 und Bd. 3, Gießen 1839 u. 1845). Auch hier beherrscht ihn das Streben, historische und philosophische Methode zu einem „geschichtlich-organischen Verfahren“ zu vereinigen. Auf der einen Seite wird die Möglichkeit bestritten, das Wesen eines organischen Systems, wie der Staat ist, durch verstandesmäßige Entwicklung von Begriffen zu erkennen, wo derselben nicht durch geschichtliche Erkenntniß die Prämissen gegeben sind – auf der andern zeigt sich die verhängnißvolle Neigung, das Wesen des Staates aus einzelnen bestimmten historischen Erscheinungsformen zu abstrahiren, wie dem altgermanischen Staate oder dem Staate des classischen Alterthums. Es ist dieselbe Vorliebe für Anwendung einer einfachen Schablone, die ihn auch in der Grammatik „eine höchst einfache, vernunftgemäße Wissenschaft“ finden und durch die Geschichte bestätigt sehen ließ. Aber auch die Lichtseiten von Schmitthenner’s Universalität hebt Roscher hervor: bei jeder wissenschaftlichen Specialfrage stand ihm der lebendige Organismus der Volkswirthschaft im ganzen vor Augen, und seiner reichen Bildung verdankt er Interesse und Verständniß auch für die übrigen Seiten des Volkslebens in ihrem Parallelismus gegenüber der Volkswirthschaft. Als Politiker nimmt er eine gemäßigte Haltung, eine liberal-conservative Mittelstellung ein, wie er sie zur Zeit der Frankfurter Nationalversammlung auch journalistisch – in der Oberpostamtszeitung – vertreten hat. Er tritt dem mißtrauischen Vorurtheil, welches das constitutionelle System als eine Erfindung der neuen Zeit behandelt, entgegen mit dem Hinweis auf die älteste germanische Verfassung, aber er will über der Volksrepräsentation eine starke Centralgewalt, in der er die Seele des Staates und den Mittelpunkt des öffentlichen Lebens sieht. Scharf betont er den Unterschied zwischen Regierung und Verwaltung. Das Recht der Gesetzgebung soll nur an die Zustimmung des Volkes gebunden sein. Ein Geist sittlicher Erhebung geht durch diese Ausführungen, denen man aber die Zeit des Ueberganges und die kleinstaatlichen Verhältnisse, aus denen sie sich schüchtern hervorwagen, recht wohl anzumerken vermag.
- Justi, Grundlage zu einer hessischen Gelehrten- etc. Geschichte, S. 590–594. – Scriba, Schriftsteller-Lexikon, Abth. 2, S. 650 f. – Oberpostamtszeitung 1850, Nr. 147, Beilage. – Neuer Nekrolog der Deutschen, 28. Jahrg. 1850 (Weimar 1852), S. 385–388. – Der letzte Absatz nach Bluntschli, Gesch. des allgem. Staatsrechts, S. 604–609, und Roscher, Gesch. der Nationalökonomik, S. 937–942.