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Artikel „Riemenschneider, Tilmann“ von Friedrich Haack in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 872–879, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Riemenschneider,_Tilman&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 18:47 Uhr UTC)
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Riemenschneider *): Tilmann R. (Tylmann, Tylman, Dilman, Dillman, Dill, Tyll, Thyl, Tiel, Thilo – Rymenschneyder, Rymschneyder), „Bildschnitzer“, wie er in den Urkunden genannt wird und wie er sich selbst bezeichnet, Bildhauer, wie wir gegenwärtig sagen, weil er den Meißel des Bildhauers ebenso meisterhaft geführt hat, wie das Messer des Bildschnitzers, wurde 1468 (?) geboren und ist 1531 gestorben. Er gehörte also, kunstgeschichtlich gesprochen, der Dürerzeit an und war ein Weggenosse der Nürnberger Bildhauer Adam Krafft, Veit Stoß und Peter Vischer, er aber kein Insasse der freien deutschen Reichsstadt, vielmehr ist unsre Vorstellung von ihm mit dem uralten Fürstbischofsitz Würzburg innig verknüpft, dessen allgemeine Kunstblüthe zwar erst in die späteren Jahrhunderte des Barock und Rokoko fallen sollte, der aber bereits mit R. auf der Weltbühne der Kunstgeschichte weithin glänzend hervortritt. Indessen war dieser Künstler kein Sohn der Mainstadt, wenn daselbst auch der Name Riemenschneider vor ihm mehrfach vorkommt, sondern aus Osterode am Harz eingewandert und gebürtig. Er war der einzige Niederdeutsche unter den führenden Meistern jener zweiten und höchsten Blüthezeit altdeutscher Bildnerei.

Tilmann R. gehört zu den seltenen Künstlern seines Jahrhunderts, von denen wir wissen, daß sie ein Schicksal gehabt haben. Die Quellen, aus denen man die Kunde von seinem Leben schöpft, fließen so reichlich wie bei wenigen seiner Genossen. Indessen steht das Geburtsjahr des Meisters noch nicht mit unumstößlicher Sicherheit fest. Zwar hat sein letzter und bei weitem gründlichster Biograph Eduard Tönnies darauf hingewiesen, daß R. urkundlich vor Gericht im J. 1528 ausgesagt hat, er sei 60 Jahre alt. Mithin müsse er 1468 geboren sein. An derselben Stelle aber sagte R. aus, „40 Jahre zu Würzburg gesessen“ zu sein; danach wäre er 1488 eingewandert, während er nach dem „liber de causas de anno 1434–1488“ im Würzburger Stadtarchiv bereits 1483 in die Zunft aufgenommen worden ist. Es tritt hier also ein Widerspruch zu Tage, den es Tönnies u. E. nicht gelungen ist, zu beseitigen, wenn er annimmt, R. habe vor Gericht die Zeit seiner Anwesenheit in Würzburg vielleicht „der Einfachheit halber“ abgerundet (!), sein Geburtsjahr aber zweifellos richtig angegeben. Außerdem stimmen mit diesem auffallend spät angesetzten Geburtsjahr die übrigen Daten aus dem Leben unseres Künstlers herzlich schlecht überein. Am 7. December 1483 wurde R. von Osterode mit Lorenz Müller von Landsberg und Michel Boltz von Volkach als „Malerknecht“ in die „Glaser-, Maler- und Schnitzerzunft“ zu Würzburg aufgenommen. Bloß fünf Vierteljahre später, am 28. Februar 1485, erhielt er, der dies Mal richtig als „Bildschnitzer“ bezeichnet wird, kostenlos das Würzburger Bürgerrecht. Aus dieser unentgeltlichen Bürgeraufnahme hat man geschlossen, daß R. damals bereits Meister gewesen und es in so jungen Jahren durch seine Heirath mit der Wittwe Anna des zünftigen Goldschmieds Ewald Schmidt, einer geborenen Uchenhofer, geworden sei. Urkundlich wird dieser Schmidt bereits 1484 unter den Todten genannt, während auf der anderen Seite R. zum ersten Mal 1490 als Meister und als Ehemann jener Wittwe auftritt. Die Letztere brachte dem Knaben-Jüngling, der sie freite, drei Söhne erster Ehe zu: Jörg, Hans, Klaus und gebar ihm eine Tochter Gertrud. Im J. 1501 wird die Mutter [873] bereits unter den Todten erwähnt. R. hat sich dann ein zweites Mal mit Margarethe Rappolt verheirathet, die er auch überleben sollte. Seine erste Frau hatte ihm das Haus zum Wolfmannsziegel, jetzige Franciscanergasse, zugebracht, das im 19. Jahrhundert mit einer Gedenktafel und zwei Wappenschilden ausgestattet wurde, deren eines Meißel und Schlegel, und das andere das Zeichen des Künstlers, die zerschnittenen Riemen, aufweist. Dieses Anwesen scheint R. aber durchaus nicht etwa sein Leben lang bewohnt zu haben, wenigstens zahlt er 1506–25 seine Steuern als Inwohner eines Hauses „hinter der Münze“, und im J. 1512 nahmen er und seine Frau Margarethe eine Schuldverschreibung auf ihre Behausung, den Heubarnhof an der Wagnergasse auf, wie R. überhaupt mehrfach Geld gegen Zins aufnimmt und auch einmal um ein Anlehen beim Rath einkommt. Andererseits besaß er einen Weingarten am Spitaler Berg in der Würzburger Markung. Wenn man Alles in einander rechnet und ferner hinzunimmt, daß er schon 1501 zwölf Lehrlinge beschäftigte, so darf man wohl zusammenfassend behaupten, daß R. für seine Zeit in ziemlich großen Verhältnissen gelebt hat, aber von Geldsorgen durchaus nicht unberührt geblieben ist. Andererseits wurde er 1504 in den unteren Rath gewählt und nun bekleidete er bis zum Jahre 1525 abwechselnd die verschiedensten Aemter und Würden als städtischer Baumeister, Fischermeister, Mitglied des oberen Rathes, Pfleger der Mariencapelle, Mitglied der Steuerbehörde, Schoßmeister und Spitalpfleger. Am 12. November 1520 wurde er sogar zum Bürgermeister von Würzburg gewählt. In das Jahr seiner Amtsführung fiel der Sühnezug gegen die von Thüngen, weil sie einige Söldner des Fürstbischofs niedergeworfen und auf den Reußenberg geführt hatten. Der Aufforderung des Bischofs gemäß beschloß der Rath, ihm 300 Gewappnete, dazu Steinmetze, Zimmerleute und des Raths Büchsenmacher zur Verfügung zu stellen. Und als im Jahre 1522 der Fürstbischof von neuem 200 Mann nebst zwei bis drei Büchsen von der Stadt für einen Zug gegen Gmunden und den Brandenstein verlangte, hatte R. als Altbürgermeister darüber vor dem Rath zu berichten. Wenn aber die geschäftige Einbildungskraft eines nachgeborenen Geschichtsschreibers sich bei solchen kriegerischen Auszügen unsern Bildschnitzer an der Spitze der städtischen Reisigen vorgestellt hat, so lassen sich derartige kühne Phantasiegebilde urkundlich nicht stützen. Bei dem zweiten Auszug werden sogar zwei andere Männer, Hans Schneider und Christoph Scherrle, als Hauptleute über die städtischen Truppen eigens namhaft gemacht. Als Altbürgermeister war R. dem Herkommen gemäß wiederum, jetzt zum vierten Male, Mitglied des oberen Rathes und nachher Jahr für Jahr Capellenpfleger. So erlebte er in Ehren und Frieden das verhängnißvolle Jahr 1525 und wurde nun in den allgemeinen Strudel des Bauernkrieges hineingezogen. Die Antheilnahme der Würzburger Bürger scheint allgemein auf Seiten der Aufständischen gewesen zu sein. Wahrscheinlich hofften sie auch, ihr Gemeinwesen von der geistlichen Herrschaft zu lösen und zur freien Reichsstadt zu erheben. Unter diesen Verhältnissen trat ein gewisser Hans Bermeter auf, der die Seele der ganzen Bewegung in Würzburg gewesen zu sein scheint. Er redete den Bürgern ein, die Rüstungen des Fürstbischofs wären nicht gegen die Bauern, sondern gegen sie selbst, die Bürger gerichtet. Er schrieb für die Bauern Briefe an den Bürgermeister von Würzburg und wieder andere an die Bauern, wie wenn sie vom Bürgermeister wären. Diesem Bermeter scheint es auch gelungen zu sein, unsern R. hinters Licht zu führen. Wenigstens vertheidigte sich der Künstler später damit, er habe Bermeter’s Lügen für Wahrheit gehalten. Es liegt für uns kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß R. aus voller Ueberzeugung eines edlen Herzens für die Bauernbewegung [874] Partei genommen hat. Jedenfalls gehörte er zu den maßgebenden Persönlichkeiten, welche bewirkten, daß der Rath der Aufforderung des Fürstbischofs, einen Theil der Bürgerschaft gegen die Bauern ins Feld zu stellen, nicht Folge leistete. Als nun der Bischof endgültig gesiegt hatte und unerbittlich Gericht hielt, wurde unter 70 Bürgern neben anderen Mitgliedern des Raths auch R. ins Gefängnis; gesetzt. Später ist er mit zwei Mitangeklagten vom Henker „gewogen“ und gemartert worden. Schließlich mußte er Urfehde schwören und wurde unter Einziehung eines Theiles seines Vermögens wieder in Freiheit gesetzt. Der Künstler hat diesen Schlag überlebt, wir wissen aber nicht, ob und wie er sich davon je wieder erholt hat. Die Urkunden schweigen fürderhin gänzlich über ihn. Weder erscheint er mehr im Rath Würzburgs, das übrigens seine städtischen Freiheiten wegen seiner zweideutigen Haltung im Bauernkrieg im wesentlichen eingebüßt hatte, noch sind uns Werke von ihm erhalten, die nach 1525 bezeichnet wären oder sich mit einiger Sicherheit bestimmen ließen. Am 8. Juli 1531 ist er verschieden. Auf dem Leichhof zwischen Neumünster und Dom ward er begraben. Daselbst wurde im J. 1822 beim Anlegen einer Straße sein Grabstein aufgefunden, der jetzt in der Nähe des alten Grabes an der äußeren Nordwand des Domes angebracht ist. Das Flachreliefbildniß aus rothem Sandstein stellt den Meister in ganzer Figur dar mit weit herabreichender Schaube, dem Barett auf dem Haupt und dem Rosenkranz in den zum Gebet zusammengelegten und erhobenen Händen. Zu seinen Füßen ein kleines Wappenschild mit den zerschnittenen Riemen. Rings herum die Inschrift: „Anno Domini 1531 am Abend Kiliani starb der ehrsame und kunstreiche Tilmann Riemenschneider, Bildhauer, Bürger zu Würzburg, dem Gott gnädig sei. Amen.“ Man nimmt an, daß der Stief- und Adoptivsohn des Meisters Jörg R. dem Vater diesen Grabstein gemeißelt hat. Ein anderes Bildniß, Flachrelief in Holz, das dem Grabstein sehr ähnlich sein soll, den Künstler aber nur in halber Figur mit der Unterschrift: „Tilmann Riemenschneider A. D. 1519“ zeigt (Alb. Göbl, Würzburg S. 8), besitzt der Fränkische Kunst- und Alterthums-Verein zu Würzburg.

Der 1532 als Meister, 1534 als Zunftmeister und sonst verschiedentlich als Bildhauer genannte Jörg R. dürfte mit dem ältesten Stief- und Adoptivsohn des großen Künstlers identisch sein. Der zweite Stiefsohn wurde Geistlicher und bekleidete seit 1507 ein Pfarramt in Geißelbach. Vom dritten, Klaus, ist keine weitere Nachricht erhalten. Der Hofbaumeister beim Landgrafen Philipp von Hessen Anton R. kann nur als Enkel des Meisters in Betracht kommen. Tilmann Riemenschneider’s vermuthlich einziges leibliches Kind, seine Tochter Gertrud war mit dem Hofschultheißen Hop verheirathet, der mit seinem Schwiegervater unter demselben Grabstein ruhte, wie dessen zweite Inschrift besagt. –

Von T. R. sind uns Einzelfiguren und Gruppen, Reliefs und Freifiguren, Arbeiten in Holz (Lindenholz), Sandstein und Marmor erhalten. Es sind entweder Marienbilder, Andachtsbilder namentlich weiblicher Heiligen, Altäre oder Grabmäler. Alle seine Werke sind dem religiösen Stoffkreis entnommen oder dem Todtencult geweiht. Die Stätte seines Wirkens, Würzburg, besitzt noch ein gut Theil seiner Werke. Andere hat er selbst für die Kirchen des Tauberthales geschaffen, und sie sind größtentheils bis auf die Gegenwart treu darin verwahrt worden. Wieder andere sind in das Münchener National-Museum, das Kaiser Friedrichs-Museum in Berlin, das Städelsche Institut zu Frankfurt a. M., das Germanische Museum zu Nürnberg, sowie in einige Privatsammlungen gelangt. Als Hauptwerke seien hier eigens namhaft gemacht die schlichten Sandstein-Grabmäler der Ritter Eberhard von Grumbach, † 1487, [875] in der Pfarrkirche zu Rimpar, Conrad von Schaumberg, † 1499, in der Mariencapelle zu Würzburg, in gothischer Rüstung, und des Johannes von Bibra in der Pfarrkirche zu Bibra (bei Meiningen), wahrscheinlich aus dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, (nicht, wie Tönnies meint, von 1501 oder 1502) in Renaissance-Rüstung. Ferner das gleichfalls einfache, aber sehr schöne Sandstein-Grabmal des 1516 verstorbenen Schottenabtes Johann Trithemius, eines s. Zt. berühmten Humanisten und Polyhistors, in der Neumünsterkirche zu Würzburg, sodann die reichen und prächtigen Hochreliefgrabsteine aus Sandstein und Marmor der Fürstbischöfe Rudolf von Scherenberg in lebensvoller spätgothischer und Lorenz von Bibra in nicht ganz so vollendeter figürlicher und architektonisch-decorativer Umrahmung im Geschmacke der deutschen Frührenaissance, beide im Dom zu Würzburg. Das ausgezeichnetste Werk dieser ganzen Gruppe ist aber das berühmte Hochgrab aus Solnhofer Kalkstein im Bamberger Dom. Auf dem Deckel des Sarkophags der Kaiser Heinrich und seine Gemahlin Kunigunde in der bekannten mittelalterlichen Auffassung: halb stehend, halb liegend, mit der Krone auf dem Haupt, Scepter und Reichsapfel in der Hand, während sich genremäßige Darstellungen aus dem Leben des Kaiserpaares um die Seitenflächen des Hochgrabes herumziehen. – Eine andere große Gruppe bilden die holzgeschnitzten Altäre, zuerst der Münnerstädter Magdalenen-Altar, von 1490–92, gegenwärtig auseinander genommen und in seinen besten Stücken im Münchener National-Museum verwahrt. Ferner die großen Flügelaltäre im Tauberthal, vor allem der herrliche Marien-Altar in der Herrgottskirche zu Creglingen, um 1495–99, der Altar des heiligen Bluts in der Pfarrkirche zu Sanct Jakob in Rothenburg, um 1499–1505, und der Kreuzaltar in der Pfarrkirche zu Detwang, um 1500. Es ist bemerkenswerth, daß diese Altäre im Tauberthal alle unbemalt geblieben sind. Man darf vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß, wie das architektonisch-ornamentale Gerüst des Rothenburger Blutaltars von dem einheimischen Schreiner Erhart verfertigt, so auch die Reliefs und Freifiguren, die bei R. in Arbeit gegeben waren und stückweise in Rothenburg abgeliefert wurden, erst nach ihrer endgültigen Zusammensetzung an Ort und Stelle von anderer Hand gefaßt werden sollten. Wahrscheinlicher ist uns aber doch, daß sie farblos vom Künstler erdacht wurden und ihre Wirkung lediglich auf ihre starken plastischen Ausdrucksmittel berechnet war. – Unter den Einzelfiguren und Gruppen seien besonders hervorgehoben die Steinfiguren Adam und Eva, von 1491–93, am Südportal der Marienkirche zu Würzburg, die jedenfalls zu den bedeutendsten der damals äußerst seltenen Actfiguren gehören; die 14 Sandsteinfiguren, von 1500–1506, an den Strebepfeilern der Mariencapelle zu Würzburg, darunter geradezu großartige Erfindungen, z. B. der Petrus und auch Christus selbst (beide gegenwärtig im Dom aufgestellt und an ihrem ursprünglichen Standort durch Copien ersetzt); die köstliche Apostelfolge aus Holz im Münchener National-Museum; das Sandsteinrelief der Beweinung Christi in der Pfarrkirche zu Heidingsfeld; die Madonna im Rosenkranz, aus Holz, auf dem Kirchberg bei Volkach und die Sandsteingruppe der Beweinung Christi in der Pfarrkirche zu Maidbrunn. Von Riemenschneider’s Madonnenstatuen sind besonders die Sandsteinfiguren in der Neumünsterkirche zu Würzburg, vom Jahre 1493, und im Städel’schen Institut, um 1510, berühmt geworden. Von Einzelfiguren anderer weiblicher Heiligen die Elisabeth im Germanischen Museum, die Dorothea und besonders Margaretha in der Mariencapelle zu Würzburg, alle drei aus Lindenholz und ohne Fassung. Endlich sei noch auf die liebreizende Büste der hl. Afra, Lindenholz – bemalt, im Münchener National-Museum, hingewiesen; die aus [876] Birnbaumholz geschnitzten, (ohne den Sockel) noch nicht 10 cm hohen Köpfchen von Adam und Eva, vorausgesetzt daß sie wirklich von R. herrühren, im Kensington-Museum zu London und das von Bode sogenannte „Ehepaar im Betstuhl“, d. h. offenbar ein Ueberbleibsel einer heiligen Sippe, eine prächtige Schnitzerei aus Lindenholz – unbemalt, ebendaselbst.

Ueber diese Hauptwerke hinaus ist noch eine außergewöhnlich große Anzahl von Arbeiten mit dem Namen T. Riemenschneider’s in Zusammenhang gebracht worden, so ziemlich Alles, was in Würzburg und überhaupt in Unterfranken um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert an Bildnerei entstanden ist. Aber auch ganz abgesehen von dem, was mit unserm Künstler sicherlich nichts zu thun hat, sind die Werke, die zweifellos mit ihm irgendwie zusammenhängen, an Güte der Arbeit und künstlerischer Auffassung erstaunlich ungleich. So konnte es geschehen, daß Wilhelm Bode s. Zt. ein beträchtliches Theil gerade der besten Arbeiten ausschied und sie nach dem Hauptstück dem von ihm sogenannten „Meister des Creglinger Altars gab. Indessen haben Graf und Tönnies die Unhaltbarkeit dieser Scheidung aus den Urkunden überzeugend nachgewiesen, die daher auch in der Litteratur allgemein verworfen wurde. Schließlich ist auch kein besonderer stilistischer Unterschied gerade zwischen den von Bode seinem „Meister des Creglinger Altars“ zugeschriebenen und den übrigen Werken vorhanden. Ungleichheiten in der künstlerischen Auffassung und namentlich in der Güte der Arbeit aber kommen hier wie dort vor. Besonders die letzteren dürfte man sich am besten aus der Unberechenbarkeit der Künstlerlaune, der geringeren oder höheren Bezahlung, der mannichfaltigen und zerstreuenden Thätigkeit des Rathsherrn, Pflegers, Baumeisters und Fischermeisters, Schoßmeisters und Bürgermeisters, vor allem aber damit erklären, daß neben R. und unter seiner Leitung eine Anzahl von Gesellen und Lehrlingen an seinen Aufträgen, z. B. an ein und demselben Altarwerk mitgearbeitet haben. Trotzdem giebt es eine stattliche Anzahl von Werken, deren Ausführung durch die eigenen Hände des Meisters über allen Zweifel erhaben ist.

Tönnies hat versucht, eine stilistische Entwicklung festzustellen aus jugendlicher Unfertigkeit über einen Höhepunkt zu schließlichem Erstarren in Manier. Uns muthet diese Annahme ein wenig gezwungen an, da R. gleich bei seinem ersten Auftreten als eine in sich geschlossene und abgerundete Persönlichkeit erscheint und sich, von Auffassungs-Unterschieden und qualitativer Minderwerthigkeit einzelner, eben von seinen Gesellen ausgeführter Theile der umfangreichen Altarwerke abgesehen, bis zu seiner letzten Arbeit annähernd auf gleicher Höhe erhält.

T. R. war durchaus ein Sohn seiner Zeit, jener eigenartigen Uebergangsepoche vom Mittelalter zur Neuzeit, von der Spätgothik zur Renaissance. Aber er gehört mehr jener als dieser an. Ja, er ist als einer der merkwürdigsten und bedeutendsten Vertreter der spätesten Gothik aufzufassen, während er von der Renaissance nur rein äußerlich berührt wurde. Seltsam bei einem Künstler, der erst im J. 1531 zu Grabe getragen ward! Seine Kunst trägt alle Kennzeichen des Stils von der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert, aber ihre besonderen Wurzeln sind noch nicht aufgedeckt. Auf dem Gebiete der Bildnerei gleicht ihm schlechthin so recht Niemand. Unter Malern und Kupferstechern ist es ohne Zweifel Schongauer, dem er am nächsten kommt, also ein Schwabe und kein Franke. Allgemein findet man seine Kunst zwischen Schwaben und Franken in der Mitte stehend. Uns scheint aber, daß sie doch mehr dorthin als hierher neigt. Gewisse Berührungspunkte und jedenfalls mehr als mit irgend einem Nürnberger lassen sich zwischen R. und den Ulmer Kunstschreinern Jörg Syrlin d. A. und d. J. feststellen. Sticht doch schon die Eigenthümlichkeit [877] unsers Künstlers stark hervor, die er mit den Syrlin und mit sonst Niemandem theilt, das edle feine Lindenholz von aller Farbenfassung zumeist fast unberührt und rein zu erhalten und seine hohe Kunst der Schnitzerei lediglich auf rein formale Wirkungen aufzubauen. Gemeinsam mit Syrlin ist unserm R. der Ausdruck des Mißmuths und der Vergrämtheit in den gefurchten hageren Männerköpfen. Der Druck der Sünde und die bange Sorge des Mittelalters vor der Vergeltung im Jenseits lasten schwer auf diesem Geschlecht. Bemerkenswerth ist immerhin auch die verblüffende Aehnlichkeit, die auf dem Relief des Creglinger Marienaltars „Christus lehrt im Tempel“ der im Vordergrund sitzende Mann mit dem bekannten Selbstbildniß Jörg Syrlin’s am Ulmer Chorgestühl besitzt. Die Aehnlichkeit könnte schließlich auf Zufall beruhen, ist aber dort umso auffälliger, als der Nachbar jener Creglinger Sitzfigur als Riemenschneider’s Selbstbildniß gedeutet wird. Endlich erscheint uns eine gewisse compositionelle Anlehnung einzelner Reliefs, wie der Verkündigung und Heimsuchung (Creglingen), an Syrlin’s Landmann, den großen Ulmer Maler Bartholome Zeitblom nicht unwahrscheinlich.

Im letzten Grunde aber war T. R. ein durch und durch selbständiger und eigenartiger Kunstcharakter. Vor allem fallen seine Gestalten schon rein äußerlich durch ihre erstaunliche Flächigkeit auf – Flächigkeit der Armbehandlung wie überhaupt des ganzen Körpers. Damit hängt auch Riemenschneider’s Vorliebe für das Relief zusammen, das er sehr kindlich-mittelalterlich behandelt, die einzelnen Pläne unvermittelt hinter einander schiebt, für die Bäume und Berge des Hintergrundes einen anderen Augenpunkt wählt als für die Menschen des Vordergrundes. So gelingt es ihm durchaus noch nicht, das Uebereinander als Hintereinander wirken zu lassen. Ferner, eine der hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten des Mittelalters, die es mit allen primitiven Epochen der Kunstgeschichte theilt, die aber durch die christlich-katholische Anschauung von der Sündhaftigkeit des Leibes noch besonders genährt wurde, eben diesen sündhaften Leib hinter dem Antlitz, dem Spiegel der Seele zurücktreten zu lassen und ihn im Verhältniß zum Kopf und auch zu den Händen möglichst klein und unscheinbar zu bilden – diese Eigenthümlichkeit hat R. am Ausgang des Zeitalters, als sie im allgemeinen von einer richtigeren Naturanschauung abgelöst zu werden anfing, noch einmal auf das allerentschiedenste betont. In den in der gothischen S-Linie geschwungenen Leibern der Riemenschneider’schen Figuren vermöchte kein Herz zu schlagen und keine Lunge zu athmen, so flach und schmal sind sie. Sie erscheinen förmlich zusammengeschnürt und zusammengepreßt. Hüften und Schultern sind kaum vorhanden. Die Körper treten auch ganz hinter den Gewändern zurück, die sie in schier unendlicher Faltenfülle verhüllen, wenig Rücksicht auf die in ihnen verborgenen Körper nehmen und ihre eigene, davon fast völlig unabhängige hohe Schönheit besitzen. Den Riemenschneider’schen Gewandstil charakterisiren durchgehende, großmächtige, lebensvoll geschwungene Längsfalten neben kleinen eng und dicht, vielmals im rechten Winkel zusammengeschobenen Querfalten, lang herabhängende weite Bäusche, Trichterfalten und launisch umgeschlagene Gewandränder. Die Falten sind insgesammt scharfkantig ins Holz geschnitzt oder tief in den Stein gemeißelt. So ergibt sich ein köstlicher Reichthum von vielfach gebrochenen Linien und unendlichen Licht- und Schattenabstufungen. Während so der menschliche Körper im Gewand fast ganz untergeht, ist die Natürlichkeit und Beweglichkeit der wenigen daraus hervorlugenden Gliedmaßen, wie der Füße, der Unterarme und der Hände umso bemerkenswerther. Die Greiffähigkeit der Hände mit den kräftig betonten Knöcheln erscheint in erstaunlich hohem Grade entwickelt. Die Sorgfalt der Mache und die vortreffliche stoffliche Charakteristik, welche die Werke Riemenschneider’s [878] überhaupt auszeichnen, machen sich an den Händen ganz besonders bemerkbar. Man kann R. geradezu den altdeutschen Meister nennen, der die feinen schönen Hände gebildet hat. Schönheit ist überhaupt das Kennzeichen seiner Kunst. Ist bei Adam Krafft die Naturwahrheit, die Innigkeit des seelischen Empfindens, die Stärke des Ausdrucks, die Erzählungsfreude und Erzählungsgabe, bei Veit Stoß die große Wandlungsfähigkeit, bald die ungestüm hinreißende Leidenschaft, bald die schlichte, erstaunlich tief eindringende Natürlichkeit, bei Peter Vischer die Formenreinheit und das Vermögen sich mit der damals in Deutschland eindringenden italienischen Renaissance auseinander zu setzen, so ist bei unserm R. schlechthin die hohe Empfindung für Schönheit zu bewundern, eine Schönheit allerdings eigener und echt deutscher Art, wofür der Maßstab weder von der Antike, noch von der italienischen Hochrenaissance hergeholt werden darf. Die Schönheit seiner Kunst besitzt etwas von der zurückhaltenden Vornehmheit, wie sie die altniederdeutsche vor der oberdeutschen Kunst auszeichnet, während R. gerade die hervorragendsten Eigenschaften dieser letzteren vermissen läßt: die Fülle der Einbildungskraft, den Reichthum der Erfindung und besonders den Humor, der bei Krafft, Stoß, Vischer wie bei Dürer und überhaupt allen Oberdeutschen bald hier bald dort durchblitzt. R. ist auch kein Dramatiker gewesen. Allerhöchstens gelingt es ihm, Begebenheiten, wie diejenigen des Kaiserpaares an den Seitenflächen des Bamberger Hochgrabes in einem allerliebsten Märchenton vorzutragen. Bisweilen haut er auch gründlich daneben, wenn es gilt, mehrfigurige Gruppen zu componiren (Abendmahl am Blutaltar in Rothenburg). Sein eigentlichstes und persönlichstes Können entfaltet er hauptsächlich in der Einzelfigur, die er gleichsam decorativ, als „Stillleben“, wie man gegenwärtig zu sagen pflegt, stilisirt, aber wie er dies thut, wie er die Silhouette zurechtschneidet, Gestalt und Gewand, Kopf und Krone zu einem seltsam capriziösen und dennoch in den Massen wie in allen Einzelheiten wohlabgewogenen Ganzen zu verschmelzen versteht, ist über alle Maßen köstlich. Es ist gleichsam das Rococo der Spätgothik, das letzte, feinste, zarteste, fast überzarte und daher schon ein wenig angekränkelte Reis am Baume dieses Stils. Ganz besondere Wirkungen erzielt R. bei männlichen wie bei weiblichen Figuren mit dem meisterhaft behandelten Haupthaar, gleichviel ob er es bei jenen als kurze krause Lockenmasse oder als schlichte Strähnen gibt, ob er es seinen Marien und Magdalenen in sanften Wellenlinien weit über die Schulter herabfließen läßt oder seiner Kaiserin Kunigunde und ihrem Hoffräulein in üppigen Locken ums Haupt flicht. Die feinen ovalen Mädchenangesichter seiner Madonnen und heiligen Frauen mit dem langen schmalen Nasenrücken, dem entzückenden Grübchen im Kinn und dem empfindsam schwärmerischen Ausdruck in den mandelförmigen Augen mit den herabgezogenen Unterlidern sind, so rein menschlich, oder echt mütterlich sie sich auch immer geben mögen, vom höchsten Liebreiz erfüllt und von einem geheimnißvollen Zauber keuscher Unnahbarkeit umflossen. Wie wenigen Meistern ist es R. gelungen, den Anforderungen zu genügen, die ein nachgeborener Künstler, Moritz v. Schwind, an die Schöpfung einer Madonna gestellt hat, sie müsse gleicher Weise Jungfrau, Mutter und Himmelskönigin sein.

L. Becker, T. R. Leipzig 1849. – Wilhelm Lübke, Gesch. der Plastik. Leipzig 1871. – Anton Weber, D. R. Würzburg-Wien 1884. Zweite Auflage 1888. – W. Bode, Gesch. der deutschen Plastik. Berlin 1887. – Carl Streit, T. R. Photographien-Album (leider großentheiles im Gegensinn!). Berlin 1888. – H. Graf, Die neu erworbenen Werke T. R.’s im bairischen National-Museum. Beil. zur Allgem. Ztg. 1891. Nr. 13 und 14. – Eduard Tönnies, T. R. Straßburg 1900. – F. Hertlein, Vom Marienalter [879] in der Creglinger Herrgottskirche. Zschft. des histor. Vereins für württ. Franken 1903. – Friedrich Haack, Studien aus dem Germanischen Museum. I. Zu R. Repertorium für Kunstwissenschaft. XXIX. S. 242. – Berthold Daun, T. R. „Museum“ VI, 13. S. 49. – Wilh. Vöge, Der Meister des Blaubeurer Hochaltars. Monatshefte f. Kunstwissenschaft 1909, S. 11.

[872] *) Zu Bd. LIII, S. 383.