ADB:Reicher-Kindermann, Hedwig

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Artikel „Reicher-Kindermann, Hedwig“ von Richard Sternfeld in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 675–678, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reicher-Kindermann,_Hedwig&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 08:21 Uhr UTC)
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Reicher: Hedwig R.-Kindermann, dramatische Sängerin, wurde am 15. Juli 1853 zu München als fünfte Tochter des Bassisten August Kindermann geboren. Ihrem Vater, der sie frühzeitig in die Grundlehren der Gesangskunst einweihte, verdankte sie, nach ihrer eigenen Aussage, all’ ihr Können. [676] Die Mutter (geb. Hoffmann), Schülerin des Leipziger Conservatoriums und Mendelssohn’s, unterrichtete sie vom fünften Jahre an im Clavierspiel. Mit 15 Jahren trat Hedwig als Pianistin in die Münchner Musikschule ein, und hier, in den Chorstunden unter Franz Wüllner, offenbarte sich auch, daß sie Stimme hatte, und zwar einen tiefen Contra-Alt, der es ihr möglich machte, die Sarastroarie in der Originallage zu singen. Mit unsäglicher Mühe gelang es dem kundigen Vater, in einem Jahre aus der weiblichen Bassistin eine Sängerin zu bilden, die wenigstens die Mittellage einigermaßen beherrschte. Nun kam Hedwig als Choristin an das Hoftheater und diente hier zwei Jahre lang ihrer Kunst von der Pike auf, im Schauspiel, Ballet und in der Oper. Die großen Kräfte der Münchner Bühne, eine Stehle, Mallinger, Diez waren ihre glühend bewunderten Vorbilder. Nebenbei übte sie fleißig, um allen Mängeln der Stimme abzuhelfen. Nach kurzem Wirken in Karlsruhe wurde sie als Solosängerin in München angestellt. Aber man traute der früheren Choristin wenig zu und gab ihr keine Gelegenheit, ihre Fortschritte zu zeigen. So kam es, daß, während Possart zeitweilig beabsichtigte, ihr gewaltiges Sprachorgan der Tragödie dienstbar zu machen und ihr den Gesang aufzugeben rieth, ein verzweifelter Sprung auf das Gebiet der Operette ihre weitere Laufbahn zunächst entschied. Bis dahin mit Begeisterung der classischen und geistlichen Musik zugewendet – der Orpheus von Gluck war ihre Lieblingsrolle und auf dem Chore der Hofkirche erregte ihr Gesang schon damals die Bewunderung der Kenner – mußte sie sich bequemen, am Gärtnerplatztheater die leichtgeschürzten Figuren Offenbach’s und Lecocq’s darzustellen, nur allein in dem Bemühen, ihr Talent zu beschäftigen. Aber diese Zeit war für ihre Kunst nicht verloren. Ihre Stimme und ihr Spiel gewannen ungemein an Beweglichkeit; das tägliche Auftreten in den verschiedensten Rollen, nicht nur in der Operette, sondern auch in Raimund’s und Anzengruber’s Volksstücken, gab ihr Routine und Selbstvertrauen; der große Erfolg feuerte sie zu neuem Streben an. Damals verheirathete sie sich mit dem Schauspieler Emanuel Reicher, gegen den Willen der Eltern. Von ihnen verstoßen, erlebte sie eine Reihe kummervoller Jahre, oft in bedrängtester pecuniärer Lage, in die sie nicht ohne eigene Schuld gerieth. In Bayreuth 1876 konnte sie in kleinen Rollen kaum die Aufmerksamkeit Wagner’s erregen; in Hamburg hatte sie als Orpheus, Ortrud, Fides große Erfolge, verließ aber bald diese Stadt, durch vortheilhaftes Anerbieten nach Wien gelockt. Hier sang sie die Erda, die Leah in den „Makkabäern“ vor Rubinstein selbst, die Furie des Hasses in der Armide; aber trotz des warmen Beifalls wurde sie durch Intriguen und lästige Privatverhältnisse bald zum Aufgeben ihrer Stellung gezwungen. Nun kehrt sie nach München zurück; aber hier wiederum gedemüthigt und nur in kleinen Rollen beschäftigt, faßt sie in bedrängtester Lage October 1879 den Entschluß, nach Paris zu gehen, und dort die stets vermißte Anerkennung zu erringen. Sie wurde sogleich durch Faure, der ihre herrlichen Mittel erkannte, an die Oper empfohlen; vorerst aber bereitete sie sich durch ernste Studien zu einem Gastspiel in Monaco vor. In sechs Wochen lernte sie neun Rollen in französischer Sprache; sie gefiel ungemein bei ihrem ersten Auftreten in der „Favoritin“; aber als Baierin von ihren mißgünstigen Collegen angefeindet, folgte sie doch mit Freuden einer Aufforderung aus der Heimath, welche sie, noch vor ihrem Auftreten in Paris, an das Leipziger Stadttheater berief. Auf der Reise hatte sie noch Gelegenheit, in Mailand das höchste Lob Verdi’s, der mit ihr seine Opern durchnahm, zu erwerben. In München erkrankte Hedwig schwer, so daß sie erst im Mai 1880 in Leipzig auftreten konnte. Sie sang die Leonore in „Fidelio“, die sie noch nie gespielt, aber viele Jahre leidenschaftlich studirt hatte. Der Erfolg war groß; sie mußte zwar nach einem zweiten [677] Auftreten als Brünnhilde ins Bad reisen, um sich von der Krankheit ganz zu erholen; aber dann, zurückgekehrt, entfaltete sie eine bewundernswerthe Thätigkeit. Zuerst als Donna Anna, dann als Valentine, als Elisabeth gewann sie die Herzen des Publicums. Angelo Neumann, der Director der Leipziger Bühne, führte sie rücksichtsvoll und vorsichtig in die großen neuen Aufgaben ein, so daß sie es bald vermochte, achtzehnmal im Monat in den größten Rollen aufzutreten. Der Umfang ihres Fachs erweiterte sich so, daß sie sowohl Isolde, Brünnhilde, als auch Gretchen und Carmen sang. Der Capellmeister Anton Seidl war es, der sie in das tiefere Verständniß der Wagner’schen Frauengestalten einweihte, deren Verkörperung ihr bald hohen Ruhm einbringen sollte. Zwar mußte sie, als Neumann im Mai 1881 in Berlin zum ersten Male den „Ring des Nibelungen“ zur Darstellung brachte, noch hinter einer Materna und Vogl zurücktreten; aber ihre Leistungen in kleineren Rollen, als Erda, Fricka, Waltraute erregten schon die Aufmerksamkeit der Kenner. Bald darauf war es ihr in London beschieden, sich an Größeres zu wagen, und der vollständigste Erfolg begründete nun ihren Ruf. Als dann Neumann zum zweiten Male in Berlin die Tetralogie aufführte, erstieg Hedwig den Zenith ihrer Laufbahn. Mit jeder neuen Rolle errang sie neue Triumphe, das begeisterte Publicum konnte sich nicht genug thun in enthusiastischem Beifall; sie verdunkelte alle Anderen neben sich. Den schönsten Tag aber erlebte sie, als ihr Vater zu einer Mustervorstellung des „Fidelio“ nach Berlin eilte, um mit ihr aufzutreten und sich an ihrer Größe zu erfreuen. Indeß schon begann die Wendung in ihrem tragischen Geschick. Ein schweres Leiden, durch ungeschickte Operation verschlimmert, bereitete ihr qualvolle Schmerzen; jedoch ein verzehrender Thatendrang, verbunden mit dämonischer Lebenslust, ließ sie jede Schonung vergessen, jede Warnung überhören. Von ihrem Gatten geschieden, betrachtete sie es als ihre Lebensaufgabe, ihren damals siebenjährigen Sohn durch ihre Arbeit glücklich zu machen. Sie schloß einen glänzenden Vertrag mit der Berliner Hofbühne, der sie vom Herbst 1883 an für die Oper verpflichtete; aber vielleicht in dem Gefühle, diese Zeit nicht mehr zu erleben, begab sie sich auf die Rundreise, welche Neumann mit seinem „Nibelungentheater“ durch die großen Städte Deutschlands, Belgiens und Italiens unternahm. Sie war der Stern dieser Wanderbühne; überall, besonders jenseits der Alpen, wurde sie überschwänglich gefeiert. Allein ihr Körper war den gewaltigen Anstrengungen nicht gewachsen; oft raffte sie sich aus furchtbaren Schmerzen auf, um auf die Bühne zu eilen, wo sie ihre Leiden vergaß. Sie durfte nicht feiern, denn auf ihr beruhten die Einnahmen der Truppe, das Wohl des Personals. Nicht als ob man sie zu anstrengenden Leistungen gezwungen hätte: sie selbst vereitelte jede Fürsorge durch ihren rastlosen Trieb, durch ihren zerstörenden Enthusiasmus. Schon mußte sie sich in Venedig niederlegen; wieder erholt, erkältete sie sich aufs neue in Triest; der Unwille des Publicums, welches sie nicht missen wollte, bewog sie, sterbenskrank in der „Götterdämmerung“ zu singen. Da ereilte sie am 2. Juni 1883 zu Triest der Tod. Noch wenige Stunden vorher hatte sie in Briefen an ihren Sohn, an ihre Familie in München ahnungslos gescherzt und die Hoffnung auf schöne Sommertage ausgesprochen.

H. R.-K. war eine der bedeutendsten Bühnenerscheinungen unserer Zeit. Eine stattliche, nicht allzugroße, aber imposante Figur, ein eindrucksvolles, energisches Profil, ein gluthvolles Augenpaar befähigten sie aufs glücklichste zur Verkörperung heldenhafter, leidenschaftlicher Frauengestalten, einer Leonore, Isolde, besonders der Brünnhilde. Auch in der Darstellung gelang ihr alles Feurige, Gewaltige besser als das weiblich Hingebende. Daher war ihr die Walküre angemessener, als Sieglinde; und als Brünnhilde traf sie die Momente aufschäumender Rachbegierde wieder besser, [678] als die anschmiegender Liebe. Was ihr aber vor allem ihre Erfolge verschaffte, war ihre Stimme. Ließ ihr Spiel noch manches im Einzelnen zu wünschen übrig, was die Zukunft gewiß gewährt hätte, so war ihr Organ in jeder Weise tadellos. Wundervoll klang es in der tiefen Lage; aber auch der Höhe hätte in den letzten Jahren niemand die ehemaligen Mängel angemerkt: mühelos sprachen auch die höchsten Töne an. Angenehm, selbst bei gewaltigster Stärke, ausgeglichen in allen Lagen, biegsam, aber unverletzlich, wie Stahl, gesund und ausdauernd auch in den anstrengendsten Partien war diese unvergleichliche Stimme prädestinirt, allen Anforderungen, welche Wagner’s Dramen an die Sängerinnen stellen, zu genügen; dazu kam eine untadelige Intonation und eine musikalische Sicherheit, welche der Sängerin vollkommene Herrschaft über jede Rolle gab, obwohl sie durch Kurzsichtigkeit gehindert wurde, den Dirigenten des Orchesters zu sehen. Vermißte man auch gesanglich im Einzelnen manches, was die Gesammtleistung reicher an Abwechslung hätte machen können, so war das in der ganzen Individualität begründet: vielem Nachdenken, kleinlichen Nüancen abhold, schöpfte sie in Spiel und Gesang stets aus dem Vollen, überließ sich unmittelbar dem großen Zug ihrer Natur und ging ganz in ihrer Rolle auf; mehr mit dem Herzen, als mit dem Verstand schaffend mußte sie nicht nur das Publicum hinreißen, sondern jeden kritischen Tadel entwaffnen, weil alle Bedenken im Einzelnen dahinschwanden in Anbetracht der ganzen großen und einheitlichen Leistung, vor der freudigen Erkenntniß, daß man sich hier einer ursprünglichen, jedem Unechten, Angelernten fremden, wahrhaft dramatisch beanlagten Persönlichkeit gegenüber befand. In einem Briefe an ihre Schwester hat sich Hedwig über ihre Kunst also geäußert: „Das kann ich Dich aber versichern: mein Seelenleiden machte mich zur großen Künstlerin! Darum hoffe ich auch für Dich noch das beste! Versenke Dein ganzes Leid in Deinen Gesang – vergiß die schlechte Welt – sei ganz der Charakter, den Du darzustellen hast, und Deine Seele wird zu dem Herzen des Publicums reden.“