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Artikel „Reclam, Anton Philipp“ von Karl Friedrich Pfau in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 246–249, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reclam,_Philipp&oldid=- (Version vom 6. Dezember 2024, 11:31 Uhr UTC)
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Reclam: Anton Philipp R., einer der originellsten und buchhändlerisch bahnbrechendsten Verleger Deutschlands, wurde am 9. Juni[1] 1807 zu Leipzig geboren als ältester Sohn des Buchhändlers Karl Heinrich Reclam. [247] Im J. 1823 begann Anton Philipp seine buchhändlerische Thätigkeit durch den Eintritt als Lehrling in die Handlung des mit ihm – mütterlicherseits – verwandten Friedrich Vieweg in Braunschweig. Bei diesem geistig höchstehenden Buchhändler fand der junge Mann eine väterliche Aufnahme und die anregendste Thätigkeit, denn die Handlung Vieweg’s, als Schwiegersohn Campe’s, genoß damals einen mit Recht begründeten guten Ruf. Die Thätigkeit im Hause Vieweg’s war von den nachdrücklichsten Einwirkungen auf den Jungbeflissenen; wir gehen kaum fehl mit der Behauptung, daß dort seine eigentliche Neigung und Liebe zum Verlegerberuf geweckt, genährt und gefördert wurde. Unmittelbar nach Beendigung der Lehrzeit trieb ihn sein innerer Drang zur Selbständigkeit, und so sehen wir ihn denn schon 1828, also kaum 21jährig, als Inhaber des „Litterarischen Museum“ in Leipzig, einer mit einem Journal-Lesezirkel verbundenen Leihbibliothek. Indessen diese monotone Geschäftsarbeit genügte dem aufstrebenden Jüngling nicht. Kaum erlaubten es nur einigermaßen seine Mittel, verlegerisch aufzutreten, führte er diesen Entschluß aus, und sein erstes von ihm erworbenes Manuscript war eine Uebersetzung aus dem Französischen. Dieser erste Versuch verlegerischer Thätigkeit muß ermuthigend auf ihn eingewirkt haben; schon im J. 1837 verkaufte er das „Litterarische Museum“ und wandte sich unter der Firma „Philipp Reclam jr.“ dem ausschließlichen Verlagswesen zu. Als reiner Verleger begann R. nun eine sehr eifrige Productivität, die ihm wesentlich erleichtert wurde durch den im J. 1839 – mit Freundesmitteln – bewirkten Ankauf der gut fundirten Haak’schen Druckerei. Die natürliche Selbständigkeit, die er sich hierdurch fremden Auftraggebern gegenüber schuf, und das Bestreben, möglichst für das eigene Geschäft zu arbeiten – ein Princip, das seitens der Firma bis heutigen Tages fast strikte durchgeführt wird –, waren von der glücklichsten Einwirkung auf die innere Ausgestaltung des Verlagsgeschäfts, und die Früchte des Erfolges traten bald zu Tage in Gestalt einer ganzen Anzahl neuer Verlagsunternehmungen. Wir nennen davon nur die verschiedenen „Bibelausgaben“, das „Schmidt’sche französisch-deutsche Wörterbuch“. Ebenso erschien bei R. in den Jahren 1842–1848 „Oettinger’s Charivari“. Gleichzeitig verlegte er auch eine Reihe liberaler Schriften über Oesterreich und die österreichischen Zustände, die ihn in arge Conflicte mit der österreichischen Regierung verwickelten und die sogar so weit gingen, daß den Verlagserzeugnissen Reclam’s der Vertrieb in Oesterreich untersagt wurde. Diese bitteren Erfahrungen und Hemmnisse vermochten aber R. weder schwankend noch unmuthig zu machen; vielmehr waren sie für ihn insofern von einem gewissen Nutzen, als er seine Thätigkeit mehr concentrirte, daß er sich bestrebte, neue, das Ganze umfassende Unternehmungen von dauernder Gangbarkeit zu schaffen.

Hervorzuheben sind unter diesen durchweg stereotypirten Werken die lateinischen und griechischen, von Koch herausgegebenen „Klassikerausgaben“, Mühlmann’s weitverbreitetes „lateinisches Schulwörterbuch“, ferner, gewissermaßen als Vorläufer der billigen Classiker-Ausgaben, „Shakespeare’s Werke“, die, nebenher bemerkt, einen enormen Absatz erzielten, und eine Reihe anderer Verlagswerke. Diese reiche und umfassende Thätigkeit führte einen bedeutenden Aufschwung des Geschäfts herbei und der bereits erwähnte enorme Erfolg der Shakespeare-Ausgabe übertrug sich auch auf die anderen billigen Classiker, welche R. unmittelbar nach dem im J. 1867 in Kraft getretenen Gesetz, wonach die Werke aller nach 30 Jahren und länger verstorbenen Autoren Gemeingut der Nation wurden, ins Leben rief. Wir nennen davon nur Schiller’s, Goethe’s, Lessing’s, Hauff’s Werke, u. A.

In diesen so erfolgreichen Verlagswerken sind nun sicherlich auch die Anfänge [248] für ein anderes, und zwar das größte Verlagsunternehmen Reclam’s zu suchen. Wir meinen die im J. 1867 begonnene „Universalbibliothek“, ein Sammelwerk, das sich von Anfang an die Aufgabe stellte, die Werke großer Dichter und Denker durch einen niedrigen Preis allen Schichten des deutschen Volkes zugänglich zu machen. Dieses Unternehmen, anfänglich mit recht scheelen Augen betrachtet, konnte aber in der Folge nicht ignorirt werden, schon darum nicht, weil das Publicum diese Unternehmungen verlangte. Gegenwärtig sind diese typisch gewordenen gelben Heftchen in ungezählten Millionen von Exemplaren verbreitet und auf der ganzen gebildeten Welt heimisch geworden.

Das Geheimniß dieses beispiellosen Erfolges ist einmal in dem wirklichen Bedürfniß nach solch billigen Ausgaben zu suchen, zum andern in der Thatsache, daß R. mit seinem ungemein weitschauenden Blicke diesem Bedürfniß Rechnung zu tragen wußte. Der Erfolg dieses Unternehmens steht wohl im Buchhandel einzig da; keine der verschiedenen Concurrenz-Ausgaben kann sich bezüglich der Popularität und des Umfanges mit ihm messen, keine steht auf so festem Grunde als die Reclam’sche Universalbibliothek. R. beschränkte sich hierbei nicht ausschließlich auf die sogenannten Classiker.

Er erweiterte den Rahmen, indem er alle wissenschaftlichen Disciplinen, alle populär-wissenschaftlichen Gebiete in das Unternehmen hineinzog und es in gewissem Sinne zu einer auf breitester Grundlage ruhenden Encyklopädie ausgestaltete. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet hat die Universalbibliothek auf die Verbreitung von Wissen und Bildung in ganz bedeutender Weise eingewirkt, denn alles, was menschliches Wissen und Bildung an Lese- und Lehrstoff verlangen, fand eine Stätte in Reclam’s Universalbibliothek. Einen zuverlässigen Beleg für diese Ausführungen liefert der bekannte grüne Verlagskatalog, der, nach Materien geordnet, erkennen läßt, welch ungemein reges Arbeitsgebiet R. in seiner Universalbibliothek umfaßt und auch ausgefüllt hat.

Der bedeutende Erfolg dieses Unternehmens und des übrigen Verlages führte zu einer geradezu rapiden Vergrößerung des Geschäfts, besonders in Hinsicht auf die Druckerei, bei welcher eine Vermehrung der Schnellpressen sich als unumgänglich nothwendig herausstellte. Das eigene Geschäftshaus reichte bald für diese Vergrößerung nicht mehr aus, und auch in räumlicher Hinsicht war eine bedeutende Erweiterung die natürliche Folge. R. entschloß sich zu einem Neubau größten Stiles und errichtete diesen auf einem großen, in der Kreuzstraße gelegenen Terrain. Seit dem Jahre 1887 dient dieses imposante Geschäftshaus den Zwecken der Weltfirma, die ihrer ganzen Anlage nach räumlich und innerlich einer stetigen Weiterentwicklung und Ausdehnung entgegengeht, denn für Jahre hinaus ist die Firma bereits mit hunderten von neuen Vertragsabschlüssen versorgt, eine Thatsache, die gleichzeitig auch den Weiterausbau der Universalbibliothek um hunderte von weiteren Nummern gewährleistet. So ist das anfänglich bescheiden aussehende Unternehmen zu einer Höhe gelangt, die der Urheber dieses Gedankens zweifellos selbst nie geahnt, viel weniger erwartet hat. Auf diesem Unternehmen baute sich die Weltfirma auf.

R. hat mit bewunderungswürdiger Ausdauer seine Universalbibliothek gefördert; er verwuchs allmählich ganz mit derselben und bis zu seinem Tode leitete er in Verbindung mit seinem einzigen Sohne Hans Heinrich das Geschäft. Fest begründet steht das von ihm geschaffene Geschäftshaus da und seine Schöpfung wird, um mit unserm Dichterfürsten zu reden, noch nach hundert Jahren dem Enkel in Wort und That wiederklingen!

[249] Als Mensch war R. ein biederer, aber derber Charakter. Doch trotz seiner scheinbaren Rauhheit besaß er ein warmes Herz und Mitgefühl, das besonders seinem zahlreichen Personal gegenüber zum schönsten Ausdruck gelangte. Alles blickte mit Liebe und Verehrung zu ihm auf, und nichts ist bezeichnender für die Werthschätzung dieses Mannes als die Worte, die ein Angestellter des Geschäfts seinem entschlafenen Chef am Sarge nachrief: „Im Namen des Geschäftspersonals lege ich diesen Kranz am Sarge unseres hingeschiedenen Chefs nieder als ein Zeichen des Dankes für die allseitige Gerechtigkeit und Güte, die der Verstorbene uns Untergebenen bewiesen hat, und als ein Zeichen unserer aufrichtigen Verehrung. Der Entschlafene hat ein langes Leben hindurch rastlos geschafft und Erfolge erzielt, wie sie selten einem Manne zu Theil werden. Aber das Märchen vom ‚Glück haben‘ findet hier keine Anwendung. Durch eigene Kraft, nur durch unermüdlichen Fleiß und eine eiserne Energie hat so Großes erreicht werden können. In dieser Hinsicht wird uns Arbeitern der Verstorbene stets ein leuchtendes Vorbild sein. Sein Andenken werden wir in hohen Ehren halten, wie bisher, so in aller Zukunft. Das gelobe ich im Namen Aller“.

Nahezu siebzig Jahre hatte R. geschäftlich wirken können. Als er abgerufen wurde zu dem besseren Jenseits, hinterließ er ein auf den solidesten Grundlagen ruhendes Geschäft.[2]

R. wandelte seine eigenen Bahnen; so blieb er von Widersachern nicht verschont. Und in Wahrheit ist R. in nicht geringem Maaße angefochten worden, besonders der angeblich geringen Honorare wegen, die er den Autoren zahlte, und des nachtheiligen Einflusses wegen, den seine billigen Ausgaben zur Folge gehabt haben sollen. Aber wer sich selbst vertraut, scheut keine Concurrenz, und vielfache Anfeindungen sind lediglich nur der Mißgunst entsprungen.

Ein auf so breiter Grundlage ruhendes Unternehmen, wie die Universalbibliothek, schloß es in sich selbst aus, jedes neue Bändchen als „Schlager“ zu bezeichnen. Viele, viele Nummern haben sich über einen relativ mäßigen Absatz nicht hinausgeschwungen, während andere wieder einen Riesenerfolg hatten und noch haben werden. Inwieweit auch Klagen dieserhalb begründet sind, können wir hier nicht untersuchen. Seine Rechnung fand R. ganz gewiß, dazu war er ein viel zu gewiegter Geschäftsmann, und hat lediglich nur dargethan, was Andere vor ihm thaten und nach ihm thun werden.

Groß ist die Anzahl der Autoren, die darnach strebten, zur Reclam-Gemeinde zugelassen zu werden, und wer, wie dies so häufig der Fall war und noch ist, spätere Wiederkehr übt, kann so sehr betrübt nicht von dannen gezogen sein.

Reclam’s Name ist ein Universalbegriff geworden. Universal ist auch die Bedeutung seiner Schöpfung, und sein Erbe und Sohn, Hans Heinrich R., hat die schöne wie schwere Aufgabe, diese Schöpfung des Vaters weiterzuführen und auszubauen. An ihm und seinen Nachfolgern ist es, das Vermächtniß zu wahren und zu mehren zum Andenken des Mannes, der zu einem echten und rechten Pionier für Bildung und Wissen geworden ist.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Reclam, Ant. Phil. LIII 246 Z. 2 v. u. l.: 28. (statt 9.) Juni. [Bd. 56, S. 398]
  2. 249 Z. 20 v. o. l.: Geschäft. Er † 5. Jan. 1896. [Bd. 56, S. 398]