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Artikel „Rauhe, Johann Georg“ von Paul Mitzschke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 220–223, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rauhe,_Johann_Georg&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 05:33 Uhr UTC)
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Rauhe *): Johann Georg R., dreister Geschichtsfälscher, geboren am 18. April 1739 in Naumburg a. d. S., † daselbst am 8. August 1791. Hervorgegangen aus ganz kleinen Verhältnissen und aufgewachsen in einer sittlich wenig fördernden Atmosphäre besuchte R., der nicht unbegabt war, das Rathsgymnasium seiner Heimathsstadt, wo er länger als zwei Jahre in der obersten Classe saß, aber abgehen mußte, ohne durch Kenntnisse und Betragen an das Ziel der Universitätsreife gekommen zu sein. Er suchte sich nun durch Ertheilen von Unterricht eine Existenz zu schaffen. Vom Sommer 1763 bis zum Herbst 1764 war er in Glauchau Hauslehrer, von da bis Ostern 1766 in Langenchursdorf bei Waldenburg (Sachsen) Katechet und Gehülfe des Diakonus Dedekind in der dortigen Diakonatsschule; daher er bisweilen fälschlich als stud. theol. bezeichnet wird. Hiernächst kehrte R. nach Naumburg zurück und gründete dort eine kleine Winkelschule, die aber wegen seiner Nachlässigkeit und Unziemlichkeit nicht gedieh; auch erregte sein ungebildetes und gewöhnliches Verhalten vielfältigen Anstoß, und schon damals wurden ihm Betrügereien in Geldangelegenheiten schuld gegeben. Als im Herbst 1772 die kümmerliche Stelle eines Kinderlehrers in Kösen frei wurde, meldete sich R. dazu und verlegte seinen und seiner Familie Wohnsitz sogleich nach Kösen, obschon nur ein Theil der Einwohner ihn begünstigte und die Mehrzahl der Gemeinde einen andern Candidaten für die Stelle wählte. Zwar legte R. am 29. December 1772 vor dem geistlichen Inspector Hauck in Pforta ein halbstündiges Tentamen ab und wurde dabei als befähigt für die Kösener Schule befunden, aber nach endlosen Parteikämpfen entschied Kurfürst Friedrich August von Sachsen Ende Januar 1774, R. sei zu entlassen, ebenso sein Mitbewerber, und die Gemeinde Kösen solle eine neue Wahl treffen. Erst 1775 oder noch später verließ R. Kösen und begab sich wieder nach Naumburg. Es glückte ihm, bei dem dort garnisonirenden 1. Bataillon des Infanterieregiments „Prinz Xaver“ Kinderlehrer zu werden. Die damaligen Garnisonschulen waren keine amtlichen Einrichtungen, aber die Staatsbehörden gaben den Regimentschefs überall auf, für die Ausbildung der Soldatenkinder in den Garnisonen auf eigene Kosten zu sorgen und die nöthigen Lehrkräfte nach eigenem Ermessen zu berufen. In der Stellung eines Naumburger Garnison-Kinderlehrers befand sich R. im J. 1782, doch verlor er später auch dieses Aemtchen wieder und starb in großer Dürftigkeit am 8. August 1791.

[221] Eine herostratische Berühmtheit hat R. erlangt durch seine schamlosen Fälschungen in der Naumburger Geschichte. Er benutzte das in Naumburg stets lebendig gewesene Interesse für die Vergangenheit der Stadt und ihrer Umgebung zum Handel mit angeblich alten Chroniken, die lediglich Erzeugnisse seiner Phantasie und seines Geldbedürfnisses waren. Da er mancherlei gute Darstellungen der deutschen und insbesondere der heimathlichen Geschichte gelesen hatte, konnte er in seine Fälschungen überall so viel von beglaubigten Thatsachen verweben, daß der Betrug leidlich verdeckt blieb. Um aufkommenden Verdacht zu zerstreuen, berief sich R. eben auf Manuscripte älterer Chronisten, deren Vorhandensein aber bis dahin niemand gekannt hatte, und die wie gesagt nur von ihm erdichtet worden sind. So citirt er als Gewährsleute besonders einen fabelhaften Benedict Taube, der Mönch des Naumburger Georgenklosters gewesen sein soll; ferner einen Floßschreiber Daniel Schirmer in Kösen, einen gewissen Daniel Schertzer, einen August Nosdelf, einen Peter Rielemann, die alle nie existirt haben.

Den ersten Versuch litterarischer Taschenspielerei unternahm R. 1782 mit der dem Commandeur des Naumburger Infanteriebataillons gewidmeten Broschüre „Die Schwachheit über die Stärke, oder gründliche Nachricht von dem 1432 vor Naumburg sich gelagerten Heere der Hussiten unter ihrem Heerführer Procopio, und dem daher entstandenen Naumburgischen Schul- oder Kirschfest, alles aus sehr raren und seltenen Urkunden zusammengetragen“. An das schon gegen Ende des Mittelalters nachweisbare jährliche Schulfest der Naumburger Jugend, das seit 1526 reorganisirt als Kirschfest gefeiert wird, hatte sich nach dem 30jährigen Kriege aus Mißverständniß die Erinnerung an eine Rettung Naumburgs durch die Kinder ankrystallisirt. Eine ganz allgemein gehaltene Andeutung davon kommt zuerst 1670 vor; später fixirte sich die Geschichte auf eine angebliche Belagerung Naumburgs durch die Hussiten, aber auch da nur in ganz unbestimmter Weise und ohne jede speciellere Angabe. Die Broschüre von R. bot den angenehm überraschten Einwohnern Naumburgs den Vorgang in haarkleiner Detailmalerei, wie sie nur je der blühenden Phantasie eines Fabulisten entsprungen ist. Man staunte, freute sich und feierte das Kirschfest, das gerade damals sehr in Verfall gerathen war und einzugehen drohte, von da ab wieder mit neuer Begeisterung. Man kann es daher fast als eine Folge der Rauhe’schen Fälschungen bezeichnen, daß das Fest jene Krisis überdauert und sich bis zur Gegenwart erhalten hat. An das Lügengewebe des Fälschers glaubte die Bürgerschaft bald so fest wie an das Evangelium, trotz der warnenden Stimmen sachverständiger Personen, die den Trug durchschauten. Der Stadtrichter und nachmalige Landrath K. P. Lepsius ließ 1811 eine allgemein verständliche Abhandlung über die „Sage von den Hussiten vor Naumburg“ (wiederholt in seinen Kleinen Schriften I, S. 205–232) erscheinen, in der er die Rauhe’schen Fabeleien mit dem kritischen Secirmesser zerlegte; aber trotzdem erlebte die Broschüre von R. im Journal von und für Deutschland 1790, S. 366 ff., dann nach ihres Verfertigers Tode auf Kosten unbelehrbarer Einwohner 1818 und sogar noch einmal 1885 neue Auflagen! Als A. v. Kotzebue 1801 bei einem Besuche in Naumburg das Kirschfest kennen lernte, schuf seine schreibselige Feder im engen Anschluß an Rauhe’s Fälschung schnell das weinerliche vaterländische Schauspiel mit Chören „Die Hussiten vor Naumburg im Jahre 1432“, das 1803 zuerst gedruckt wurde. Noch unter dem ersten Eindruck dieses thränenseligen Rührstücks erschien im J. 1803 Aug. Mahlmann’s witzige und humorvolle Parodie „Herodes vor Bethlehem“. Wie sehr sie durchschlug, geht schon daraus hervor, daß sie noch 1837, alos die „Hussiten vor Naumburg“ längst zu den Toten geworfen [222] waren, in 5. Auflage gedruckt wurde, trotzdem konnte sie der ersten Begeisterung für das verspottete Original keinen Damm entgegensetzen. Bei der vorherrschenden Bühnenstellung, die Kotzebue’s Stücke damals einnahmen, kamen die „Hussiten“ auf den größeren deutschen Theatern bald überall zur Aufführung, trugen in raschem Fluge die Kunde von der wunderbaren Hochherzigkeit Prokop’s durch alle deutschen Lande und machten das früher wenig beachtete Kirschfest mit einem Male zur Berühmtheit. Die Mär sickerte allmählich auch nach Böhmen durch und wurde von den Slaven gern geglaubt. In den tschechischen Schullesebüchern findet man seitdem einen Abschnitt von K. Storch über die vermeintliche Edelthat des nationalen Helden Prokop d. Gr. unter der Ueberschrift: „Mächtig ist die Bitte des Unschuldigen“, und der tschechische Historienmaler Jaroslav Čermák schuf 1874–1875 ein großes Gemälde „Prokop d. Gr. vor Naumburg“, das sich zu Paris im Privatbesitz befindet. Ja sogar noch 1906 hat der deutsche Maler Müller-Münster aus Steglitz die Aula des neuen Realgymnasiums in Naumburg mit einem großen Wandgemälde „Die Naumburger Kinder vor Prokop“ schmücken müssen. Das allgemein bekannt gewordene Lied „Die Hussiten zogen vor Naumburg“, verfaßt zur angeblichen Säcularfeier 1832 von dem damaligen Auscultator Karl Seyferth (s. d.), ist eine humoristische Verspottung der Rauhe’schen Fabel. Von dieser weittragenden Wirkung seiner Lügengespinnste hat der falsche Prophet R. freilich nichts mehr erlebt, aber der klingende Erfolg, den der Verkauf der Broschüre „Die Schwachheit über die Stärke“ sogleich mit sich brachte, ermuthigte ihn zu weiterer Bethätigung seiner Fälscherkünste. Durch den Druck zwar veröffentlichte R. nichts Neues mehr, aber er handelte bis zu seinem Tode mit allerhand chronikalischen Schriftstücken, die er für Theile von Benedict Taube’s großer Handschrift ausgab und in zahlreichen Copien an Bürger Naumburgs gegen gute Bezahlung verkaufte. Schließlich kamen auch Abschriften der ganzen Chronik in hunderten von Bogen unter ellenlangen Titeln zum Vorschein. Bei einem Exemplare lautet der Titel (mit starken Verkürzungen): „Umständliches Chronicon Numburgense … auf das sorgfältigste aufgezeichnet und mit Zeichnungen und Rissen versehen, welches nach und nach zusammengebracht von denen Archivariis des Klosters St. Georgen außer Naumburg, bis es beschlossen worden im Jahre 1540 von Benedicto Taubio.“ Niemals hat wohl die Phantasie eines erfindungsreichen Fabulisten größere Triumphe gefeiert, als in dieser unglaublichen Pseudochronik, von der nicht nur zahlreiche Exemplare im Privatbesitz existiren, sondern mehrere sogar in wissenschaftliche Bibliotheken eingedrungen sind. Auch verschiedene Zeitschriften haben Rauhe’sche Erfindungen kritiklos abgedruckt, namentlich die „Beiträge zur sächsischen Geschichte, besonders des sächsischen Adels“ (Altenburg 1791). Selbst geschulte Historiker sind getäuscht worden, und noch Georg Voigt z. B. betrachtet in seinem „Moritz von Sachsen“ 1876 Daniel Schirmer’s „Merkwürdigkeiten bei dem Einzuge Kaiser Karl’s V. 1547 zu Naumburg“ als eine unverdächtige Quelle. Es ist zu beklagen, daß ein so federgewandter Mann mit so erfinderischer Phantasie wie R. durch seine niedrige und verwerfliche Gesinnung auf den unehrenhaften Pfad litterarischer Fälschungen geführt worden ist; im Gebiete des Romans und der Erzählungskunst würde er es zweifellos zu besserem Ruhm und Ansehen haben bringen können.

Kösener und Pförtner Acten. – Naumburger Otmarskirchenbuch. – J. P. Chr. Philipp, Geschichte des Stifts Naumburg und Zeitz, S. 17 (Taube), S. 19 (Schertzer), S. 20 (Schirmer), S. 87 f. (Rauhe), S. 90 f. – E. Zergiebel, Chronik von Zeitz II, 13–16, 57. – K. P. Lepsius, Geschichte der Bischöfe von Naumburg I. Vorrede S. VIII. – Ders., Ueber [223] Gottschalk’s Bericht von der Rudelsburg und die Taube’sche Chronik. In den Mittheilungen des thüring.-sächs. Vereins Heft 2, S. 69 ff. – Ders., Kleine Schriften I, 213 ff., 220–222; II, 227. – W. Bernhardi, Chronik der Stadt Naumburg, S. 134 f. mit Anmerkung. – P. Mitzschke, Luther, Naumburg und die Reformation, S. 33 f., Anmerkung 4. – Ders., Anfänge und Entwicklung der Naumburger Hussitensage, S. 14 ff. – Ders., Die Naumburger Hussitensage bei den Tschechen. Im Naumburger Kreisblatt 1905, Nr. 186, zweites Blatt. – P. Flemming, Briefe und Actenstücke zur ältesten Geschichte von Schulpforta, S. 27, Anm. 2. – P. Mitzschke, Das Naumburger Kirschfest, in den „Grenzboten“ 1891, III, Nr. 34, S. 373 ff. – Naumburger Kreisblatt 1902, Nr. 12, Beilage, unter „Kösen“. – K. Schöppe, Die Litteratur des Kirschfestes, S. 4, 6. – Ders., Das Naumburger Kirschfest, S. 2. – Bergner, Bau- und Kunstdenkmäler der Stadt Naumburg, S. 17.

[220] *) So ist die Schreibung, die R. selbst anwandte, nicht Raue oder Rauh.